Replik auf ein Stereotyp
„Männlich, muslimisch und ok“
Das Stereotyp des traditionell-patriarchalen und nicht integrationsbereiten Migranten erfährt aufgrund populärwissenschaftlicher Publikationen derzeit erneuten Aufwind. Dies fordert eine Replik heraus, denn: Empirische wissenschaftliche Studien zeigen ein anderes Bild.
Von Samia Aden, Yasemin Uçan und Manuela Westphal Freitag, 13.12.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 11.01.2020, 13:45 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Schaut man sich die gegenwärtige mediale Darstellung von Männern aus nicht-europäischen Herkunftsländern an, kommt man nicht am Bild des defizitären, übergriffigen und gewalttätigen Mannes vorbei. Diese Debatten über „Nordafrikanische Intensivstraftäter“ („Nafris“), „Ehrenmorde“ oder „kriminelle Clanfamilien“ sowie „desintegrierte muslimische (junge) Männer“ leisten nicht nur rechten und rechtspopulistischen Argumentationen und Strukturen Vorschub. Sie tragen auch zu einer allgemeinen öffentlichen „moral panic“ bei, bei der Ängste vor einer als bedrohlich wahrgenommen sozialen Gruppe geschürt und fremdenfeindliche Ab- und Ausgrenzungen weiter verstärkt werden.
Ein Beispiel stellt das neue Buch von A. Toprak dar, was mit Titel und Cover die Kombination von muslimisch und männlich als „desintegriert“ stempelt.1 In seinem Buch beschreibt er auf Grundlage eigener biographischer und sozialpädagogischer Erfahrungen anhand einzelner Fälle muslimische junge Männer als orientierungslos und patriarchal-autoritär. Hierfür macht er in erster Linie die Familien und die darin vorherrschende streng konservativ-religiöse, nach Geschlechtern getrennte und durch „paradoxe Anforderungen“ geprägte Erziehung der Jungen durch ihre Mütter und Väter verantwortlich.
Ein Szenario, das gesellschaftliche Teilhabe per se zum Scheitern verurteilt und ein soziales Problem darstellt, das scheinbar allein durch Kombination von Männlichkeit plus muslimischer Religion und kultureller Herkunftsprägung aus der Türkei entsteht. Diese Konstellation kann somit offenbar nur traditionell-patriarchale und autoritäre Geschlechter- und Generationsverhältnisse als dichotomes Gegenstück zu den Verhältnissen der deutschen Mehrheitsgesellschaft hervorbringen. Diese Argumentation ist anhand von empirischen Forschungsergebnissen seit langem widerlegt und vor allem auch als zu eindimensional und vereinfachend für die Beleuchtung bestehender Problem- und Notlagen, wie etwa häusliche Gewalt, kritisiert worden.
Der Beitrag will daher an die vorliegende wissenschaftliche Erkenntnislage zum Thema Eltern- bzw. Vaterschaft und Erziehung in Familien mit Migrationsgeschichte (aus der Türkei) erinnern.
Studien zu Vaterschaft im Kontext von Migration und Flucht
Trotz differenzierter Befunde über die Dynamik von (aktiver) Vaterschaft in Abhängigkeit von Rahmenbedingungen der Migration und Integration werden in der Öffentlichkeit vor allem Befunde, die sich in das stereotype Bild traditionell-patriarchaler Väterlichkeit fügen, wahrgenommen und diskutiert. Eine der ersten qualitativen Studien zu Vätern aus Einwandererfamilien in Deutschland wurde Mitte der 1990er Jahre durchgeführt2.
Im Rahmen der Untersuchung wurden Väter aus der Türkei, der ehemaligen UdSSR und (west-)deutsche Väter interviewt. Themen waren unter anderem Erziehung und Entwicklung des Kindes sowie geschlechterspezifische Aufgabenteilung in der Partnerschaft. Es lässt sich festhalten, dass alle drei Gruppen ihre Vaterschaft über die traditionelle Ernährerrolle hinaus definierten und sich unter anderem herausgefordert sahen, aufgrund veränderter gesellschaftlicher Umstände und teils durch Forderungen von ihren Ehefrauen und Kindern, sich auch selbstkritisch mit traditionellen Geschlechter- und Generationenverständnissen auseinanderzusetzen. Andere Arbeiten zeigten eine aktive Auseinandersetzung türkeistämmiger Männer mit hegemonialen Männlichkeitsmodellen und erkennen bereits die Diskrepanz der Männer zwischen ihrem Selbstbild und dem von außen an sie herangetragenen Bild.3
In weiteren Studien4 wird deutlich, dass Väter aus muslimisch geprägten Herkunftsgesellschaften sich mit Anforderungen guter Erziehung auseinandersetzen und ihre Verantwortung im Rahmen aktiver Vaterschaft verhandeln. Werte und Erziehungspraktiken werden sowohl von der ersten als auch von der zweiten Migrationsgeneration teils bewusst und teils unbewusst transformiert und an aktuelle Lebensumstände sowie ihrer An- und Herausforderungen angepasst. So rahmen die eigenen und die (potenziellen) Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen des Kindes deutlich die väterliche Erziehung. Türkeistämmige Väter beschreiben die Stärkung des Selbstbewusstseins, den Erwerb tadelloser Deutschkenntnisse sowie Bildungserfolg explizit als wichtigen Teil ihrer väterlichen Verantwortung, gerade weil dies ihre Kinder vor Rassismus und Diskriminierung, zum Beispiel seitens Arbeitgeber*innen und Lehrkräfte, schützen könne.
