Rassistische Konstruktion
„Kriminelle Clans“ in deutschen Leitmedien
In deutschen Leitmedien werden arabische Eingewanderte durch kulturalisierende Clan-Zuschreibungen aus dem „deutschen Wir“ herausdefiniert und als Kriminelle dargestellt. Das wirft falsche Fragen auf.
Von Rosa Fava Mittwoch, 08.03.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 14.03.2023, 19:37 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Im Februar veröffentlichten Wissenschaftler:innen des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Aufsatz zu ihrer Studie über die mediale Darstellung „krimineller arabischer Clans“. Die diskursanalytische Untersuchung bereichert die Debatte um die im öffentlichen Diskurs fehlende rassismuskritische Dimension und hat das Potenzial, Diskriminierung und Stigmatisierung entgegenzuwirken.
„Ich mache für die Schule ein Referat über arabische Clans und bin etwas irritiert“, leitete ein junger Mann auf einer Veranstaltung zu Polizeirazzien gegen „Clan-Kriminalität“ Anfang des Jahres in Berlin seine Frage ein: „Im Buch von Ralph Ghadban heißt es, dass die Mehrheit der Mitglieder kriminell sei, in Ihrem Buch sagen Sie, das seien ganz wenige. Welche Zahlen stimmen denn nun?“
Direkt angesprochen wurde Mohamed Chahrour, der auf dem Podium als Mitverfasser des Bandes „Dakhil – Inside arabische Clans“ die Perspektive der von der Kriminalisierung direkt Betroffenen vertrat. Er wisse gar nicht, begann Chahrour, wie viele Clan-Angehörige es insgesamt gebe, er wisse nicht einmal, wie viele Mitglieder zu seinem eigenen Clan gehörten, und ständig tauchten neue Verwandte auf. Es sei daher vollkommen unklar, Chahrour weiter, welche Zahl Ghadban und andere Autor:innen als Grundgesamtheit annehmen würden, um im Verhältnis dazu überhaupt von vielen oder wenigen Straftäter:innen unter den Angehörigen der verschiedenen Clans sprechen zu können. Ghadbans 2018 erschienenes Buch „Arabische Clans“ gilt im Kontext des polizeilichen, medialen und popkulturellen Konstrukts der „Clan-Kriminalität“ bzw. „krimineller arabischer Großfamilien“ als Standardwerk und setzt mit dem Untertitel „Die unterschätzte Gefahr“ das Leitthema. Ob die nüchterne Antwort Chahrours den Schüler zufriedengestellt hat, sei dahingestellt, sicher ist, dass die Frage falsch gestellt ist. Bleibt zu hoffen, die Lehrkraft des fragenden Schülers kann das Fehlen von Zahlen richtig bewerten.
Ein Meilenstein: Erste Studie über die diskursive Verbindung von Clans und Kriminalität
In der im Februar, kurze Zeit nach dem Podiumsgespräch veröffentlichten Studie der Berliner Humboldt-Universität „The ‚Arab Clans‘ Discourse: Narrating Racialization, Kinship, an Crime in German Media“ finden sich keine Antworten für das angesprochene Referat. Die diskursanalytische Untersuchung von Özgur Özvatan, Bastian Neuhauser und Gökçe Yurdakul hilft im Gegenteil dabei, Fragen und Themen richtigzustellen.
Seit gut zehn Jahren beobachten die Autor:innen, dass in den Medien bestimmte Gruppen arabischer Eingewanderter als „arabische Clans/Großfamilien“ bezeichnet, durch kulturalisierende Zuschreibungen aus dem „deutschen Wir“ herausdefiniert und als kriminell agierender Verwandtschaftsverband dargestellt werden. Um diesen Diskurs genauer charakterisieren zu können, analysierten Özvatan, Neuhauser und Yurdakul computergestützt knapp 24.000 Artikel aus der Bild-Zeitung, der ZEIT, der Süddeutschen und der Tageszeitung, der Welt, dem Stern, Spiegel und Focus (die FAZ war nicht zugänglich) unter der Fragestellung, in welchen Zusammenhängen der Ausdruck „Clan“ auftaucht und welche weiteren Begriffe ihn begleiteten. Im Anschluss daran wurden 97 Textpassagen einer tiefergehenden Betrachtung unterzogen, um die Themen, Argumentationen und Narrationen herauszukristallisieren. Die Studie bildet mit ihrem rassismuskritischen Ansatz und dem Fokus auf „Clan-Kriminalität“ als (auch) mediales Konstrukt einen Meilenstein für eine seriöse Auseinandersetzung.
Erklärungsbedürftig: Die Verbindung von „Clans“ mit „Kriminalität“
Der Ansatz der Forscher:innen kann für viele irritierend sein: Die Fragen lauten nicht ‚welche Clans gibt es, wie funktionieren sie, welche Straftaten haben sie begangen, wie viele der Angehörigen sind kriminell, welche Rolle spielt ihre Herkunft und Kultur dabei, wie gefährlich sind sie und was können wir dagegen tun‘? Im Gegenteil, es ist die gedankliche Verknüpfung von „arabische Clans/Großfamilien“ mit „Kriminalität“, die den Autor:innen erklärungsbedürftig erscheint und untersucht werden soll. Dabei wirken schon die Begriffe „Clan“ und „Großfamilie“ selbst unterschwellig als der deutschen Kultur und Lebensweise fremd, so dass die mediale und polizeiliche Konstruktion der „Clan-Kriminalität“ selbst bereits eine Erzählung enthält: Es sind Ausländer:innen, die durch spezifische Kriminalität eine Gefährdung nach Deutschland tragen.
