Schmerzliche Heimat
Meine schlimmste Nacht
Heute beginnt der NSU Prozess vor dem OLG München. Auf der Anklagebank sitzt Beate Zschäpe. Ihr wird u.a. vorgeworfen, am Mord an Enver Şimşek beteiligt gewesen zu sein. Seine Tochter, Semiya Şimşek, schildert in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat" die Tatnacht. MiGAZIN bringt das Kapitel in Original.
Von Semiya Şimşek Montag, 06.05.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.05.2013, 23:22 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
An einem Sonntag gegen vier Uhr morgens rüttelte mich jemand aus dem Schlaf. Ich war seit anderthalb Wochen zurück im Internat in Aschaffenburg, die ersten Schultage lagen hinter mir, den Kopf hatte ich noch voller Erinnerungen an die Ferien mit meiner Familie. Es war der 10. September des Jahres 2000. Das Datum hat sich mir eingebrannt. Ich war vierzehn Jahre alt.
Semiya, du musst aufstehen, sagte eine Betreuerin. Aufstehen, mitten in der Nacht? Ich war so verwirrt und verschlafen, dass ich nicht weiter nachfragte. Pack deine Sachen zusammen, hieß es, nimm etwas zum Anziehen und Waschzeug mit und vergiss deinen Pass nicht.
Was bedeutete das? Warum musste ich jetzt los und wohin? Wozu brauchte ich den Pass? Die Leute vom Internat erklärten mir nicht viel, nur, dass ich gleich abgeholt würde. Schlaftrunken stopfte ich ein paar Kleidungsstücke in meine Tasche und tappte hinaus. Vor dem Haus warteten ein Cousin meines Vaters und ein guter Bekannter unserer Familie. Sie sagten: Dein Vater ist krank, wir fahren jetzt schnell nach Nürnberg, er liegt dort im Krankenhaus, deine Mutter hat uns geschickt.
Krank? Ich war durcheinander, besorgt und desorientiert, ich spürte eine drückende Angst im Bauch. Auf der Fahrt wurde kaum etwas geredet. Und ich traute mich auch nicht, nachzufragen. Kurz vor Nürnberg erzählten sie mir, dass mein Vater nicht krank, sondern verletzt sei. Und dann waren wir in der Klinik, um sieben Uhr morgens. Kerim wird bald da sein, sagte einer der beiden. Mein Bruder war also schon unterwegs aus seinem Internat in Völklingen. Meine Mutter sollte auch bald kommen.
Wir warteten auf dem Flur, ich weiß nicht genau, wie lange, mir ging das Zeitgefühl verloren, es kam mir endlos vor. Männer und Frauen in weißen Kitteln liefen an uns vorbei, eilten hin und her, verschwanden hinter Türen, aber niemand sprach mit uns. Ich war todmüde und furchtbar beunruhigt zugleich, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, alle möglichen Fragen kreisten mir im Kopf herum, ich betete: Bitte, bitte, mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte.
Irgendwann stand eine Schwester vor mir und nahm mich mit zur Intensivstation. Dort wartete ein Polizist auf mich: Bist du Semiya Şimşek? Ist Enver Şimşek dein Vater? Ob mein Vater für gewöhnlich eine Waffe bei sich trage, wollte der Mann wissen. Ob er zu Hause Waffen aufbewahre. Ob wir Feinde hätten. Ich verstand überhaupt nichts, ich wollte bloß zu meinem Vater, wünschte, dass meine Mutter endlich hier wäre, und wusste kaum etwas zu antworten. Waffen? Mein Vater besaß eine Gaspistole und hatte in der Regel ein Taschenmesser dabei, zum Blumenschneiden, auch eine Gartenschere lag im Wagen. Aber Feinde? Was für Feinde denn?
Es war mittlerweile neun Uhr, die ersten Verwandten waren eingetroffen, und wir warteten auf dem Gang vor der Intensivstation. Nur meine Mutter war immer noch nicht da. Dann kam die Schwester wieder zu mir, und endlich durfte ich zu meinem Vater. In seinem Krankenzimmer war ich bei ihm und mit ihm alleine. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie immer, beinahe, als würde er schlafen. Nur, dass alles voller Kabel und Schläuche war. Ich wagte zunächst kaum, näher hinzugehen, eingeschüchtert von diesem fremden Raum mit all den Monitoren und Apparaten. Mein Vater lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Dann sah ich Schwellungen an seinem Kopf. Ein Gerät piepste. All die Schläuche, Kabel und Geräte waren mit ihm verbunden, mit seinem Körper.
Ich ging um ihn herum, auf die andere Seite des Bettes, und der Anblick raubte mir die Fassung: Ich sah sein Auge, und mir wurde klar, er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Das Kopfkissen war voller Blut. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was passiert war, aber ich wusste: Es ist etwas richtig Schlimmes geschehen. Etwas Furchtbares.
Alles begann sich um mich zu drehen, der Raum, die Schläuche, das Bett, mein Vater, das blutige Kissen. Mir wurde schlecht, ich glaube, ich habe angefangen zu weinen und zu schreien. Irgendjemand hat mich dann aus dem Zimmer geholt.
