Tobias Gehring, Soziolog, Flucht, Flüchtlinge, Afrika, Migazin
Tobias Gehring © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Zum Weltflüchtlingstag

Die verschwiegene Zuflucht in Afrika

Jahr für Jahr belegt das UNHCR die herausragende Bedeutung Afrikas als Zufluchtskontinent. Warum sprechen wir trotzdem von einem Exodus nach Europa?

Von Mittwoch, 19.06.2024, 11:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.06.2024, 17:20 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Jedes Jahr zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni veröffentlicht das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR seinen Bericht „Global Trends“, der einen Überblick über weltweite Fluchtmigration bietet. Wer des Englischen mächtig ist und eine Internetverbindung hat, findet dort statistische Daten, die zeigen: Fluchtmigration ist in erster Linie Süd-Süd-Migration. Trotz des Krieges in der Ukraine leben laut dem diesjährigen Global-Trends-Bericht 75 Prozent aller Flüchtlinge in „low- and middle-income-countries“ Asiens, Lateinamerikas und Afrikas.

Gerade im Fall Afrikas lohnt sich ein näherer Blick. Oft als Ausgangspunkt einer „neuen Völkerwanderung“ nach Europa dargestellt, ist Afrika tatsächlich einer der bedeutendsten Zufluchtskontinente. Gegenwärtig beherbergen insbesondere Länder in Zentral- und Ostafrika wie Uganda (1,58 Millionen), der Tschad (1,10 Millionen) und Äthiopien (0,98 Millionen) zahlreiche Flüchtlinge. Und in jüngerer Vergangenheit, zwischen 1975 und 2022, haben allein die Länder Subsahara-Afrikas deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen als jede andere Weltregion.

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Worüber wir sprechen, wovon wir schweigen

Doch Fakten wie diese fristen ein Nischendasein in öffentlichen Diskursen über afrikanische Fluchtmigration, die Afrika auf eine Position als Herkunftskontinent von Flüchtlingen reduzieren. Wir diskutieren in Talkshows über Fragen wie „Exodus aus Afrika – wer ist schuld?“, suchen Gründe für den „afrikanischen Flüchtlingsstrom, besonders nach Europa“ – und schweigen über Länder wie den Südsudan.

„Fast niemand flüchtete nach Europa. „

Über 2 Millionen Menschen sind aus dem ostafrikanischen Land, wo vor zehn Jahren ein Bürgerkrieg ausbrach, geflüchtet. Fast alle fanden Zuflucht in den Nachbarstaaten Uganda, Sudan, Äthiopien und Kenia. Fast niemand flüchtete nach Europa. Doch für solche Fluchtbewegungen innerhalb Afrikas gilt nach wie vor, was Marc Engelhardt 2015 im MiGAZIN konstatierte: „In Europa nimmt man davon keine Notiz.“

Oh, wie schrecklich ist Afrika

Wie aber kann es sein, dass öffentliche Diskurse die Position Afrikas im globalen Fluchtgeschehen derart verkennen? Warum halten sich Erzählungen von Völkerwanderung und Exodus, obwohl die meisten afrikanischen Flüchtlinge Afrika nie verlassen? Die geografische und soziale Distanz zu in Afrika statt in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlingen mag zweifellos ein Faktor sein, der die Aufmerksamkeit fort von ersteren, hin zu letzteren lenkt. Doch möchte ich vorschlagen, Diskursives zuvorderst mit Diskursivem zu erklären: die Ausblendung innerafrikanischer Fluchtmigration mit dem ins kollektive Wissen eingeschriebenen Stereotyp vom „Katastrophenkontinent“ Afrika.

„Den Kern des Stereotyps bildet eine pauschalisierende Darstellung Afrikas als allerorten vom Elend geplagter Erdteil.“

Den Kern des Stereotyps bildet eine pauschalisierende Darstellung Afrikas als allerorten vom Elend geplagter Erdteil: „Afrika als ,Inkarnation apokalyptischer Krisen, Katastrophen, Miseren etc.ʻ wird mit Phänomenen wie Korruption, ökonomischen oder militärischen Krisen, dem Genozid in Ruanda, Aids und Hungersnöten assoziiert“, so Ingrid Jacobs und Anna Weicker. Diskursbeiträge zu Fluchtmigration aus Afrika nach Europa bedienen dieses Bild in unschöner Regelmäßigkeit. „Afrikas demografische Katastrophe […] ist der eigentliche Motor hinter jenem ,biblischen Exodusʻ nach Europa, der jetzt allenfalls begonnen hat“, verkündet der Bayernkurier. Und die WAZ pflichtet bei: „Das wirtschaftliche Elend in Afrika nimmt zu, die Menschen stehen vor der Wahl: verhungern oder [im Mittelmeer] ertrinken.“

