„Illegale Einreise“ & „Schlepperei“
Freisprüche und Hoffnung für kriminalisierte Migrant:innen
Einige positive Entscheidungen von Gerichten in Italien und Griechenland geben Hoffnung auf eine gerechtere Behandlung von kriminalisierten Geflüchteten.
Von Sarah Spasiano Dienstag, 07.06.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.06.2022, 5:48 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Am 26. Mai 2022 wurde der Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise gegen den Priester Mussie Zerai fallen gelassen, nachdem fünf Jahre lang in Italien gegen ihn ermittelt wurde. Zerai, der selbst als Jugendlicher aus Eritrea flüchtete, ist seit Jahrzehnten daran beteiligt, Flüchtende in lebensbedrohlichen Situationen auf See oder in Gefängnissen und Haftlagern zu unterstützen. Dafür wurde er sogar im Jahr 2015 für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Luzern. Sein Einsatz inspirierte außerdem die Gründung des Alarmphones, einer Notrufnummer für Flüchtende in Seenot.
Dass wegen dieser Arbeit fünf Jahre lang gegen Zerai ermittelt wurde, erscheint wie eine grausame Verdrehung der viel zitierten europäischen Werte. Es ist jedoch bei Weitem kein Einzelfall. Die EU versucht mit allen Mitteln, unerwünschte Migrant:innen fernzuhalten, sei es durch Zäune und Mauern wie in Ungarn und Griechenland, durch brutale Pushbacks in den spanischen Exklaven und vor Malta, oder durch Abkommen mit afrikanischen Diktatoren, die stellvertretend die Grenzen der EU immer weiter nach Süden schieben.
„Die Kriminalisierung und harte Urteile gegen Flüchtende sind ein weiteres Instrument, mit dem die EU versucht, Schutzsuchende abzuschrecken.“
Die Kriminalisierung und harte Urteile gegen Flüchtende sind ein weiteres Instrument, mit dem die EU versucht, Schutzsuchende abzuschrecken. Mit dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise oder des Menschenhandels werden Flüchtende systematisch verhaftet und verurteilt – in Italien waren es zwischen 2018 und 2019 eine pro 100 ankommenden Personen. Sie müssen als Sündenböcke herhalten für Leiden, Gewalt und Tod, die durch die Abschottung Europas gegen Schutzsuchende erst entstehen.
Staatsanwaltschaften erheben jedoch auch andere, nicht weniger erstaunliche, Vorwürfe gegen Geflüchtete. So wurde ein junger Mann auf Samos wegen Kindeswohlgefährdung angeklagt, nachdem sein sechsjähriger Sohn bei einem furchtbaren Schiffbruch in der Ägäis ertrank. Am 18. Mai wurde er freigesprochen, sein Mitangeklagter zu einer milden Bewährungsstrafe verurteilt. Ein erfreulicher Einzelfall in einem grausamen System von Kriminalisierung: Prozesse gegen mutmaßliche Schlepper dauern in Griechenland im Durchschnitt 38 Minuten und enden mit einer durchschnittlichen Haftdauer von 44 Jahren und Geldstrafen im sechsstelligen Bereich.
„Prozesse gegen mutmaßliche Schlepper dauern in Griechenland im Durchschnitt 38 Minuten und enden mit einer durchschnittlichen Haftdauer von 44 Jahren und Geldstrafen im sechsstelligen Bereich.“
Wie absurd die Vorwürfe sind, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass es für die meisten dieser Menschen keine legalen Zugangswege nach Europa gibt – eben wegen der zunehmenden Militarisierung und Externalisierung der EU-Außengrenzen. Anstatt den Schutzsuchenden, die es trotzdem schaffen, diese Barrieren zu überwinden, den dringend benötigten Schutz zu gewähren, endet für viele die Flucht in willkürlichen Verhaftungen, jahrelangen Freiheitsstrafen und Haftbedingungen ohne jegliche Rücksicht auf ihre Situation.
So sitzen beispielsweise Joma, Ali, Abdelrahman und Mohannad, vier ehemalige libysche Fußballstars, in Italien im Gefängnis, weil man ihnen die Verantwortung für den Tod von 49 Menschen zuschreibt, die 2015 während der Überfahrt von Libyen nach Italien im Rumpf des Bootes erstickten. Den vier jungen Männern wird vorgeworfen, das Boot gesteuert zu haben und damit als Schlepper aktiv gewesen zu sein, was sie bis heute abstreiten. Auch wenn Geflüchtete Haftstrafen abgesessen haben, werden sie die Vorwürfe nicht los: In einigen Fällen ist eine Haftstrafe in der Vergangenheit ein Ausschlusskriterium für einen Schutzstatus und führt zur Abschiebung.
Dennoch geben die letzten Wochen ein wenig Hoffnung, dass sich die Situation der von Kriminalisierung betroffenen Geflüchteten endlich verbessern könnte. Neben Mussie Zerai und den sogenannten Samos 2 endete ein weiterer Prozess in Kalamata mit einem Freispruch für zwei angeklagte Geflüchtete. Die belastenden Zeugenaussagen gegen sie wurden unter fragwürdigen Umständen in einem Quarantänelager aufgenommen. Während der ein Jahr andauernden Ermittlungen mussten die beiden Männer in Untersuchungshaft in griechischen Gefängnissen ausharren.
Nicht zuletzt war es die Unterstützung durch solidarische Personen und Organisationen, die zu diesen Erfolgen beigetragen haben. Durch Rechtsbeistand, seelische und finanzielle Unterstützung während der Ermittlungen und der Haftzeit oder durch Medienkampagnen und öffentlichen Druck unterstützten die Aktivist:innen kriminalisierte Migrant:innen.
„Die hier geschilderten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs – über den Großteil der verhafteten und verurteilten Geflüchteten in europäischen Ländern sind keine Informationen verfügbar.“
Dass diese Aufmerksamkeit weiterhin dringend benötigt wird, zeigt auch der Prozess gegen die Seenotretter:innen der Iuventa, die aktuell in Trapani, Sizilien vor Gericht stehen. Bei Prozessauftakt entschied der Richter, dass Amnesty International, ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) und andere Prozessbeobachter:innen nicht zu den Anhörungen zugelassen werden, sondern diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen.
Die hier geschilderten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs – über den Großteil der verhafteten und verurteilten Geflüchteten in europäischen Ländern sind keine Informationen verfügbar, da sie isoliert werden und über kein unterstützendes Netzwerk verfügen. Daher ist es umso wichtiger, das Thema der Kriminalisierung von Migrant:innen in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten, Solidarität mit den Angeklagten und Verurteilten zu zeigen und Entscheidungsträger:innen zur Verantwortung zu ziehen. Meinung
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