Critical und Incorrect
Mindestens 50 Jahre Migrationsdiskurs und kein Ende in Sicht – Teil 1/3
Von den Anfängen der 1960er Jahre bis heute – wie hat sich die mediale Berichterstattung und der Diskurs über Migration und Migranten in den vergangenen 50 Jahren gewandelt? Eine dreiteilige Zeitreise von Sabine Schiffer.
Von Prof. Dr. Sabine Schiffer Mittwoch, 07.09.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 12.09.2011, 12:22 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
50 Jahre Migrationsdiskurs und kein Ende in Sicht. Mindestens! Nun ja, man könnte sagen, solange es Migration gibt, wird es auch Gerede bzw. Geschreibe darüber geben. Und somit geht es nun hier um den Wessi-Diskurs über Einwanderung in Abhängigkeit vom „Wirtschaftswunder“ bzw. der Grenzschließung vonseiten der DDR im Jahre 1961, was den Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten unterband. Dies führte zu einer Erweiterung der Anwerbung aus europäischen Ländern wie Italien, Spanien und Griechenland auf Länder wie die Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Es lässt sich feststellen, dass der Diskurs über Migranten jedoch weniger abhängig vom Fakt der Ein- oder Auswanderung selbst ist, als vielmehr von anderen Faktoren und Interessen.
So ist in der Überschau über die Medienberichterstattung der letzten 50 Jahre auffällig, dass Immigration vor allem dann ins Blickfeld der Aufmerksamkeit geriet, wenn es wirtschaftliche Notwendigkeiten oder konjunkturelle Schwierigkeiten gab. So bestimmte zu Zeiten des sog. Wirtschaftswunders der Schrei von Lohnarbeitgebern nach mehr Arbeitskräften die Berichterstattung. Hineingewoben wurden von sozial ausgerichteten Medien allenfalls einmal Fragen um den möglichen gemeinsam zu organisierenden Kampf der Arbeiter gegen Lohndumping durch billige Fremdarbeiter und Ausbeutung der gesamten Arbeiterschaft. Entgegen dem Eindruck, den die Medien damals vermittelten, waren die Ankömmlinge gewerkschaftlich durchaus aktiv. Dies schlägt sich in der Forschung weniger nieder, da diese stark den Mediendiskurs spiegelt. 1
Zu Beginn der 1960er Jahre war die Berichterstattung beispielsweise im Magazin Der Spiegel sehr wohlwollend und warb um Verständnis für die Arbeitsmigranten und deren schweren sozialen Status. Dennoch wurde bereits hier der Grundstein für die immer noch anhaltende Gegenüberstellung von Wir vs. Ihr gelegt, sodass der „Gastarbeiter“ sich doch eher als Gast, denn als Arbeiter fühlen konnte.
Wir werden im Folgenden den inhaltlichen Entwicklungen im Diskurs nachspüren und möglichst unterschiedliche Motive der Thematisierung und Beurteilung ausleuchten. Dabei werden wir sowohl eine Überschau über die einschlägige Forschungsliteratur geben sowie einige Einblicke in die Medien selbst. In der Darstellung gibt es sowohl Konstanten als auch Verschiebungen – so blieb das Andere zwar stets anders, aber die Qualität des Andersseins bzw. des als anders Wahrgenommenen änderte sich mit der Zeit. Und vor allem änderte sich „der Migrant“ auffällig in den Jahrzehnten seit der großen Anwerbung. Galten anfangs noch Portugiesen und Jugoslawen als schwer integrierbar, so ist dies heute vergessen. Die These von Anpassungsschwierigkeiten hat sich auf andere Gruppenmerkmale verlegt. Die Imageverbesserung der damals so viel gescholtenen Italiener als „Itaker“ und „Spaghettifresser“ darf Mut machen. Gleichzeitig erlebt man etliche Déjà Vus bei der Beschäftigung mit der Thematik, etwa im Zusammenhang mit dem sog. „Heidelberger Manifest“ aus dem Jahre 1982 (s.u.).
