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Unterscheiden und Trennen: Die Herstellung von natio-ethno-kultureller Differenz und Segregation in der Schule © Beltz Juventa

Rezension

Schule und Rassismus

Ein neues Sammelband diskutiert Segregation und institutionellen Rassismus an deutschen Schulen. Es fasst den aktuellen Forschungsstand gut zusammen und gibt kritische Anstöße. Ein gutes Buch mit Lücken.

Von Freitag, 20.11.2020, 5:19 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.02.2021, 13:44 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Soziologin Juliane Karakayalı bringt in elf Beiträgen aktuelle wissenschaftliche Debatten um Schule und Rassismus zusammen. 18 Wissenschaftler:innen aus dem deutschsprachigen Raum besprechen hierin die strukturellen und institutionellen Formen von verschiedenen Rassismusformationen, welche Schüler:innen auf der Basis von Merkmalen wie Nationalität, Herkunft oder Aussehen erleben.

Hierzu wird im zweiten Beitrag „The racial school. Die nationale Schule und ihre Rassekonstruktionen“ durch einen historischen wichtigen Exkurs, der Rahmen der Diskussion gesetzt: die Schule, wie wir sie heute in Deutschland kennen, ist eine nationalstaatliche Institution, welche im Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts die Erziehung durch und für den Staat etablierte (S. 25). Diese Erziehung ging einher mit der Privilegierung von Hochdeutsch, sowie dem Streben nach einer „Vereinheitlichung von ‚Sprache‘, ‚Kultur‘ und ‚Volk‘“, wie Paul Mecheril, Saphira Shure und Anja Steinbach aufzeigen (S. 26). Hier wird kritisch beleuchtet, dass schon damals versucht wurde, die sprachlich-kulturellen Unterschiede einer von den Autor:innen als ‚polyethnisch‘ beschriebenen Bevölkerung – alle Menschen, die im Deutschen Kaiserreich und Preußen gelebt haben – durch technische Instrumente der schulischen Bildung zu überwinden. Ein Prozess, der sich bis heute in Maßnahmen der Institution Schule wiederfinden lässt.

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Die zentralen Ebenen der Besprechung sind wie Karakayalı zusammenfasst, die Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen, der Umgang mit Alltagsdebatten – z.B. in Medien und Politik – über Migration, sowie die „institutionellen Prozesse wie der Umgang mit Mehrsprachigkeit durch die Organisation Schule“ (S. 9). Dabei Problematisieren die meisten Beiträge immer wieder Kategorien wie „nichtdeutsche Herkunftssprache“, welche z.B. Berliner Schulen statistisch fassen um zwischen ‚Deutschen‘ und „Migrationsanderen“ zu unterscheiden (ebd.). Dass für immer mehr Deutsche, Mehrsprachigkeit zu ihrem Alltag von Kleinauf gehört, wird mit dieser Kategorie genauso verwischt, wie der Fakt, dass wenn man zu Hause eine andere Sprache spricht, dies nichts damit zu tun hat, ob das Kind Deutsch ebenfalls muttersprachlich spricht oder nicht.

Zusammenspiel von Klasse und Rassismus

Die einzelnen Beiträge beleuchten unterschiedliche Aspekte rassismuskritischer Forschung zur Institution Schule und den darin festgelegten Bildungsungerechtigkeiten für migrantische Kinder bzw. für Kinder von Migrant:innen. Vor allem das Zusammenspiel von Klassenzugehörigkeit und Rassismuserfahrung wird dabei zentral behandelt, denn die meisten forschungsrelevanten Faktoren bezogen auf Rassismus sind untrennbar mit der Klassenzugehörigkeit der rassistisch markierten Kinder bzw. ihrer Eltern verbunden.