Auf dem Gang kam ich wieder zu mir. Immer mehr Verwandte trafen im Lauf des Vormittags im Nürnberger Krankenhaus ein. Erst am Mittag, gegen dreizehn Uhr, kam mein Bruder, und endlich, irgendwann am Nachmittag, waren meine Mutter und ihre Brüder da, meine Onkel Hüseyin und Hursit. Mutter begann zu weinen, als sie uns sah, sie war vollkommen aufgelöst. Die Nürnberger Kriminalpolizei hatte sie schon vernommen, aber das erzählte sie mir erst viel später. Wir waren etwa vierzig Leute, die ganze Familie und viele Bekannte, alle wollten bei uns und bei meinem Vater sein, sie kamen aus Schlüchtern und aus Neuss angereist und ich weiß nicht, von wo überall her. In schwierigen Situationen stehen wir einander bei.
Ein Arzt kümmerte sich um uns und meinte, dass wir hineingehen und mit meinem Vater reden sollten. Vielleicht hört er das, sagte der Arzt, sprechen Sie mit ihm, vielleicht spürt er, dass Sie da sind. Aber er machte uns keine Hoffnungen. Vater würde nicht überleben. Wir sollten uns von ihm verabschieden. Trotzdem haben wir noch auf ein Wunder gehofft, dass er es irgendwie schafft. Wie konnten wir auch anders? Meine Mutter beschwor die Verwandtschaft immer wieder: Betet für ihn, betet für ihn.
In dieser Nacht schliefen wir bei Nürnberger Bekannten, aber was hieß da schlafen? Wir standen alle unter Schock. Die Erwachsenen diskutierten die ganze Nacht verzweifelt, sie hatten immer noch keine Ahnung, was da geschehen war. Kerim und ich lagen im Zimmer nebenan, wir verstanden nicht genau, worüber sie redeten, aber wir hatten furchtbare Angst um unseren Vater.
Am nächsten Tag berieten sich die Ärzte, wie weiter zu verfahren sei. Ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht. Meine Mutter wartete mit uns Kindern und den Verwandten im Garten der Klinik, Onkel Hüseyin sprach oben mit den Medizinern. Die Entscheidung, um die es ging, war zu groß, zu unbegreiflich für mich. Als mein Onkel in den Garten kam, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, er brach fast zusammen vor Schmerz. Sein Gesicht in dem Moment werde ich nie vergessen. Da wusste ich, was los war. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er weinte und kaum die Worte herausbrachte: Ich habe meinen Schwager verloren.
Die Ärzte hatten die Apparate abgeschaltet, es hätte keine Chance mehr gegeben. Mein Onkel erklärte uns, dass mein Vater klinisch tot sei; dass sein Körper zwar noch jahrelang so auf dem Bett liegen könnte, angeschlossen an Maschinen, dass er aber nie wieder aufwachen würde. Dass es hoffnungslos sei.
Alle gingen nacheinander noch einmal in das Krankenzimmer und verabschiedeten sich von ihm. Wir traten an sein Bett und beteten für ihn. Dann fuhren wir heim nach Schlüchtern. Der Leichnam meines Vater blieb in Nürnberg zur Autopsie.
Semiya Şimşek, „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“
Copyright © 2013 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-87-134-480-0, 272 S., 18,95 EU
Heute habe ich keine Angst mehr, über all diese Geschehnisse zu schreiben. Über diese furchtbaren Tage, über die schwierigen Jahre danach und all die unbeschwerten Jahre davor. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, manches bringt mich immer noch an meine Grenzen, aber viele Bilder aus der Vergangenheit sind auch schön. Als ich anfing, über alles nachzudenken und mir zu überlegen, was es zu sagen gibt, fühlte ich mich schnell ziemlich erschöpft. Ich habe gemerkt: Die Vergangenheit tut mir weh. Vor allem natürlich die schrecklichen Dinge, die geschehen sind. Vieles macht mich noch heute ratlos, und ich bin hin- und hergerissen. Mein Vater war ein guter Mensch, und an das Gute in ihm denke ich gerne. Umso mehr schmerzt es mich, daran zu denken, was ihm passiert ist.
Aber zu meiner Geschichte gehört dies alles: Die schöne Nacht im Urlaub vor dreizehn Jahren, als ich mit Vater in seinem Heimatdorf in der Türkei nachts auf dem Balkon saß, als wir die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten und ich spürte, wie glücklich er in diesem Augenblick war. Und der Tag ein Jahr später, als ich ihn im Krankenhaus in seinem Blut liegen sah, nachdem sie auf ihn geschossen hatten. Die Zeit danach, die Jahre der Verdächtigungen, des Unrechts, das meine Familie ertragen musste. Die schlimmen Vermutungen, die sich meine Mutter anhören musste. Schließlich die Wahrheit, die nach so vielen Jahren herauskam. Eine Wahrheit, die befreiend war, weil sie die lastende Ungewissheit von uns nahm. Und die doch manches Unrecht umso schlimmer macht. Es ist anstrengend und aufwühlend, das alles noch einmal vor mir zu sehen. Und doch bin ich dankbar für das, was ich mit meinem Vater erleben durfte, für die Erinnerungen, die ich in mir trage, für all das, was ich niemals missen möchte. Feuilleton Leitartikel
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