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Beschneidung

Föderaler Flickenteppich

Auch Berlin hat eine Übergangslösung für die religiös motivierte Beschneidung von Jungen gefunden. Dafür gab es Lob und Kritik. Was zu beanstanden ist und was die Regelung im Detail bedeutet, hat das Aktionsbündnis muslimischer Frauen beleuchtet - ein Kommentar von Gabriele Boos-Niazy.

Von Donnerstag, 13.09.2012, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 13.03.2016, 11:11 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Diskussion um die religiös motivierte Beschneidung von Jungen (Zirkumzision) hat in den letzten Monaten hohe Wellen geschlagen. Nachdem viele Ärzte und Krankenhäuser sich entschlossen hatten aufgrund der Rechtsunsicherheit keine Beschneidungen mehr durchzuführen, entstand ein Vakuum, das von gesetzgeberischer Seite geschlossen werden muss, um religiöses muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland weiterhin zu gewährleisten. Die erste Hoffnung auf eine umgehende Reaktion des Gesetzgebers hat sich schnell zerschlagen und Eltern, die ihre Söhne beschneiden lassen wollten, blieben rat- und hilflos zurück.

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Als Reaktion auf diese unhaltbare Situation ließ Baden-Württemberg vor Kurzem verlauten, die Beschneidung bleibe straffrei, wenn die Eltern mündlich ihre religiöse Motivation hinsichtlich der Beschneidung bestätigten, schriftlich in die Operation einwilligten sowie sichergestellt sei, dass diese unter ordnungsgemäßen medizinischen und hygienischen Standards stattfinde. Ähnlich – allerdings ohne Motivationsdarlegung der Eltern – verfährt auch Sachsen, Sachsen-Anhalt prüft das weitere Vorgehen noch. NRW will je nach Einzelfall verfahren, Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland beschränken sich auf die konstruktive Begleitung eines zukünftig zu entwickelnden Gesetzesentwurfs.

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Jetzt ist Berlin der Baden-Württembergischen Vorgehensweise gefolgt. Demnach wird von einer strafrechtlichen Verfolgung abgesehen, wenn eine schriftliche Einwilligung beider Sorgeberechtigter vorliegt und der Eingriff nach medizinisch fachgerechtem Standard vorgenommen wird. Hinzu kommt eine – im Gegensatz zu Baden-Württemberg – schriftliche Erklärung der Eltern bzgl. ihrer religiösen Motivation sowie der Unabdingbarkeit mit dem Eingriff bis zur Religionsmündigkeit des Kindes zu warten. Konkret heißt es in der Presseerklärung:

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„Die Eltern weisen die religiöse Motivation und die religiöse Notwendigkeit der Beschneidung vor Religionsmündigkeit des Kindes nach (etwa zusammen mit der Einwilligungserklärung oder durch eine Bestätigung der jeweiligen Religionsgemeinschaft).“

Während seitens der jüdischen Gemeinden das Vorgehen des Senats, vermutlich insbesondere im Hinblick darauf, dass nur ein approbierter Arzt die Beschneidung durchführen darf, stark kritisiert wird, hat der Vorstoß bei den muslimischen Vertretern offensichtlich unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Während DITIB diese Vorgehensweise begrüßte, wies der Islamrat die Regelung aufgrund nachvollziehbarer Bedenken zurück.

Auch wir, das Aktionsbündnis muslimischer Frauen, haben zahlreiche Mitglieder in Berlin, die von der Rechtsunsicherheit betroffen sind. Da eine gesetzliche Regelung vermutlich noch länger auf sich warten lässt, haben wir das praktische Vorgehen des Senats zwar grundsätzlich begrüßt, allerdings ließ die Presseerklärung folgende Fragen offen:

  1. Welchem Zweck dient die Erklärung der Eltern zur religiösen Motivation? Rein rechtlich gesehen ist zur Absicherung des Arztes lediglich die Einwilligung der Eltern zum Eingriff sowie die sachgerechte Durchführung notwendig.
  2. Wie bzw. in welcher Art und Weise kann eine religiöse Motivation konkret nachgewiesen werden, insbesondere dann, wenn keine Anbindung an eine Moscheegemeinde besteht? Zwar ist auch eine Moscheeanbindung aus unserer Sicht kaum aussagekräftig, aber der Hinweis in der Presseerklärung lässt dies als Kriterium erscheinen.

