Mit 63 lesen lernen
„Das Jobcenter schickt gerne in Integrationskurse“
Cevahir Kalkan wird nach jahrelanger harter Arbeit gekündigt. Sie freut sich auf die wohlverdiente Ruhe im Alter. Doch das Jobcenter verpflichtet sie zu einem Integrationskurs. Dabei ist sie 63, gesundheitlich angeschlagen und analphabetin. Dem Arbeitsmarkt steht sie jedenfalls nicht mehr zur Verfügung.
Von Sybille Biermann Mittwoch, 22.01.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 27.01.2014, 23:30 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Cevahir Kalkan lehnt sich über ihren Tisch, sie bemüht sich zuzuhören, die Anstrengung ist ihr anzusehen. „Ich komme eigentlich gerne hierher, aber ich verstehe zu wenig und vergesse alles wieder.“ Dann muss sie jedes Mal von vorne anfangen. An sich macht der 63-Jährigen das Lernen Spaß, aber nach 4 Stunden Kurs wirkt sie sehr abgeschlafft und möchte nur noch nach Hause. Anders als bei Integrationskursen zur Erlangungen der Staatsbürgerschaft geht es bei dem Alphabetisierungskurs, den Frau Kalkan besucht, nicht um die Leistungen der Teilnehmerinnen. Frau Kalkan hat bereits uneingeschränktes Aufenthaltsrecht.
2006 ist sie mit ihrem Mann zu ihren Kindern nach Berlin gezogen, zuvor waren sie in Österreich. Dorthin waren sie 1991 aus der Türkei migriert. Sie arbeitete in Reinigungen, Hotels und Bäckereien. Eine schwere, körperliche Arbeit. Ihr Rücken macht ihr zu schaffen, auf einer Schulter kann sie nicht liegen und häufig bekommt sie Kopfschmerzen. Deutsch kann Frau Kalkan kaum, denn eine Schule hat sie nie besucht. Sie ist Analphabetin. „Man hört oft, wenn ich in ein anderes Land ziehe, dann lerne ich doch die Sprache“, erzählt ihr Schwiegersohn. „Bei jungen Leute mit einem gewissen Bildungsgrad ist das vielleicht so, aber das kann man doch nicht mit älteren Leuten ohne Schulerfahrung gleichsetzen.“
Alphabetisierung mit 63
2012 wird Cevahir Kalkan gekündigt, weil sie nicht mehr so schnell arbeiten kann und ihr Arbeitgeber den Gürtel enger schnallen muss. Unglücklich ist sie darüber zunächst nicht. Ihr Körper hatte ihr längst signalisiert, dass es genug sei. Sie meldet sich arbeitslos und kommt schließlich zu einem Jobcenter in Berlin Kreuzberg. Die zuständige Sachbearbeiterin verpflichtet sie zu einem Integrationskurs mit Alphabetisierung. Diese werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanziert und meist von Vereinen getragen. 2012 verausgabte das Bundesamt rund 33 Millionen Euro für Alphabetisierungskurse. Seit der Änderung im Ausländergesetz 2011 können Migranten in Deutschland zu Integrationskursen verpflichtet werden. Einmal seitens der Ausländerbehörde, wenn ein sogenannter Integrationsbedarf erklärt wird, oder aber, wie im Fall von Frau Kalkan, vom Jobcenter.
Wird ein solcher Kurs vom Arbeitsamt verordnet sollte man meinen, dass dabei die Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt im Vordergrund steht. Dass dies bei Frau Kalkan der Fall ist, bezweifelt auch ihre Alphabetisierungslehrerin. „Das Jobcenter schickt gerne in Integrationskurse, weil sie die nicht selber finanzieren müssen.“ Statistiken zu Vermittlungserfolgen durch Integrationskurse liegen beim BAMF nicht vor.
Rechtsprechung: Teilnahme unverhältnismäßig
Obwohl die Lehrerin glaubt, dass Frau Kalkan hier etwas lernt und ihr der soziale Kontakt mit den anderen Frauen im Kurs gut tut, fragt sie sich, ob „es so gut ist, dass das Jobcenter sie zu einem Kurs verdonnert, wenn es ihr zu viel ist.“ Manchmal erlaubt sie ihr sich einfach nur hinzusetzen und zuzuhören. Frau Kalkan’s Kinder haben bereits versucht, der Sachbearbeiterin beim Jobcenter klar zu machen, dass ihre Mutter ein solcher Kurs in diesem Umfang mehr belastet als hilft. Ohne Erfolg.
