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Lager für Geflüchtete in Afrika (Archiv) © de.depositphotos.com

Ein Jahr Sudan-Krieg

Die weltweit größte vergessene Flüchtlingskrise

Die Welt schaut auf Gaza und die Ukraine. Die weltweit größte humanitäre Krise ist aber im Sudan. Millionen leiden unter Gewalt, Hunger und Vertreibung. Internationale Bemühungen haben den blutigen Machtkampf dort bisher nicht beendet. Nun wurden zwei Milliarden Euro an Hilfe mobilisiert.

Dienstag, 16.04.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 16.04.2024, 9:39 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Bei einer Hilfskonferenz für den von Gewalt erschütterten Krisenstaat Sudan sind über zwei Milliarden Euro an Unterstützung zugesichert worden. Das sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montagabend zum Abschluss des internationalen Treffens in Paris. „Wir vergessen nicht, was im Sudan passiert und bleiben mobilisiert“, sagte Macron. Er sprach von einer der schlimmsten humanitären Krisen weltweit und dem Risiko einer Hungersnot. „Der Umfang unseres Engagements wird es uns ermöglichen, die dringendsten Bedürfnisse in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Wasser, Hygiene, Bildung und beim Schutz der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen abzudecken“, so Macron.

Angesichts von nicht enden wollender Gewalt und einer katastrophalen humanitären Lage im Sudan hatten Deutschland, Frankreich und die EU die internationale Gemeinschaft dringend zu mehr Unterstützung aufgerufen. „Wenn wir jetzt nicht als Weltgemeinschaft massiv gegensteuern, droht Sudan eine furchtbare Hungerkatastrophe. Im schlimmsten Fall könnten in diesem Jahr eine Million Menschen verhungern“, warnte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am Montag in Paris. Die Grünen-Politikerin fügte hinzu: „Wir machen heute deutlich, dass wir das Leiden der Menschen im Sudan nicht aus dem Blick verlieren.“

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Vergessene Krise auf der Tagesordnung

Hintergrund der Hilfe ist auch eine Warnung der Vereinten Nationen (UN)  im Februar dieses Jahres vor größeren Fluchtbewegungen Richtung Europa, wenn nicht genügend Geld zur Linderung der Not zusammenkommt. Hilfsorganisationen im französischen Calais verzeichnen bereits ein Anstieg von Geflüchteten aus dem Sudan. Die Vereinten Nationen veranschlagten eine Summe von 4,1 Milliarden Dollar (3,8 Milliarden Euro) für die Nothilfe im Sudan sowie in Auffanglagern in der Region. Baerbock zufolge sind bisher nur sechs Prozent der benötigten Summe zur Verfügung gestellt worden. Deutschland gibt nach Angaben der Bundesaußenministerin in diesem Jahr weitere 244 Millionen Euro für den Sudan und dessen Nachbarn. Frankreich versprach 110 Millionen Euro im laufenden Jahr, die EU-Kommission rund 355 Millionen Euro.

Der französische Außenminister Stéphane Séjourné sagte bei dem Treffen zahlreicher Minister aus der Konfliktregion und Europa am Jahrestag des Ausbruchs der Gewalt, die betroffenen Sudanesen seien zusätzlich Opfer des Vergessens geworden. „Wir setzen heute eine vergessene Krise auf die Tagesordnung.“

UN: Die größte Flüchtlingskrise weltweit

UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat ein Jahr nach Beginn des blutigen Machtkampfs im Sudan gemeinsame Anstrengungen für eine Feuerpause und ein Ende des Blutvergießens gefordert. „Der einzige Weg aus diesem Schrecken heraus ist eine politische Lösung“, sagte er am Montag in New York.

Der Machtkampf zwischen dem sudanesischen De-facto-Machthaber Abdel Fattah al-Burhan und seinem damaligen Stellvertreter Mohamed Hamdan Daglo hat in den vergangenen zwölf Monaten die mittlerweile größte Flüchtlingskrise weltweit ausgelöst. Nach jüngsten Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mehr als 8,6 Millionen Menschen innerhalb des Sudans und in den Nachbarländern auf der Flucht vor den Kämpfen zwischen der Regierungsarmee SAF und Daglos Miliz RSF. Selbst konservativ geschätzt stammt jeder achte Flüchtling weltweit aus dem Sudan.

Einem Bericht der UN-Organisation für Migration (IOM) zufolge werden täglich rund 20.000 Menschen im Sudan neu vertrieben. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert, der UN-Sicherheitsrat müsse das bereits für die Region Darfur geltende Waffenembargo auf das ganze Land ausweiten.

Machtkampf zweiter Generäle

Der Machtkampf hat zu einer deutlichen Verschlechterung der humanitären Lage im Sudan geführt, die laut Baerbock „einfach katastrophal“ ist. Man sehe die schlimmste Krise der Vertreibung von Kindern. Rund die Hälfte der Bevölkerung seien für ihr Überleben dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. „Dort sterben Tag für Tag Menschen, weil zwei rücksichtslose Generäle ihren Machtkampf auf dem Rücken der Bevölkerung austragen“, kritisierte sie.

