Den Behörden Beine machen
Das EuGH-Urteil zur Familienzusammenführung von Flüchtlingen
Der Europäische Gerichtshof hat im April 2018 den Familiennachzug von Eltern zu unbegleiteten Kindern maßgeblich erleichtert. Diese Entscheidung stellt die europarechtswidrige Praxis der Behörden auf den Kopf. Von Dr. Constantin Hruschka
Von Dr. Constantin Hruschka Montag, 04.06.2018, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.07.2020, 20:31 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 12. April 2018 im Urteil A und S den Familiennachzug von Eltern zu unbegleiteten Kindern maßgeblich erleichtert und dabei insbesondere die Frage geklärt, zu welchem Zeitpunkt die Person unter 18 Jahre alt gewesen sein muss. In dogmatisch überzeugender Weise arbeitet der EuGH heraus, dass auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen ist. Ist also die Person unter 18 Jahre alt, wenn sie einen Asylantrag stellt, dann ist sie für die Familienzusammenführung auch dann als minderjährig anzusehen, wenn sie während des Asylverfahrens volljährig wird. Dieses Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Praxis des Familiennachzugs zu unbegleiteten Minderjährigen. Mit der Entscheidung bestätigt der EuGH seine zunehmende grundrechtliche Orientierung in Migrationsfragen.
Recht auf Familienzusammenführung
Unbegleitete Minderjährige sind seit Jahren ein wichtiges und wiederkehrendes Thema in der Debatte um das gemeinsame europäische Asylsystem. In der Regel geht es dabei um verschwundene Kinder oder um die Feststellung des Alters einer Person, die angegeben hat minderjährig zu sein. Gleichzeitig ist die Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige ein nicht nur in Deutschland kontrovers diskutiertes Thema. Der europa- und verfassungsrechtlich äußerst bedenkliche komplette Ausschluss der Familienzusammenführung für subsidiär schutzberechtigte Personen in Deutschland seit dem März 2016 ist hier nur eines von vielen rechtlich wie politisch ungeklärten Themen.
Ein Bereich, der beide Themenkomplexe verbindet, ist der sog. umgekehrte Familiennachzug, also der Nachzug von Eltern zu ihren drittstaatsgehörigen Kindern. Das Europarecht regelt diese Frage in der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG). Diese sieht vor, dass ein solcher umgekehrter Familiennachzug bei Drittstaatsangehörigen ermöglicht werden muss, wenn das Kind unbegleitet ist und als Flüchtling anerkannt wurde (Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie). Vor der Entscheidung des EuGH war ungeklärt, welcher Zeitpunkt für den Familienzusammenführungsanspruch entscheidend ist. Also anders gesagt: Zu welchem Zeitpunkt muss die Person noch minderjährig sein, um den Anspruch auf eine Familienzusammenführung mit den Eltern zu haben?
Der vorgelegte Fall
Das zuständige niederländische Gericht (Rechtbank Den Haag) hatte in diesem Kontext dem Europäischen Gerichtshof eine Frage zu einem Fall vorgelegt, in dem eine während des Asylverfahrens in den Niederlanden volljährig gewordene eritreische Staatsangehörige nach ihrer Anerkennung als Flüchtling beantragt hatte, dass ihre Eltern (A. und S.) sowie ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung nachziehen dürfen. Der Anspruch auf Nachzug der Eltern hätte unstreitig bestanden, wenn die Tochter von A. und S. noch minderjährig wäre. Da sie aber im Laufe des Asylverfahrens volljährig
wurde, war fraglich, zu welchem Zeitpunkt die Minderjährigkeit (noch) vorliegen muss, damit der Anspruch (weiter) besteht.
Die Eltern hatten geltend gemacht, dass es auf die Einreise ankäme, wohingegen die EU-Kommission der Meinung war, dass auf den Zeitpunkt des Antrags für die Familienzusammenführung abzustellen sei. Die polnische Regierung, die in dem Rechtsstreit interveniert hat, brachte vor, es sei auf den Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag abzustellen, während die niederländische Regierung mangels expliziter Regelung in der Richtlinie der Meinung war, dass es Sache des jeweiligen Mitgliedstaates sei, diesen Zeitpunkt zu bestimmen. Das vorlegende Gericht war der Meinung, dass grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Einreise abzustellen sei.
