Bades Meinung
Krisebekämpfung ist Ursachenbekämpfung
Am Tag der deutschen Einheit hat Klaus J. Bade in seinem Auftaktvortrag zum Theaterprojekt "Integration durch kulturelle Teilhabe" mit einer Doppelpremiere im Nationaltheater Mannheim an das Massensterben vor den Grenzen der "Festung Europa" erinnert. MiGAZIN veröffentlicht seinen Vortrag im Nationaltheater am 3.10.2015.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Montag, 05.10.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 08.10.2015, 0:48 Uhr Lesedauer: 11 Minuten |
Ich freue mich, am 25. Jahrestag der deutschen Einheit vor einer so wichtigen Doppelpremiere sprechen zu dürfen: Burkhard Kosminskis Aktualisierung von Arthur Millers modernem Klassiker „Ein Blick von der Brücke“ und Peter Michalziks neues Stück „Mannheim Arrival“ sind aus meiner Sicht ein verheißungsvoller Auftakt im Kontext des wichtigen Theaterprojekts „Integration durch kulturelle Teilhabe“ – aus zwei Gründen:
Zum ersten, weil sich aus aus dem „Blick von der Brücke“ und sicher auch aus dem anschließenden, aus Interviews mit Flüchtlingen komponierten „Mannheim Arrival“ eine doppelte Botschaft ableiten lässt: Es genügt nicht, denen, die es auf oft qualvollen Wegen bis ins Land ihrer Träume geschafft haben, hier einfach die kollektive Scheinidentität „Flüchtlinge“ überzustülpen und zu glauben, der Rest werde sich schon ergeben. Es gilt, hinter dem Etikett „Flüchtling“ den Menschen zu sehen, der sein mentales Gepäck mitbringt, das sich in der Spannung zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung auch in interpersonalen Bezügen explosiv auf- und entladen kann. Die Konflikte in unseren Flüchtlingslagern berichten davon. Bei Miller kommt zwar verschärfend die Illegalität hinzu. Vergessen wir aber nicht, dass in Deutschland auch ca. 290.000 nicht registrierte, irreguläre, d.h. de jure illegale Flüchtlinge leben.
Zum zweiten ist diese Doppelpremiere aus meiner Sicht deswegen ein wichtiger Auftakt, weil sie am Tag der deutschen Einheit sinnhaft ein Weiteres deutlich macht: Nach dem Gewinn der äußeren Einheit bleibt es als dauerhafte Aufgabe, die innere Einheit zu schaffen und sie zu bewahren in einer eigendynamisch weiter wachsenden kulturellen Vielfalt im Innern und deren Verstärkung durch die Begegnung mit stets neuen Mitbürgern von außen. Das aber bedeutet für alle Beteiligten nicht weniger als im Brechtschen Sinne die Mühen der Ebene auszuhalten.
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In Deutschland gibt es ein Paradox im Umgang mit kultureller Vielfalt: Da ist die wachsende, stille Gruppe der Kulturpragmatiker bzw. Kulturoptimisten. Für sie ist kulturelle Vielfalt längst normaler gesellschaftlicher Alltag geworden. Dagegen steht die schrumpfende, aber umso lauter lärmende Gruppe der Kulturpessimisten. Ihnen ist die wachsende kulturelle Vielfalt gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlandes.
Willkommenskultur trifft auf Bollwerkmentalität, brennende Hilfsbereitschaft auf brennende Flüchtlingsheime. Die Bollwerker, die geistigen und praktischen, mitunter auch biedermännischen Brandstifter sind zwar Ausnahmen, die die Willkommensregel bestätigen; aber hinter Willkommensgrüßen wachsen Zweifel: Schaffen wir das wirklich? Und wenn nein, mit welchen Folgen?
Im ersten Jahresgutachten des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration („Einwanderungsgesellschaft 2010“) haben wir 2010 mit guten Gründen geschrieben: „Integration ist in Deutschland besser als ihr Ruf im Land.“ Viele im Ausland beneiden uns um diese relativ positive Integrationsbilanz. Sie wundern sich über das deutsche Gejammer auf hohem Niveau und insbesondere über „The German Kulturangst“. Sie ist als neues teutonisches Hystericum dabei, in der Rangliste der deutschen kollektiven Todesängste den verblassenden Klassiker zu überrunden, den die Franzosen einst „Le Waldsterben“ zu nennen pflegten. Der Wald ist noch da, die deutschen Kulturpessimisten auch und sie suchen nach neuen kollektiven Todesängsten, die sie entdeckt zu haben glauben in den Themen Einwanderung, Islam und Muslime.
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Aber Deutschland braucht Einwanderung, wie auch andere demographisch alternde und schrumpfende Wohlfahrtsstaaten in Europa, denn: Viele Eltern der Kinder von morgen sind selber gestern schon nicht mehr geboren worden. Und die ehemals starken Jahrgänge bereichern heute zunehmend die Rentnerpopulation.
Aber im krisengeschüttelten Europa gibt es starke Wirtschaftswanderungen – and the Winner is: Germany. Die Neuzuwanderer beiderlei Geschlechts sind mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 28 Jahren vergleichsweise jung. Und sie sind im Schnitt deutlich höher qualifiziert als die Erwerbsbevölkerung in Deutschland. Die meisten Zuwanderer stammen aus Europa und besonders aus der EU, vor allem aus Polen, Rumänien, Italien und Spanien.
Kehrseite des Gewinns für den mitteleuropäischen Zuwanderungsraum sind folgenreiche Brain-Drain-Erscheinungen in den europäischen Krisenstaaten. Das kann schon deshalb nicht dauerhaft gut gehen, weil die Exportnation Deutschland auf aufnahmefähige Märkte auch in Europa angewiesen ist.
Und wenn die innereuropäischen Massenwanderungen nach Deutschland in der Zukunft schrumpfen und das demographisch vergreisende Paradies in der Mitte Europas umso mehr auf Zuwanderung aus Drittstaaten fern der EU angewiesen sein wird, also aus ganz anderen, zum Beispiel auch nordafrikanisch-arabisch-muslimischen Kulturen – spätestens dann, so haben wir vorausgesagt, werden die Deutschen spüren, was es heißt, sich mit Kulturängsten demo-ökonomisch selbst im Wege zu stehen.
Und plötzlich hat diese Zukunft scheinbar schon begonnen, nämlich im Blick auf die durchaus ungerufenen, starken Flüchtlingszuwanderungen auch aus nordafrikanischen Krisenregionen. Aktuell Meinung
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