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„Großonkel Pauls Geigenbogen“ von Alexandra Senfft

Gespräch mit Alexandra Senfft

Eine Familie, die durch die Nazis alles verloren hatte

Das neu erschienene Buch „Großonkel Pauls Geigenbogen“ erzählt die Familiengeschichte des EU-Abgeordneten Romeo Franz. Eine Geschichte, in der Musik, Verfolgung und Flucht im Mittelpunkt stehen, ebenso die Zeit nach dem Nationalsozialismus, gezeichnet von Diskriminierung und Retraumatisierung – aber auch Erfolg. MiGAZIN sprach mit der Autorin Alexandra Senfft.

Mittwoch, 20.03.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.03.2024, 6:04 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Frau Senfft, was hat Sie dazu inspiriert, die Geschichte von „Großonkel Pauls Geigenbogen“ zu erzählen und wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Alexandra Senfft: Ich hatte Romeo Franz schon einige Male als EU-Parlamentarier interviewt, wenn es um Themen über die Sinti und Roma ging, so zum Beispiel zum Denkmal der ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin. Romeo hat für dieses Denkmal die Musik komponiert, den feinen Geigenton, den man an diesem Ort der Erinnerung im Tiergarten hören kann. Mich beeindruckte der Lebensweg von Romeo, und es wuchs das Bedürfnis, noch mehr über die größte Minderheit Europas zu erfahren.

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Mein Wissen über Sinti und Roma war damals eher oberflächlich, und ich fragte mich, woran das wohl lag, warum diese Menschen so oft übersehen werden, obwohl sie seit jeher zu unserer Gesellschaft gehörten und unsere Kultur mitgeprägt haben. Als Romeo mir seine Familiengeschichte erzählte, merkte ich, dass es Lücken gab und viel Wissen verloren gegangen war. Durch Interviews mit Zeitzeugen und deren Nachkommen sowie durch intensive Archivrecherchen konnte ich vieles rekonstruieren und Romeos Vorfahren in unserem Buch wieder zum Leben erwecken.

Ihr Buch beleuchtet die Persönlichkeit von Großonkel Paul und die Einflüsse historischer Ereignisse auf die Familie von Romeo Franz. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Großonkel Paul ist eine zentrale Figur im Buch. Sein Geigenbogen, der über die NS-Zeit hinaus bewahrt wurde, ist der rote Faden in der Erzählung. Die Vorfahren von Romeo Franz waren deutsche Patrioten, sie zogen als stolze Soldaten in den Ersten Weltkrieg. Die Familie lebte gut situiert in Bütow, Pommern. Paul Franz spielte mit seinem Vater und seinen Geschwistern in der Kapelle Franzens sehr erfolgreich an den großen Häusern in den Ostseebädern – bis die Nazis kamen, und sie fliehen mussten, um nicht deportiert zu werden.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Diskriminierung durch die deutschen Behörden nahtlos weiter.“

Romeo Franz und ich erzählen über die Flucht quer durch Italien und wie diese Verfolgung und der Antiziganismus seine Angehörigen ein Leben lang zeichnete. Auch der Berliner Teil der Familie musste fliehen, quer durch den Balkan bis Odessa. Romeos Mutter Mery kam in Zagreb zur Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Diskriminierung durch die deutschen Behörden nahtlos weiter. Dennoch konnte die Familie, die durch die Nazis alles verloren hatte, in der alten Heimat wieder Fuß fassen. Wir berichten, wie es dann mit der Bürgerrechtsarbeit weiterging und über Romeos Self-Empowerment als Musiker, Bürgerrechtler und Grüner Politiker. Einen besonderen Einfluss auf sein Leben hatte seine Großmutter, wie überhaupt die Frauen in der Familie ihn stark prägten.

Musik und Handel spielen eine wichtige Rolle in der Familiengeschichte. Wie haben Sie diese Elemente in Ihrem Buch eingewoben und welche Bedeutung haben sie für Romeo Franz und seine Familie?