Die Entscheidung des Gerichts
Wie in vielen anderen Fällen betont der EuGH zuerst, dass eine einheitliche europäische Lösung in der Regel in allen Fällen gefunden werden muss, in denen Richtlinien nicht ausdrücklich auf das nationale Recht verweisen. Der Gerichtshof suchte also für seine Entscheidung nach einer „autonomen und einheitlichen Auslegung“ der fraglichen Bestimmung (Rn. 41), aus der sich ein eindeutiger Zeitpunkt ergibt, zu dem die Minderjährigkeit bestanden haben muss.
Dieser Zeitpunkt ist nach der Auslegung des Gerichtshofs der Zeitpunkt der Asylantragsstellung des unbegleiteten Kindes. Zu dieser Einschätzung kommt der Gerichtshof aus sehr grundlegenden rechtstaatlichen Erwägungen, die er unter anderem aus dem Gleichheitsgrundsatz ableitet. Überzeugend argumentiert der EuGH, dass es mit den Grundsätzen des Europarechts und insbesondere mit dem besonderen Schutz von Familien und speziell der Familieneinheit von unbegleiteten Minderjährigen nicht vereinbar wäre, wenn in zwei gleich gelagerten Fällen der Anspruch auf Familiennachzug davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die mit der Antragsprüfung befassten nationalen Behörden und Gerichte über den Antrag entscheiden (vgl. dazu insbesondere Rn. 56).
Darüber hinaus betont der Gerichtshof, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit (als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts) es gebietet, dass für eine antragstellende Person nicht „völlig unvorhersehbar“ sein darf, ob ein Anspruch (hier der Familiennachzugsanspruch) besteht oder nicht (vgl. dazu Rn. 59).
Aus der weiteren Systematik des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems leitet der Gerichtshof ferner ab, dass es nicht auf den Einreisezeitpunkt ankommen kann, da eine Person, die Flüchtling im völkerrechtlichen Sinne ist, aber keinen Asylantrag stellt, auch keinen europarechtlichen Anspruch auf Familiennachzug hat, da dieser von der Anerkennung als Flüchtling abhängig ist.
Dass trotzdem nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag abzustellen ist, begründet der Gerichtshof überzeugend mit dem deklaratorischen Charakter der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine Person ist aus rechtlicher Sicht bereits Flüchtling, bevor sie als solcher anerkannt wird, daher entsteht ein subjektives also individuelles Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem Europarecht bereits mit der Asylantragstellung (vgl. dazu Rn. 53f.).
Gemäß der Entscheidung des EuGH ist der Anspruch davon abhängig, dass die anspruchsberechtigte Person den Anspruch innerhalb einer „angemessenen Frist“ geltend macht. Diese Frist lässt sich nach dem EuGH aus Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie ableiten. Dieser ermöglicht es den Mitgliedstaaten die Familienzusammenführung zu Flüchtlingen von weiteren Bedingungen (wie Krankenversicherungsschutz und Lebensunterhaltssicherung) abhängig zu machen, wenn der Antrag nicht innerhalb von drei Monaten gestellt wird, vgl. dazu Rn. 61).
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass eine Person, die zum Asylantragszeitpunkt unbegleitet und minderjährig war und den Anspruch innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt, einen Anspruch auf umgekehrten Familiennachzug hat.
Folgen der Entscheidung
Der Grundtenor der Entscheidung des EuGH ist eindeutig: Der Gerichtshof misstraut den Mitgliedstaaten beim Schutz von Minderjährigen. Mehrfach betont der EuGH, dass bei einer anderen Auslegung, den Mitgliedstaaten durch verzögerte Bearbeitung der Anträge faktisch eine Möglichkeit gegeben wäre, die Verpflichtungen aus der Richtlinie zu umgehen. Der Gerichtshof hebt daher auch besonders hervor, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie einen Anspruch auf den umgekehrten Familiennachzug für unbegleitete Minderjährige vorsieht, bei dessen Gewährung den Mitgliedstaaten kein Ermessen zukommt. Sie müssen diesen Anspruch gewähren, wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Dies kann nur rechtsgleich und rechtssicher gewährleistet werden, wenn die Mitgliedstaaten keinen Einfluss auf den relevanten Zeitpunkt haben. Andernfalls könnten – so der EuGH – die Mitgliedstaaten, durch mangelnde Ressourcenzuweisung für die Behörden und Gerichte, durch die nicht vorrangige Behandlung von Asylanträgen von unbegleiteten Kindern oder auch einfach aufgrund äußerer Umstände (wie einer plötzlichen Zunahme von Asylanträgen) daran gehindert sein, ihrer Verpflichtung zum besonderen Schutz der Familieneinheit von unbegleiteten Minderjährigen nachzukommen. Das Misstrauen des EuGH gegenüber Mitgliedstaaten in diesem Bereich ist groß und wohl nicht vollkommen ungerechtfertigt.