Soziale Aufstiegs- und Integrationsprozesse gehen jedoch zum Teil auch mit einer Übernahme von stereotypen und defizitären Zuschreibungen einher. Väter grenzen sich dabei explizit von als konservativ-türkisch oder traditionell-patriarchalen Erziehungsvorstellungen und -praktiken ab, die sie wiederum über Adressierungen und Beobachtungen von Eltern aus „anderen Migrationsfamilien“ kennen. Somit lassen sich auch innerhalb der Gruppe Ab- und Ausgrenzungsprozesse erkennen, die sich als ein Ergebnis der stetigen Konfrontation mit dem Bild einer defizitären und integrationshemmenden Erziehung ihrer Kinder interpretieren lassen.
Anforderungen an geflüchtete Väter
Eltern- und Vaterschaft unter Bedingungen von Flucht und Asyl sind bislang kaum untersucht. Aktuelle Ergebnisse eigener Forschung, unter anderem mit muslimischen Vätern aus Somalia, belegen vor allem den unsicheren Aufenthaltsstatus und folglich eine mögliche Abschiebung als Bedingung für die Ausübung ihrer Rolle als Väter. Hier wird eine doppelte Anforderung deutlich: Auf der einen Seite müssen und wollen Väter die an sie gestellten Integrationserwartungen für sich und ihre Kinder erfüllen und gleichzeitig sehen sie sich aufgefordert, ihre Kinder auf eine eventuelle Rückkehr vorzubereiten. Und dies auch dann, wenn ihre Kinder bereits den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben und zum Teil hier geboren sind. Darüber hinaus ist die oft hohe transnationale Sorge und Verantwortung zu nennen, die sich z.B. in Form von Geldüberweisungen an zurückgelassene und verstreut lebende Familienmitglieder zeigt.
Das Stereotyp bedrohter und passiver Vaterschaft in Familie und Erziehung aktualisiert sich in psychologischen und pädagogischen Debatten über die Annahme eines drohenden väterlichen Autoritäts- und Funktionsverlusts nach der (Flucht)Migration, der sie dann antreibt, traditionelle Werte und Erziehungsvorstellungen rigide durchzusetzen. Allerdings hängen Ausmaß und Auswirkung der mit dem potenziellen Autoritätsverlust einhergehenden Veränderungen der Geschlechter- und Generationsverhältnisse auch von der Fähigkeit ab, die Familie über den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt gut zu versorgen. Zudem kann der väterliche Statusverlust auch durch ein bewusst aktives Engagement kompensiert werden. Die Koexistenz von Verlusterfahrungen und aktiver Gestaltung von Vaterschaft in der Fluchtmigrationssituation ist in essentialistischen und kulturalistischen Modellen und Vorstellungen nicht denkbar. Trotz der Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, fehlender Anerkennung ihrer Berufspraxis und Bildungsabschlüsse, Rassismuserfahrungen und sprachlicher Barrieren bemühen sich viele Väter, wie auch die Mütter, um gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland, nicht zuletzt um ihren Kindern ein sicheres Leben zu ermöglichen.5
Stereotypen entgegenwirken
Es lassen sich weitere differenzierte Erkenntnisse empirischer Forschung anführen, die die Diversität von und die Gelingensbedingungen für Erziehung, Eltern- und Vaterschaft jenseits dominanter Integrationsdiskurse aufzeigen. In diesen kommen Väter sowie junge Männer selbst zu Wort, wobei sich die dichotome Darstellung des traditionell-patriarchalen muslimischen Mannes als Gegenstück zum aufgeklärt-emanzipierten westlichen Mann als nicht haltbar erweist.