Zum Beispiel entscheidet die wohnräumliche Verteilung von Migrant:innen und ihren Nachfahren oft über die Einschulung in einer als „leistungsstark“ gewerteten Grundschule oder nicht (S. 12). Dass alle deutschen Großstädte seit Jahrzehnten durch radikale Gentrifizierungsprozesse gehen und vor allem die prekärere Bevölkerung nach und nach aus ihren seit vielen Jahren bewohnten Altbauwohnungen in hippen Stadtteilen fliegt, vermengt sich mit dem Faktor Migration. Migrant:innen und ihre Nachfahren sind überproportional unter prekären Arbeiter:innen und Arbeitslosen vertreten und haben somit durchschnittlich weniger finanzielle Ressourcen um teure Mieten zu zahlen. Hinzu kommt, dass Rassismus auf dem Wohnungsmarkt – als knappes Gut – immer stärker eine Rolle spielt. Wo Familien bezahlbaren Wohnungen finden ist also eng mit den Faktoren Klasse und ‚Rasse‘ verbunden.

Segregation erfrischend diskutiert

Wenn außerdem Schüler:innen aus prekäreren Arbeiterhaushalten an Gymnasien und unter den Abiturient:innen in Deutschland deutlich unterrepräsentiert und bei der Schulabbrecherquote deutlich überrepräsentiert sind (Karakayalı auf S. 13), lässt sich darauf schließen, dass hierunter ebenfalls überproportional viele migrantische und post-migrantische Kinder und Jugendliche zu finden sein werden.

Das Thema Segregation wird erfrischend auf der Basis eigener Kategorien für Deutschland diskutiert. Es ist wichtig, Kategorien aus der U.S. Forschung z.B. nicht einfach unhinterfragt zu übernehmen, sondern eigene Definitionen zu entwickeln, die für unseren historischen Kontext hier sinnvoll sind. Schulische Segregation findet dann statt, wenn z.B. zwei Schulen im gleichen Einzugsgebiet auffällige Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft aufzeigen oder aber wenn in einer Schule eine Klasse auffällig viele nicht-weiße Kinder beherbergt, alle anderen Klassen aber mehrheitlich weiß bleiben. Dies ist, gerade in Großstädten, bereits seit vielen Jahrzehnten ein Problem, wogegen sich migrantische Elterninitiativen wehren. So wird auch ein Schreiben des Türkische Elternverein (West) e.V. von 1987 abgedruckt, wo deutlich wird, dass die Probleme rassistischer Segregation und der Markierung als ‚Andere‘ von Seiten der Schule und Lehrkräfte, mit denen sich auch heute noch Eltern und kritische Pädagog:innen, individuell und kollektiv, herumschlagen, nicht neu sind.

Gesellschaftliche Verantwortung außen vor

Das Sammelband fasst den aktuellen Forschungsstand zu Rassismus und Schule mit neuen Statistiken und Studien gut zusammen und gibt kritische Anstöße zur Frage der Ausbildung von Pädagog:inenn und Schulsozialarbeiter:innen. Wichtig ist auch, dass die Stimmen von Schüler:innen und ihren Eltern selber in verschiedenen Beiträgen eingebaut sind. Dabei wird jedoch stark akademisch geschrieben, sodass ein Zielpublikum außerhalb eines wissenschaftlichen Fachpublikums wahrscheinlich schwer erreicht werden kann.

Außerdem wird einer grundsätzlichen Infragestellung des ‚Systems Schule‘ in Deutschland mit vielen Argumenten zwar vorgenommen, Perspektiven der Veränderung jedoch nur auf einer organisationsinternen Ebene (mögliche antirassistische Ausbildung von Pädagog:innen an den Universitäten, sowie Veränderung der Kategorien in der Schule) beleuchtet. Völlig außen vor bleibt die Frage gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zum Thema Bildung und Schule (die über Pädagog:innen und Eltern hinausgeht), sowie unter welchen allgemeinen Bedingungen und zu welchem Zweck – Verteilung von Lebenschancen, Konkurrenz etc. – Schule in einem kapitalistischen System überhaupt existiert. Konkrete politische Reformvorschläge bleiben somit nur angerissen und spekulativ.

Juliane Karakayalı (Hg.): Unterscheiden und Trennen. Die Herstellung von natio-ethno-kultureller Differenz und Segregation in der Schule, Beltz Juventa: Weinheim Basel, 201 Seiten, 34,95 €.

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