Für den deutschen Kontext bedeutet die Entscheidung, dass die bisherige Praxis, die von einem Erlöschen des Anspruchs auf Familiennachzug mit Erreichen der Volljährigkeit ausgeht, komplett geändert werden muss. Bislang musste die Einreise der nachziehenden Person(en) erfolgt sein, solange die Person noch minderjährig ist. Interessanterweise ist dieser Zeitpunkt lediglich in Ansätzen von der niederländischen Regierung vorgebracht worden, die die Bestimmung des Zeitpunkts den Mitgliedstaaten überlassen wollte. Aus rechtspolitischer Sicht ist zumindest nicht leicht nachvollziehbar, warum die Bundesregierung in diesem Fall nicht ebenfalls interveniert hat.
Die europarechtswidrige Praxis der Behörden muss nunmehr entsprechend korrigiert werden. Diese Korrektur muss praktisch wirksam sein. In vielen Fällen wird dabei eine Rücknahme des rechtswidrigen Bescheids allein nicht ausreichen. Für behördlich zu Unrecht verweigerte Nachzüge könnte die Frage des Zeitpunkts der Stellung des Antrags auf Familiennachzug relevant sein, da der EuGH dafür drei Monate nach Zuerkennung des Schutzstatus für angemessen hält, ohne dass dies sich direkt aus der Richtlinie ergeben würde. Rechtlich interessant sind auch die Konstellationen, in denen eine Person während des Asylverfahrens volljährig wurde und wegen der deutschen Praxis auf einen Familiennachzugsantrag verzichtet hat. Hier könnte beispielsweise an eine Übergangsfrist zur nachträglichen Beantragung des Familiennachzugs gedacht werden, die verfahrensrechtlich so ausgestaltet sein müsste, dass der Familiennachzug tatsächlich ermöglicht wird. Das bedeutet, dass die Person beantragen sollte, so gestellt zu werden als ob ihr gerade erst die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden wäre und daher der Nachzugsantrag noch rechtzeitig gestellt werden kann.
In der Sache begnügt sich der EuGH nicht allein damit, den Mitgliedstaaten die Entscheidung über den relevanten Zeitpunkt, zu dem die Minderjährigkeit bestehen muss, zu entziehen, um so den Rechtsverlust durch eine verzögerte Bearbeitung von Asyl- und/oder Familiennachzugsanträgen zu verhindern. Er betont darüber hinaus eines der wichtigsten Grundprinzipien des Schutzes unbegleiteter Minderjähriger: Die Asylanträge von Kindern sind vorrangig zu prüfen. Daher müssen die Behörden die Asylverfahren in diesen Fällen besonders schnell und effizient durchführen.
Insgesamt folgt der EuGH seiner Tendenz, die europarechtlichen Spielräume der Mitgliedstaaten im Migrationsbereich durch eine grundrechtskonforme und grundrechtssensible Auslegung der Bestimmungen von Richtlinien und Verordnungen Rechnung zu tragen. Durch die Betonung des vorrangig zu beachtenden Kindeswohls zeigt der EuGH zum wiederholten Male den Mitgliedstaaten die grundrechtlichen Grenzen ihrer Möglichkeiten zur restriktiven Auslegung der europarechtlichen Regelungen zu Migration und Asyl auf. Diese Entwicklung hin zu einer einheitlichen, an den Grundrechten orientierten Auslegung, die spätestens seit der Entscheidung C.K. im Asylbereich klar feststellbar ist, kann als Fortschritt auf dem Weg zu einem grundrechtlich unterfütterten Migrationsregime in Europa angesehen werden. Die Entscheidung steht damit auch gegen den Trend zu einer immer restriktiveren Politik gegenüber international Schutzberechtigten, die sich aktuell insbesondere in den nationalen Debatten in den Mitgliedstaaten und in den Diskussionen um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zeigt. Aktuell Meinung
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