Musik durchzieht das gesamte Buch, Romeo Franz und auch sein Sohn Sunny stehen damit ganz in der Tradition ihrer Vorfahren. Romeo erzählt lebhaft, wie seine Großonkel ihn an die Geige und ans Klavier heranführten und welche musikalischen Größen er kennenlernte. Dabei lernen die Leser:innen viel über den Einfluss von Sinti und Roma auf die klassische Musik und nicht zuletzt den Jazz. Romeo berichtet, wie es kam, dass er als Meisterschüler des legendären Schnuckenack Reinhardt bezeichnet wurde oder wie aufgeregt er war, als er Stevie Wonder begegnete. Einige von Romeos Vorfahren handelten sehr erfolgreich mit Pferden; das war eine Berufssparte, in der sie wie in der Musik viele Berührungspunkte mit Juden hatten. Vor allem die Frauen in Romeos Familie waren hervorragende Geschäftsfrauen, die in ganz Deutschland Stammkund:innen für ihre Handarbeitsware hatten. Durch die veränderten Marktbedingungen und das Internet sind diese Berufe im Laufe der Zeit aber ausgestorben. Romeos Eltern waren fleißige Textilhändler mit eigenem Laden, als junger Mann half er im Geschäft oft aus, bis seine Karriere mit dem Romeo Franz Ensemble begann.

Ein zentrales Thema in Ihrem Buch ist die Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg. Wie haben Sie versucht, dieses Thema in Ihrem Werk zu behandeln?

„Die, die nach Deutschland zurückkamen, hatten alles verloren und wurden weiter geächtet und diskriminiert. Die Entschädigungsverfahren führten oft zu Retraumatisierungen.“

Jahrhundertelanger Antiziganismus und Diskriminierung haben in Sinti und Roma tiefe Spuren hinterlassen. Das größte Trauma aber verursachten die Nazis, die sie gnadenlos verfolgten, in die KZs deportierten und ermordeten. Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ der Nazis erstellte Gutachten von Sinti und Roma, sie vermaßen ihre Schädel, bestimmten ihre Haar- und Augenfarbe, durchleuchteten ihre Familienverhältnisse. Sie erschlichen sich hinterlistig das Vertrauen von Kindern, um sie für ihre pseudowissenschaftlichen Studien zu missbrauchen, um die Menschen letztendlich zwangssterilisieren oder ermorden zu lassen. Nur etwa zehn Prozent aller deutschen Sinti überlebten den NS-Völkermord.

Die, die nach Deutschland zurückkamen, hatten alles verloren und wurden weiter geächtet und diskriminiert. Die Entschädigungsverfahren führten oft zu Retraumatisierungen. Ihr Leid ist viel zu lang geleugnet worden, erst 1982 wurde dieser Völkermord offiziell anerkannt. Anhand von Romeos Familiengeschichte lässt sich dieses Schicksal anschaulich illustrieren, nicht zuletzt, wie die Verfolgung einige Verwandte seelisch und körperlich krank gemacht hat. Allerdings waren viele seiner Angehörigen beeindruckend resilient und konnten sich trotz der schwierigen Erfahrungen ein neues Leben aufbauen. Romeos eigener Lebensweg ist ja auch eine erstaunliche Erfolgsgeschichte.

Abschließend, was hoffen Sie, dass Ihre Leserinnen und Leser aus der Lektüre von „Großonkel Pauls Geigenbogen“ mitnehmen und welche Diskussionen hoffen Sie mit Ihrem Buch anzustoßen?

„Die meisten Menschen wissen viel zu wenig über Sinti und Roma, und es ist erschreckend, wie tief der Antiziganismus bei vielen sitzt.“

Wir wollen mit unserem Buch aufklären und Vorurteile abbauen. Die meisten Menschen wissen viel zu wenig über Sinti und Roma, und es ist erschreckend, wie tief der Antiziganismus bei vielen sitzt und überhaupt nicht als solcher erkannt wird. Indem wir die Geschichte von Romeos Familie erzählen, erzählen wir auch über zahllose andere Sinti und Roma, über ihre Vielseitigkeit und Vielfalt, eine äußerst heterogene Minderheit Europas. Romeo und ich haben einen Dialog miteinander geführt, um dieses Buch entstehen zu lassen – eine „Gadji“, eine nicht-Sintitsa und ein Sinto. Damit wollen wir andere ermutigen, ebenfalls aufeinander zuzugehen, sich kennenzulernen und über die Begegnung Klischees entkräften.

Die Diskriminierung dieser Minderheit muss endlich enden, und das schaffen wir nur gemeinsam, indem wir uns biografisch über unsere Perspektiven austauschen. Dabei stellt man schnell fest, dass es zwar Unterschiede, aber eben auch sehr viele Gemeinsamkeiten gibt. Gerade in Zeiten des Rechtsextremismus ist das eine wichtige Aufgabe zur Stärkung unserer Demokratie. (mig) Aktuell Feuilleton Interview

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