Gegensätze ziehen Flüchtlinge an

Zweitens wird mittels einer als othering bezeichneten Diskursstrategie der „Katastrophenkontinent“ Afrika als diametraler Gegensatz Europas konstruiert. „Afrika […] steht – explizit oder implizit – für das Gefährliche, Wilde, letztlich Irrationale“, schreibt der Afrika-Historiker Winfried Speitkamp. „Derartige Konstruktionen des ,Anderenʻ […] spiegeln europäische Selbstbilder von Modernität und Rationalität.“

„Ein Kontrast von Armut und Gewalt drüben, Wohlstand und Sicherheit hüben, übe eine unwiderstehliche Sogwirkung.“

Auch in populären Deutungen afrikanischer Fluchtmigration schlägt sich dies nieder. Ein Kontrast von Armut und Gewalt drüben, Wohlstand und Sicherheit hüben, übe eine unwiderstehliche Sogwirkung auf Abermillionen Afrikaner:innen aus. So bringt das Wissensportal Helles Köpfchen seinen jungen Leser:innen bei: „Weil sie ihrem Elend in Afrika entfliehen und an unserem Wohlstand teilhaben wollen, haben in den vergangenen Wochen tausende Afrikaner versucht, die[…] Grenze [der spanischen Exklave Ceuta] zu durchbrechen.“ Und was lesen Erwachsene beim Deutschlandfunk über Flüchtlinge? „Seit vielen Jahren versuchen sie, vor allem aus den Kriegs- und Krisengebieten in Afrika das sichere Europa zu erreichen.“

Doch die Rettung kommt von außen

Drittens und schließlich mündet das Stereotyp in die These, dass die Errettung aus der afrikanischen Not nicht aus Afrika, nicht von Afrikaner:innen kommen könne, sondern stets „the white manʼs burden“ war und ist. Darum kursieren in Diskursen über Entwicklung und humanitäre Hilfe noch immer klischeehafte Rollenmuster – „Schwarze als Hilfsobjekte, Weiße als strahlende Retter in der Not“. Und darum finden wir in Diskursen über Fluchtmigration die gleiche Rollenverteilung: Auf der einen Seite notleidende afrikanische Flüchtlinge, auf der anderen Seite europäische Seenotretter:innen, europäische Flüchtlingshelfer:innen.

„Schier unvorstellbar scheint für Patzelt, dass auch afrikanische Staaten afrikanische Flüchtlinge aufnehmen.“

Die Besetzung der Retter:innen-Rolle mit Afrikaner:innen sieht das Stereotyp hingegen nicht vor, ja, es macht sie nachgerade undenkbar. So prognostiziert der Politikwissenschaftler Werner Patzelt eine Massenmigration von Afrikaner:innen, die auf der Flucht vor ihrem Elend allesamt nach Europa ziehen: „Wohin auch sonst? Amerika ist etwas weit entfernt, der Mittlere Osten ist selbst ein Problemgebiet, und China ist eh schon voll besetzt.“ Schier unvorstellbar scheint für Patzelt, dass auch afrikanische Staaten afrikanische Flüchtlinge aufnehmen, ihnen eine Zuflucht bieten, sie, wenn man so will, retten könnten. Ein Land wie Uganda, das weltweit mit die meisten Flüchtlinge beherbergt, schafft es nicht einmal unter seine salopp verworfenen Alternativen zur alleinig verbleibenden rettenden Zuflucht in Europa.

Das Ungesagte sagen

Zu stark sind diese Parallelen, um sich als Zufälle abtun zu lassen. Sie künden von einem allgemeinen Erzählmuster: Dem „Katastrophenkontinent“ Afrika steht ein wohlhabendes, sicheres Europa gegenüber, das Afrikaner:innen rettet. Und sie zeigen dessen Übertragung auf den spezifischen Fall afrikanischer Fluchtmigration: Das Elend in Afrika wird zur Fluchtursache. Europas Wohlstand und Sicherheit machen es zum Ziel der Flüchtlinge. Und so ist Europa – nicht Afrika – die rettende Zuflucht. Das Stereotyp des Katastrophenkontinents trägt die Deutung afrikanischer Fluchtmigration als Völkerwanderung, schreibt sich darin fort.

Gleichsam eng verflochten sind dann aber auch die Gegenthesen zu der einen wie an der anderen faktenwidrigen Darstellung Afrikas und afrikanischer Fluchtmigration: Gerade weil Afrika kein „Katastrophenkontinent“ ist, gibt es in Afrika Länder, in denen Millionen Menschen Schutz und Zuflucht finden. Es gilt, dieses so oft Ungesagte öfter, lauter zu sagen. Meinung

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