Sowohl die Ausländerbehörden als auch das Jobcenter haben laut Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit, eine Teilnahme an einem Integrationskurs zu widerrufen, wenn die Teilnahme auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist. Erst im Juni 2013 entschied der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem ähnlichen Fall im Sinne einer 62jährigen Klägerin, die von der Ausländerbehörde zu einem Integrationskurs mit Alphabetisierung verpflichtet wurde. Das Gericht entschied, dass die Teilnahmepflicht die Lebensführung der älteren Klägerin unverhältnismäßig einschränke.
Integrationskurs reicht ohnehin nicht
Cevahir Kalkan hat jetzt noch 150 Stunden zu absolvieren. Dann war sie insgesamt etwas über ein Jahr im Alphabetisierungskurs. Fünf Tage die Woche von 9:00 Uhr bis 13:00 Uhr. Danach könnte sie noch weitere 300 Stunden beantragen, das BAMF finanziert insgesamt 1.200 Stunden. Um ausreichend lesen und schreiben zu lernen und dazu noch auf Deutsch, reiche das ohnehin nicht, da bräuchte man mindestens die doppelte Anzahl an Stunden, meint die Alphabetisierungslehrerin. Sie führt eine Anwesenheitsliste, die sie an das BAMF weiterleitet. Fehlzeiten bedeuten Sanktionen vom Jobcenter.
Canan Bayram, grüne Abgeordnete in Berlin und Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Arbeitsrecht, hält es für Unsinn, einen solchen Zwang auszusprechen: “Es ist ja nicht verkehrt in dem Alter noch etwas zu lernen“, findet sie, aber eine Verpflichtung unter Androhung von Sanktionen sei eine psychische Belastung für die ältere Frau. Sie rät zur Klage. „Ich würde auf das Sozialgericht vertrauen.“ Leitartikel Politik
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Aufgrund der gerade in letzter Zeit aufgedeckten betrügerischen Verknüpfungen zwischen kleinen und großen Lobbyisten, Wirtschaftsbetrieben und Behörden sowie selbst gemachter Erfahrungen wundert mich gar nichts mehr.
Die Träger werden sich natürlich bemühen, möglichst viele Kunden so lange wie möglich an sich zu binden, denn für jede Stunde, die die arme Frau da absitzt, bekommt der Träger Geld. Gleichzeitig stehen aber draußen vor der Tür andere TeilnehmerInnen, die den Kurs wirklich brauchen, aber keinen Platz finden, weil der Kurs voll ist. Gute Deutschkurse wären eine tolle Sache, aber BAMF und Job-Center haben aus den Integrationskursen reine Disziplinierungsmaßnahmen gemacht, um ihre Statistiken in Ordnung zu bringen. Beide Behörden schaden den Integrationsbemühungen nur. Die Job-Center zitieren auch TeilnehmerInnen eines Integrationskurses, die kaum Deutsch sprechen, alle zwei Wochen während der Unterrichtszeit herbei, um sich ihre „Bewerbungsbemühungen“ vorlegen zu lassen!
Wo könnten die Vorteile der Kursteilnahme liegen?
Eine Arbeitssuchende wird vom Arbeitsamt zu einem Kurs verdonnert.
Mein Wissensstand dazu ist folgender:
Hat ein Teilnehmer an einer Weiterbildungsmaßnahme vor der Maßnahme gearbeitet oder noch Arbeitslosengeld1I erhalten, besteht der Anspruch auf ALG1 über die Maßnahme hindurch fort. Wenn der Kurs, wie oben genannt, bis zu 3 Jahren verlängert werden kann, hätte die Teilnehmerin also 3 Jahre Anspruch auf ALG1, das anders als HARTZ4=ALG2 nicht mit dem Einkommen des Partners verrechnet werden kann.
Egal, was die Frau in dem Kurs lernt und ob nach dem Kurs eine Prüfung erfolgt, dieses Geld wäre ihr schon mal sicher und eine nicht bestandene Prüfung kann auch nicht sanktioniert werden.