Das gegenwärtig wieder aktualisierte Bild einer homogenen Gruppe „muslimisch, migrantischer“ Väter, die ihre Kinder in rückständige Geschlechterrollen erziehen und damit pauschal als desintegriert betrachtet werden, wird den heterogenen Lebensrealitäten nicht gerecht. Festzuhalten ist darüber hinaus auch, dass den Vätern sehr bewusst ist, wie sie in der Öffentlichkeit, in Institutionen und im Bildungssystem wahrgenommen und beobachtet werden. Sie müssen alltäglich mit verschiedenen subtilen sowie direkten Rassismen und Diskriminierungen umgehen. Für die Bewältigung permanenter Defizit- und Problemzuschreibungen ist vor allem die Familie häufig eine große Stütze in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Selbstwert und Handlungsmacht. Sie kann auch Last sein und Druck ausüben, das soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Druck zeigt sich z.B. im Hinblick auf die Umsetzung elterlicher Bildungsaspirationen und familiärer Aufstiegserwartungen. Daneben schaffen viele Eltern auch unter teils widrigen Lebensumständen ein förderliches familiäres Klima, das Bildungsaufstiegsprozesse ihrer Töchter sowie auch ihrer Söhne bis an die Hochschulen ermöglicht.6
Es ist frustrierend, dass allein die Darstellung vermeintlicher Defizite und Bedrohungen im öffentlichen Migrations- und Integrationsdiskurs Popularität genießt und Reichweite erfährt. Wir plädieren dafür, empirisch differenzierter und kritischer Forschung, politischem Aktivismus marginalisierter Personen und antirassistischer Bildungsarbeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit der Zunahme von Rechtpopulismus, macht- und gewaltförmiger Narrative sowie immer wiederkehrender Stereotype in Deutschland ist dies heute (wieder) umso wichtiger.
- Toprak, Ahmet (2019): Männlich, muslimisch, desintegriert. Was bei der Erziehung muslimischer Jungs schiefläuft. Berlin: Econ Verlag.
- Westphal, Manuela (2000): Väter und Erziehung. In Herwartz-Emden, Leonie (Hrsg.). Einwandererfamilien: Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation (S. 121–204). Göttingen: V & R unipress.
- Spohn, Margret (2002): Türkische Männer in Deutschland. Familie und Identität. Migranten der ersten Generation erzählen ihre Geschichte. Bielefeld: transcript Verlag.
- Insbesondere zu verweisen ist hier auf: Farrokhzad, Schahrzad, Ottersbach, Markus, Tunç, Michael, & Meuer-Willuweit, Anne (2011). Verschieden, Gleich, Anders? Geschlechterarrangements im intergenerativen und interkulturellen Vergleich. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Westphal, Manuela & Aden, Samia (2020): Familie im Kontext von Flucht und Asyl. In Jutta Ecarius & Anja Schierbaum (Hrsg.). Handbuch Familie. Wiesbaden: Springer VS, (i.E.).
- Westphal, Manuela & Kämpfe, Karin (Hrsg.) (2017). Migration, Bildungsaufstieg und Männlichkeit. Passungsdynamiken zwischen Familie, Hochschule und Peers. Kassel: kassel university press.
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Liebe Autorinnen,
m. E. macht Ihr Beitrag sehr gut deutlich, wie vorsichtig man mit allgemeinen Behauptungen über Bevölkerungsgruppen sein sollte und zeigt auch gut auf, dass die besagten Stereotypen für einen Teil der angezielten Gruppe nicht zutreffend sind.
Was mir allerdings nicht klar ist, ist die ’statistische‘ Relevanz solcher Einzelbefunde: Tatsächlich würde ja kaum Jemand behaupten, das muslimische Männer ausnahmslos patriarchalisch und autoritär orientiert sind. Naheliegender ist die Behauptung, dass solche Männer signifikant häufiger solche Einstellungen und Verhaltensweisen als Männer aus anderen Gruppen zeigen. Um eine solche Behauptung zu widerlegen, ist der von Ihnen beigebrachte Beleg einzelner oder auch mehrerer Abweichungen von solchen Mustern nicht hinreichend, sondern müsste deren mit anderen Gruppen vergleichbare Häufigkeit zeigen. Oder enthalten die von Ihnen zitierten Arbeiten doch vergleichende statistische Befunde über die relative Häufigkeit der beschriebenen Einstellungen und Verhaltensweisen?
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Böckler
ich kann das nur bestätigen aus dem direkten Kontakt mit Familien:
es gibt muslimische Männer unter den Flüchtlingen, die ihre Rolle anders definieren als es wohl deren Väter getan haben. Sie übernehmen Verantwortung. Sie wickeln ihre Kinder. Sie betreuen sie, solange die Mutter im Deutschkurs ist. So wie es junge biodeutsche Väter auch tun.
Und die Mütter konnten den Unterschied genau beschreiben.
Und ich:
Das hatte ich nicht erwartet . Also musste ich einsehen, dass das Stereohattetyp auch bei mir Wirkung gezeigt hatte.