Hintergrund
Armut und drohender Hunger im Libanon
Einst galt Libanon als „Schweiz des Nahen Ostens“. Die Zeiten sind lange vorbei: Mehrere Krisen haben den Libanon in den Abgrund gestürzt. Laut Weltbank gehört die Wirtschaftskrise im Land zu den schlimmsten weltweit. Ein Hintergrund über Ursachen und Folgen.
Von Mey Dudin Montag, 25.04.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.04.2022, 15:12 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Über den Libanon hat man in Zeiten des Bürgerkriegs (1975-1990) immer gesagt, das Land sei wie ein Phönix, der immer wieder aus der Asche entstehe. Wegen der einst mächtigen Banken, der Luxus-Shoppingmeilen, der edlen Clubs in Beirut sowie der schneebedeckten Berge wurde es sogar als „Schweiz des Nahen Ostens“ bezeichnet. Die Zeiten sind lange vorbei: Eine Folge von Krisen hat den Libanon in den Abgrund gestürzt. Nun droht wegen des Ukraine-Krieges auch noch eine Hungersnot.
Wie verbreitet ist Armut im Libanon?
Wer die schicken Quartiere im Zentrum von Beirut verlässt, sieht schnell die dicht bebauten Armutsviertel, mit illegal hochgezogenen Häusern, in denen es nur unregelmäßig Strom gibt und wo zum Teil nur noch salziges Meerwasser aus den Leitungen kommt. Bettelnde Kinder gehören zur Normalität. Nach Einschätzung der Weltbank leben mehr als die Hälfte der rund fünf Millionen Menschen in Armut. Die Vereinten Nationen kommen sogar auf mehr als 80 Prozent in einer Untersuchung, die neben Haushaltseinkommen auch Einschränkungen durch Stromausfälle oder den fehlenden Zugang zu Medikamenten einbezieht. Selbst Familien mit bisher mittlerem Einkommen verarmten, weil ihr erspartes Geld entwertet wurde. Die Preise für Nahrungsmittel stiegen rasant an. Laut Weltbank gehört die Wirtschaftskrise im Libanon zu den schlimmsten weltweit.
Was sind die Gründe für diese Situation?
Politisch war der Libanon nie stabil: Zwischen 1975 und 1990 herrschte Bürgerkrieg, und Spannungen gibt es bis heute. Ein Proporz-System in Regierung und Verwaltung, das vor rund 100 Jahren einst die friedliche Koexistenz der verschiedenen Religionsgruppen gewährleisten sollte, hält bis heute eine korrupte politische Klasse an der Macht. Das Land gehört weltweit zu den Staaten, in denen Vermögen am ungerechtesten verteilt sind. So hat der Libanon laut dem Forbes-Magazin aktuell sechs Milliardäre – neben Ägypten die meisten in der Region.
Zu dieser schwierigen Ausgangslage kam die Flucht von mehr als einer Million Menschen aus Syrien in den Libanon, eine Finanzkrise, die Corona-Pandemie und im August 2020 die verheerende Explosion auf dem Hafengelände von Beirut wegen nicht sachgemäß gelagerten Ammoniumnitrats hinzu. Dabei starben mehr als 200 Menschen, rund 300.000 wurden obdachlos.
Warum wirkt sich jetzt auch der Ukraine-Krieg auf den Libanon aus?
Der Libanon ist hochgradig von Getreideimporten abhängig. Im vergangenen Jahr bezog das Land 81 Prozent des Weizens aus der Ukraine und 14 Prozent aus Russland. Auch der Großteil des Sonnenblumenöls kommt aus der Ukraine. Bei der Explosion am Hafen wurde außerdem das Hauptsilo des Landes zerstört, weshalb nur noch Getreide für den Bedarf von sechs Wochen gelagert werden kann. Deshalb wird der Libanon es besonders schnell zu spüren bekommen, wenn die Importe ins Stocken geraten.
Das Welternährungsprogramm musste bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine 1,6 Millionen Menschen im Libanon mit Bargeld und Nahrungspaketen unterstützen. Die weiter steigenden Preisen dürften die Zahl der Hilfsbedürftigen weiter wachsen lassen. Im Übrigen wirken sich in dem Land, in dem viele Haushalte auf private Stromgeneratoren angewiesen sind, auch hohe Kraftstoffpreise massiv aus.
Wen betrifft die Armut besonders?
Der Libanon hat mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, von denen viele unter dramatischen Umständen leben. Es gibt keine offiziellen Flüchtlingslager, weil der libanesische Staat argumentiert, dass aus den einstigen palästinensischen Flüchtlingscamps nach Jahrzehnten Stadtteile geworden sind, in denen die Menschen bis heute leben. Syrische Flüchtlinge wohnen in Städten, Dörfern oder in Zeltsiedlungen, die nicht offiziell als Flüchtlingscamp deklariert sind.
Die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge beträgt etwa 450.000. Von ihnen lebt fast die Hälfte noch in zwölf Flüchtlingslagern. Der Großteil lebt nach wie vor in Armut, denn für Palästinenser gelten im Libanon Einschränkungen: Sie dürfen nicht in allen Berufen arbeiten und kein Eigentum besitzen. Der maronitische Patriarch Bechara Boutros Kardinal Rai wurde jüngst von dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ mit den Worten zitiert: „Die internationale Gemeinschaft lobt uns und sagt, wir Libanesen seien gastfreundlich. Doch wir brauchen das nicht gesagt bekommen. Wir schaffen es einfach nicht mehr.“ (epd/mig) Aktuell Ausland
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