In dem Konflikt werde zudem sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt. „Es sind Gräueltaten, die von Menschen betrieben werden, vor unseren Augen. Der Krieg geht nun in das zweite Jahr und gleichzeitig ist dieser Konflikt von unseren Nachrichten quasi ausgeblendet.“ Man müssen daher eine klare Botschaft aussenden: „Wir sehen ihr Leiden, wir sind uns dessen bewusst und wir wissen, welche Verantwortung wir tragen.“ Jedes Leben zähle gleich viel, ob in der Ukraine, in Gaza oder im Sudan.

Krieg gegen Frauen und Mädchen

Sofia Sprechmann Sineiro von der Hilfsorganisation Care bestätigt: „Das ist vor allem ein Krieg gegen Frauen und Mädchen“. So ist in einem Bericht von Experten an den UN-Menschenrechtsrat von Sklavenmärkten die Rede, auf denen unter anderem in Nord Darfur Frauen und Mädchen als Sexsklavinnen verkauft werden. In den Flüchtlingslagern im Südsudan oder im Tschad, in die Hunderttausende aus dem Sudan geflohen sind, berichten Betroffene von Vergewaltigungen in ihren Häusern, an Checkpoints, während der Flucht. Doch viele Überlebende sexueller Gewalt berichten nur andeutungsweise, was ihnen zugestoßen ist oder schweigen aus Scham – zu groß ist das kulturelle Stigma, zu groß die Angst, als „unrein“ von der Familie verstoßen zu werden.

Baerbock wies darauf hin, dass die Lage auch in den Nachbarstaaten des Sudans dramatisch sei. „Dort spielt sich gerade unter unseren Augen die größte Flüchtlingskrise der Welt ab“, sagte Baerbock. So platzten die Flüchtlingslager im Südsudan „im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Nähten“. Den Menschen fehle es praktisch an allem, es brauche „eigentlich vor allen Dingen auch psychologische Betreuung“.

Am 15. April 2023 fielen die ersten Schüsse

Begonnen haben die Kämpfe am 15. April 2023 in der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Zunächst dachten viele noch, die Krise werden in ein paar Tagen vorbei sein. Viele Menschen flohen mit dem Nötigsten. Gut eine Woche nach dem Beginn der Kämpfe fingen mehrere Staaten an, ihre Bürger und andere Ausländer zu evakuieren. Auch die Bundeswehr flog während einer Feuerpause Hunderte Menschen aus dem Sudan aus.

Inzwischen liegt Khartum nach Berichten von Augenzeugen in weiten Teilen in Trümmern. Die Kämpfe zwischen SAF und RSF haben sich in den vergangenen zwölf Monaten auf weite Teile des Landes erstreckt und in den vergangenen Wochen noch einmal deutlich intensiviert.

Massaker und niedergebrannte Dörfer in Darfur

Christos Christou, der Internationale Direktor von Ärzte ohne Grenzen, war vor wenigen Wochen in der westlichen Region Darfur. „Ganze Dörfer sind völlig niedergebrannt worden“, sagt er. „Die Menschen dort haben alles verloren, und sie erhalten keinerlei Hilfe.“ El Geneina in West Darfur sei nach zwei Massakern arabischer Milizen an der zur Volksgruppe der Massalit gehörenden Bevölkerung eine Geisterstadt. Flüchtlingslager seien überfüllt und auch die sogenannten Host Communities, Städte und Dörfer, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen, in großer Not.

„Die Bedingungen in Darfur sind ähnlich schlimm wie vor 20 Jahren während des Völkermords. Aber im Gegensatz zu damals bekommt Darfur kaum Aufmerksamkeit“, sagt Dominic MacSorley von der Hilfsorganisation Concern. „Die Krise hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, aber schon jetzt sterben Kinder.“

Drohende Hungerkatastrophe

Denn im Sudan droht nach Angaben von UN-Experten eine Hungerkatastrophe – umso mehr, seit die RSF im vergangenen Dezember in den Bundesstaat Jezira vorrückte, der wegen seines Getreideanbaus als Brotkorb des Sudans gilt.

„Viele Menschen haben nur noch eine Mahlzeit am Tag, wenn überhaupt“, so MacSorley. „Und die Frauen essen als letzte und am wenigsten.“ Mindestens vier Millionen Kinder unter fünf Jahren sind akut unterernährt. Nach Angaben des Welternährungsprogramms WFP gelten 18 von 49 Millionen Menschen im Sudan als von akutem Hunger bedroht. Der weltgrößten Flüchtlingskrise könnte die größte Hungerkrise der Welt folgen, warnt das WFP.

Bei der Konferenz in Paris ging es neben dem Sammeln von Hilfsgeldern auch um eine bessere Koordinierung der bisherigen Versuche, eine Lösung in dem gewaltvollen Konflikt zu finden. Séjourné sagte, man wolle einen Weg für einen dauerhaften Frieden und die Rückkehr zu einem demokratischen Prozess im Sudan ausloten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonte, auch die Zivilgesellschaft, von denen einige Akteure in Paris ebenso tagten, müsse dabei eine Rolle spielen. (dpa/epd/mig) Aktuell Ausland

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