Wenn sie danach nicht ohnehin schon das Rentenalter erreicht hat, kann sie anschließend einen (sicher erfolgreichen) Antrag auf Erbwerbsunfähigkeits-Rente (kurz EU-Rente) stellen. Die Kursjahre werden dann in jedem Fall mit in die Rentenberechnung eingehen.
Die Lehrerin scheint ja durchaus Verständnis für ihre gesundheitliche und bildungsbiografische Situation zu haben und gerade bei chronischen Schmerzen sind Ablenkung und sozialer Kontakt erfahrungsgemäß meist besser, als wenn man alleine zu Hause sitzt.
Wenn man alle konkreten Vor- und Nachteile berücksichtigt, ist die Teilnahme an dem Kurs vielleicht gar nicht so unsinnig.
Die Integrationskurse sollten abgeschafft werden. Die eigentlichen Gewinner der Migration sind Banken, Arbeitgeberseite und der Fiskus im Ein- und Auswanderungsland. Mit unserer IuK Technik und ausgefeilten Instrumenten der Fiskalpolitik ist es sehr leicht, Staatsbürgerkunde und Sprachunterricht als Online-Kurs zu organisieren.
Steueranreize für Non-Profits und deren Mitarbeiter schaffen Anreize für Community Organisationen Sprachkurse durchzuführen. Individuelle Einkommenssteueranreize für Sprachkursteilnehmer über einen Zeitraum von 3 bis 5 Jahren schaffen Anreize für die freiwillige Teilnahme. Der Fiskus kann sich den Mittelrückfluß durch erhöhte Einkommenssteuer und Verbrauchssteuer ausrechnen, wenn er seine Inklusionspolitik vernünftig ausrichtet.
Bessere Sprachkenntnisse führen zu höheren Löhnen. Mehr Staatsbürgerkunde führt zu reibungsloseren Transaktionen. Alles kein Problem eigentlich – wäre die deutsche Politik nichht so versessen darauf einen neuen Tatbestand „Integrationsverweigerung“ zu installieren.
Mal kurz zusammen gefasst
Integrationskurse und Bildung darf man nicht als Strafe empfinden sonst wird das nur als dreckiges Geschäft mit den Menschen angesehen. Der Maßnahmeträger verdient sich eine goldene Nase und den Menschen hilft es nicht weiter.
Vielen Dank und: Das Obige gilt 2020 immer noch. In 2030?
Den Satz „DAS JOBCENTER SCHICKT GERNE IN INTEGRATIONSKURSE“ habe ich mir schon vor Jahren gemerkt u. finde ihn mehr als bestätigt. Die Leute durchschauen inzwi., dass sie in immer neuen Kursen – jetzt sehr oft „Berufsbezogene Deutschförderkurse“ gelenkt werden u. immer neue Lehrkräfte entdecken dürfen oder vllt. das auch nicht reflektieren wollen, was los ist.
Ich kenne das Schreiben:
„Sehr geehrte ….,
ich möchte mit Ihnen über Ihre berufliche Situation sprechen.“
Dies bekommt (fast) JEDE/R in den Integrationskursen und Berufsbezogenen Deutschförderkursen (im Grunde nichts anderes – leider in meiner Erfahrung nur eine Drehtür, dazu unten). Allein diese Praxis, unterschiedslos an alle diese Schreiben in Behördendeutsch zu senden. Einmal kam ein chronischer Schwänzer NUR deshalb in unseren Alphakurs, um sich so ein Schreiben übersetzten zu lassen.
In jenem Kurs saß von Juni 2017 bis Mai 2018 eine 1951 geborene Syrerin, in dem Alter u. als ehem. Lehrerin von anderen Teilnehmern u. mir hoch respektiert. Sie wollte/konnte eigentlich nur Übersetzungen der anderen Teilnehmer zuhören, ein paar Wörter im Handy nachschlagen u. bei den regelmäßigen Tests abzuschreiben. Sie war aber bei weitem nicht die Einzige, die demonstrierte, dass diese Kurse für die Teilnehmer keinen Sinn machen.
Nach Monaten bürokratischer Anstrengung hatte ihre Familie Erfolg, sie von der Teilnahmeverpflichtung befreien zu lassen.