Der Ausdruck „Clan-Kriminalität“ ist dabei nicht nur klanglich wegen der Alliteration, sondern wegen des häufigen Gebrauchs schon zu einer Einheit verschmolzen: „Clans“ gelten, ähnlich der Mafia, als per se kriminelle Struktur. Dabei wird immer zugestanden, dass nicht alle Angehörigen „kriminell in Erscheinung treten“ würden, wie es in einer Polizeibroschüre aus Nordrhein Westfalen heißt. Dennoch lautet der Titel dieser Handlungsempfehlung „Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung“ und offenbart, dass Familien, nicht Kriminalität „bekämpft“ werden sollen. Viele Angehörige arabischer und anderer Familienverbände lehnen den Begriff „Clan“ für sich und die eigene Verwandtschaft ab, andere benennen sich bewusst und im Sinne des Reclaiming, der Rückeroberung abgewerteter Bezeichnungen, als Clan-Angehörige.
Die Themen des Clan-Diskurses: Kontrollverlust durch Einwanderung, Parallelgesellschaften als Gefahr, Rückerlangung der Kontrolle
Die Berliner Studie isoliert aus der Vielzahl von Beiträgen über „arabische Clans“ drei große thematische Komplexe, die in den genannten Leitmedien vom Boulevardblatt bis zum gehobenen Journalismus und unabhängig von politischen Milieus vermittelt werden. Erstens: Arabische Clans wander(te)n unkontrolliert nach Deutschland ein, leben zweitens in abgeschotteten Parallelgesellschaften und müssen drittens staatlich reguliert werden. Diese Erzählungen bilden wiederum Elemente eines Gesamtbildes, das sich aus der genaueren Analyse der Artikel ergibt: Die deutsche Gesellschaft ist durch die arabischen Clans mit speziellen Werthaltungen (insbesondere Männlichkeit und Autorität) und Loyalitätsverhältnissen (Vorrang des Clans vor dem Grundgesetz) in ihrer Substanz bedroht; Schuld ist eine naive linksliberale Einwanderungs- und Multikultipolitik; der Staat und seine Institutionen sind schwach in der Abwehr; einzelne Politiker:innen und Verantwortliche bei der Polizei und in Innenministerien erkennen die Gefahr, benennen sie mutig und ergreifen Gegenmaßnahmen.
Weitergehend ordnen Özvatan, Neuhauser und Yurdakul diese Ergebnisse in die Diskurse über die Gefährdung Deutschlands durch Einwanderung sowie Europas durch den Islam ein, da die arabischen Clans ganz selbstverständlich auch als muslimisch gesetzt und die angeblich die Kriminalität fördernden Werte und Haltungen auf islamische Traditionen zurückgeführt werden. Der Rassismus im Diskurs über „Clan-Kriminalität“ findet sich auf sehr vielen Ebenen und auch im Kolonialismus entwickelte Methoden kommen in zeitgemäßer Form zur Anwendung: Eine über Kultur, Ethnizität, Religion und Herkunft abgegrenzte Gruppe wird als „anders als wir“ und daher gefährlich beschrieben und so die Herrschaft über sie bzw. hier ihre staatliche Regulation legitimiert. Da die Fremdgruppe nicht einem fernen Kolonialgebiet lebt, sondern bereits Teil der Gesellschaft ist, wird beständig ihre nichtdeutsche Herkunft betont und alles Negative auf die Herkunftskultur zurückgeführt.
Überwindung des rassistischen Diskurses
Neu und weiterführend an der aktuellen Studie der Humboldt-Universität ist, den großen Rahmen aufzufächern, innerhalb dessen der Diskurs sich entwickelt und seine Wirkung entfaltet: Die Inszenierung einer Gefährdung der Deutschen durch außerordentliche Kriminalität, oft lokalisiert in Shisha-Bars und anderen Gewerben in arabisch geprägten Vierteln, sowie ihrer martialischen Bekämpfung durch Razzien von Polizei, Hochsicherheitskräften und medial in Szene gesetzten Politikern hat wenig mit Kriminalitätsbekämpfung, aber viel mit der Formierung zu einer im Inneren gewaltbereiten und national bewussten Gesellschaft zu tun. Andere Studien widmen sich der Aufklärung über Clans und deren Verhältnis zu Kriminalität, bleiben aber in einer Rechtfertigungshaltung und ethnologischen Fremdheitsdiskursen befangen.
Ein typischer Einwand gegen diskursanalytische Studien, aber auch gegen die Fokussierung auf die rassistischen Mechanismen und Funktionen im Diskurs lautet, die tatsächliche Kriminalität werde so verharmlost oder wegdefiniert. Das Gegenteil ist der Fall: Erst wenn die gesellschaftspolitische Rahmung deutlich ist, kann ohne den damit verbundenen ideologischen und auch emotionalen Ballast nicht nur die tatsächliche Kriminalitätsbelastung erfasst, sondern vor allem auch der Blick auf die stigmatisierte Bevölkerung frei werden. Vielleicht gibt es dann keine Referate mehr zum Thema, wie kriminell Clans denn nun wirklich seien, und Angehörige von Clans können auf Fragen antworten, die den Diskurs weiterbringen. Meinung
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