Mit diesen Fragen haben wir uns an den Senat gewandt und erhielten zusammengefasst die Auskunft, dass:

  • die Erklärung der Eltern bzgl. der Motivation der Beschneidung sowie der Notwendigkeit, diese vor der Religionsmündigkeit des Kindes durchzuführen, ausschließlich der Absicherung des Arztes dient, wenn keine medizinische Indikation vorliegt; die Eltern tragen die Verantwortung für die sachgemäße Auslegung ihrer Religion.
  • die (formlose) Erklärung dazu dient, die religiöse Motivation als Grundlage des Beschneidungswunsches zu dokumentieren; sie muss nicht von einer Moscheegemeinde stammen, Eltern können sie selbst formulieren.
  • die religiöse Motivation selbstverständlich nicht vom Arzt überprüft wird; dies wäre auch weder aus fachlichen noch aus rechtlichen Gründen möglich und zulässig.
  • die pragmatische Vorgehensweise lediglich eine Übergangslösung darstellt, um Beschneidungen weiterhin zu ermöglichen.

Wir sind nach wie vor der Meinung, dass die elterliche Erklärung aus rechtlichen Gründen überflüssig ist. Allerdings erkennen wir an, dass der Senat mit seinem Vorgehen eine Situation beenden wollte, die Beschneidungen in Berlin so gut wie unmöglich gemacht hat. Die Hürden, die er dabei – aus welchen Gründen auch immer – errichtet hat, sind zwar nicht unüberwindbar, machen den Betroffen aber unnötig das Leben schwer. Daher haben wir eine kurze, mit den oben genannten Inhalten konforme, Elternerklärung als Vorlage entwickelt. Sie ist auf der Webseite des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen zu finden.

Wir gehen davon aus, dass muslimische Eltern damit die Forderung zum Nachweis der religiösen Motivation der Beschneidung erfüllen und einer Zirkumzision nichts im Wege steht.

Ungeachtet dessen plädieren wir dafür, das Thema nicht ruhen zu lassen sondern darauf hinzuarbeiten, dass schnellstmöglich eine rechtliche Lösung gefunden wird, die eine elterliche Erklärung überflüssig macht und vor allem auch für die jüdischen Gemeinden akzeptabel und praktikabel ist.

Auch wenn Bundesaußenminister Westerwelle eine baldige rechtliche Regelung in Aussicht stellt, wissen wir doch alle: nicht nur die Mühlen der Justiz mahlen langsam, die des Gesetzgebers sind auch nicht schneller. Aktuell Meinung

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  1. johannes kleber sagt:

    „Welchem Zweck dient die Erklärung der Eltern zur religiösen Motivation?“

    Ich hoffe, dass durch diese Erklärung verhindert werden kann, dass Eltern nach Lust und Laune medizinisch nicht indizierte chirurgische Eingriffe an den Genitalien ihrer Kinder vornehmen. Sie ist somit ein expliziter Ausdruck religiöser Toleranz gegenüber Juden und Muslimen. Nach wochenlangem Klagen über die vermeintliche Einschränkung der Religionsfreiheit ist es doch etwas irritierend, wenn die Betroffenen dann nicht einmal gewillt sind, sich an diesem Punkt auch als Gläubige auszuweisen. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die Beschneidung Minderjähriger für viele eben doch eher eine kulturelle Tradition ist als ein unbedingt einzuhaltendes religiöses Gebot.