Migrationsdiskurs in der Medienforschung
Den Beginn der inhaltsanalytisch orientierten Migrationsforschung in Bezug auf die deutsche Presse markiert im Wesentlichen die Arbeit von Manuel Delgado von 1972. Obwohl seine Untersuchung nur auf Nordrhein-Westphalen beschränkt ist, dürften die ermittelten Themen, die den Pressediskurs dominieren, auch darüber hinaus bekannt sein. Es teilt sie im Wesentlichen in vier Gruppen ein: (1) Sensation und Kriminalität, (2) Goodwill-Berichte, (3) Sachberichte und (4) Arbeitsmarktberichte. Dabei stellt er eine Abhängigkeit von Themenschwerpunkten und Konjunktur fest, die in verschiedenen Phasen unterschiedlich ausgeprägt sind. Seine Einteilung in Rezessionsphase von 1966-67, Stagnationsphase von 1967-68 und Vollbeschäftigungsphase von 1968-69 erweist sich im Nachhinein jedoch als zu grob, um hier Themenkonjunkturen klar verorten zu können, sowie der Beobachtungszeitraum insgesamt zu kurz.
Einen besseren Überblick kann die breiter angelegte Inhaltsanalyse von Klaus Merten & Georg Ruhrmann geben, veröffentlicht 1986 unter dem Titel „Das Bild der Ausländer in der deutschen Presse“.Sie stellen fest, dass die Berichterstattung die soziale Wirklichkeit von „Ausländern“ nach ganz bestimmten Kriterien akzentuiert. Allen voran bestimmt der Nachrichtenwertfaktor Negativität die Auswahl der Aspekte, sodass das Thema Kriminalität einen überproportionalen Stellenwert einnimmt (vgl. Heinz Bonfadelli). Außerdem konstatieren die Autoren eine Identifikation vor allem türkischer Arbeitnehmer mit typischen „Gastarbeiterproblemen“. Das Phänomen der Korrelation zwischen Diskurs bzw. Lebenskontext und der Übernahme zugeschriebener Verhaltensmuster untersucht unter anderem die Soziologin Nikola Tietze genauer.
Folgeuntersuchungen im Medienbereich zeigen, dass sowohl die Art der Tätigkeit eines „Gastarbeiters“ eine Rolle bei der Themenauswahl durch Journalisten spielt, wie auch die dem Arbeiter zugeschriebene kulturelle Nähe oder Ferne. Ruhrmann & Demren ergänzen in ihrer Zusammenfassung im Sammelband von Schatz, Holtz-Bacha & Nieland im Jahre 2000 die Asylbewerberthematik, die wiederum eigenen Darstellungsregeln folgte und schließlich zu einer Bedrohung für Wohlstand und Identität aufgebauscht wurde. Schließlich schlussfolgern sie:
„Die Definition des Ausländerproblems verläuft nach semantischen Konjunkturen, die vor allem von der Aktualität politischer Problemlagen beeinflusst wird. So war Anfang der 80er Jahre von einem ‚Türkenproblem‘, Ende der 90er Jahre von einem ‚Asylantenproblem‘ und seit Mitte der 90er Jahre von einem ‚Flüchtlingsproblem‘ die Rede (…). Systematische Inhaltsanalysen der TV-Berichterstattung zeigen, wie Boulevardmagazine und -formate über besonders ‚fremd‘ erscheinende Kulturen in einem exotischen Rahmen berichten (…). Damit werden Fremdheitsgefühle verstärkt, die Inländer erleben die Migranten als bedrohlich und unheimlich.“
Die reine Inhaltsanalyse blendet jedoch wichtige Aspekte von Aufmerksamkeitsrelevanz etwa durch Platzierung und Größe der Beiträge aus. In Zeiten zunehmender bildlicher Illustration und grafischer Aufbereitung wird nach wie vor die Beeinflussung der Wahrnehmung durch Aufmerksamkeitssteuerung oberhalb der Textebene unterschätzt. Meine methodischen Ansätze (Ergon-Verlag 2005) zum Beispiel in Bezug auf Sinn-Induktionsphänomene fließen bisher nur vereinzelt in aktuelle Medienforschungen ein.
Georgios Galanis konkretisiert 1989 unter dem Titel „Migranten als Minorität im Spiegel der Presse“ die von Delgado nur grob gefassten Phasen von Auf- und Abschwung. Er sucht die Diskurse über „Ausländer“ dazu in Beziehung zu setzen. Zunächst ermittelt er die Jahre 1960-66 und 1968 bis 73 im Wesentlichen als Teil der Aufschwungphase. Rezessionsphasen gab es zwischen 1966 und 68 sowie vor allem von 1973 (Ölkrise) bis 1975 und dann von 1980 bis 82. Als Phase wirtschaftlicher Stagnation macht Galanis die Jahre 1975 bis 1980 aus.
Jeweils während der Rezessionsphasen ist eine zunehmende Berichterstattung über Migranten zu beobachten – und zwar von Phase zu Phase mehr! Insgesamt lässt sich als grobe Tendenz ausmachen, dass die Berichterstattungsintensität sich immer weniger nach dem demografischen Wandel richtet, sondern zunehmend nach ökonomischen Interessenlagen. Dabei schaukelt sich eine Tendenz hoch, die darin mündet, dass von Krise zu Krise schneller und intensiver der Blick auf die Migranten fällt. Und während beispielsweise der Spiegel zunächst noch überwiegend mitfühlend über das Auswandererschicksal berichtete (s.o.), scheint mit der Ölkrise 1973 ein Bruch durch die gesamte Medienlandschaft zu gehen – wie durch die politische – sodass ab 1974 auch beim Spiegel eine Tendenz ausgemacht werden kann, sich vermehrt dem Thema Migrantenkriminalität anzunehmen, während die Standardthemen wie Beschäftigung und soziales Umfeld durchaus auch von Interesse bleiben. Dazu Galanis: „Während also die kulturelle Distanz ganz offensichtlich ein entscheidendes Kriterium darstellt, scheint die Betonung kultureller Nähe in den Aufschwungphasen keine – oder zumindest keine über nationalitätenspezifische Berichterstattung zu erfassende – Rolle zu spielen.“
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass also die Wahrnehmung der und die Auseinandersetzung mit den Minderheiten nicht durch deren Anwesenheit oder deren Verhalten, sondern primär durch wirtschaftliche Interessen einer bestimmten Klasse der Aufnahmegesellschaft bestimmt wird.
Die Ölkrise markiert eine Zäsur in vielfacher Hinsicht: Das Konkurrenzdenken scheint neue Legitimation zu erhalten: Die als „Gastarbeiter“ gekommenen Menschen wurden als „Verfügungsmasse“ betrachtet. Der folgende Anwerbestopp zieht dann erst recht einschneidende Entscheidungen nach sich. So haben etliche Migranten aus Angst, in Zukunft nicht mehr einreisen zu dürfen, ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt und ihre Familie nachkommen lassen.
Erst dadurch wurde Deutschland endgültig zu einem Einwanderungsland, aber es sollte noch lange dauern, bis diese Bezeichnung geäußert werden durfte. Entsprechend hielten die politischen Versäumnisse an, dem Faktum Rechnung zu tragen. Parallel zu den geschilderten Abläufen, begann eine Verschiebung der Nationalitätenwahrnehmung in der politischen wie medialen Auseinandersetzung. Während vor 1973 viele verschiedene Länder und Nationalitäten im Fokus der Aufmerksamkeit waren (Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Türkei), begann mit der Ölkrise die verstärkte Beobachtung von Türken, bis sie im Verlaufe der 1980er Jahre zum protypischen „Ausländer“, neben den dann vermehrt thematisierten Asylbewerbern, geworden sind. Dies scheint weniger an den dann auffallenden Eigenheiten der Gruppe zu liegen, denn die besonders auffälligen Kleidungsgewohnheiten der Frauen (Rock über Hose in abenteuerlichen Farbkombinationen) waren da schon weitestgehend verschwunden. Vielmehr scheint sich der Mediendiskurs darauf zu kaprizieren, im Kontext von wirtschaftlichem Konkurrenzdenken die Gruppe besonders in den Blick zu nehmen, bei der Distanz und Abgrenzung am leichtesten fallen.
Auch hier zeichnet sich die Tendenz ab, dass die Behandlung der jeweiligen Gruppe weniger mit ihren Eigenschaften zu tun hat, als vielmehr mit den Bedürfnissen der Mehrheitsgesellschaft bzw. derer herrschender Klasse, die die öffentlichen Diskurse bestimmen kann. So ließe sich die Beförderung von Distanzherstellung erklären, während längst Integrationsförderung geboten gewesen wäre – als Reflex auf eine Wirtschaftskrise, für die man keine Rezepte hatte. Auch darum kann die Rückschau eine Lehre für heute sein. Schließlich befinden wir uns wieder in Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen mit Aussicht auf besonders dramatischen Niedergang.
- Änderung des Satzes: „Aber die Gewerkschaften waren im Milieu der wenig politisch organisierten Neuankömmlinge nicht sehr erfolgreich.“ aufgrund zahlreicher Hinweise, dass Migranten sehr wohl stark gewerkschaftlich aktiv waren – im Gegensatz zur medialen Diskussion.
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