Rezension zum Wochenende
Der Wille versetzt Berge – Aus dem Leben einer türkischen Gastarbeiterfamilie
Zwei Jahre schrieb Nuray Çeşme an der Geschichte ihrer Familie, herausgekommen ist ein wunderbar, emotionales Buch mit vielen rührenden Erinnerungen und Botschaften. Ganz nebenbei ist in dieser kleinen Geschichte auch ein großes Stück Migrationsgeschichte, die viele der etwa drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland mit ihr teilen.
Von Rukiye Çankıran Freitag, 14.10.2016, 8:19 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 16.10.2016, 12:56 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Nuray Çeşme ist das fünfte Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie. Sie wollte die Zeit mit ihrem Vater nicht verlieren und vergessen, nachdem dieser starb. Deshalb fing sie an zu schreiben. Mit Abständen hat sie zwei Jahre an der Geschichte ihrer Familie geschrieben. Es ist eine sehr persönliche, intime und emotionale Geschichte. Nichts Ungewöhnliches, aber dennoch sehr spannend, da der Leser die Bekanntschaft ihrer Eltern und Geschwister macht. Man könnte sagen: eine klassische Gastarbeitergeschichte, hunderten von Familien ging es wie der Familie Çeşme.
Die Eltern waren nach Deutschland gekommen, um ein besseres Leben zu finden als in ihrer Heimat, um die Armut zu überwinden. Es ist die Geschichte einer ganzen Generation, auf 200 Seiten niedergeschrieben aus der Sicht von Nuray Çeşme, geboren 1976 in Balıkesir, das liegt im Westen der Türkei. Die Familie stammt aus einem Dorf, das etwa zwanzig Kilometer von der Stadt liegt.
Die Autorin berichtet von der Heirat ihrer Eltern, den ärmlichen Lebensumständen im Dorf und den Hoffnungen, als in „Almanya“ Arbeiter gesucht werden. Sie beschreibt den Willen ihrer Eltern, etwas aus ihrem Leben zu machen, die Armut zu überwinden und ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten als sie selber haben. Dieser Fleiß zeichnete die Gastarbeitergeneration aus und die Dankbarkeit, eine Chance zu bekommen. „Meine Mutter hat später in einer Firma gearbeitet, ohne dass sie Deutsch konnte. Trotzdem ging es. Weil der Wille da war. Wie sagt man so schön? Der Wille versetzt Berge.“ So heißt auch das Buch. Dieser Wille ist der Motor, der Gastarbeiterfamilien Kraft und Motivation gegeben hat.
Die Autorin beschreibt, wie sie in ihrer Familie und der türkischen Community aufgewachsen ist. Sie erzählt von ihrer Unsicherheit und ihrer Scham, die sie begleitet, weil ihr Leben ganz anders ist als das von deutschen Kindern. Sie erzählt davon, wie ihre Familie Möbel vom Sperrmüll sammelt oder die traditionelle Lebensweise und strenge Erziehung der Mädchen auch in Deutschland aufrechterhält. Das alles schränkt Nuray Çeşme ein und sie stellt in der Schule fest, dass sie all die Märchen, die die anderen Kinder kennen, nicht kennt. Es macht sie traurig und grenzt sie aus. Während z.B. alle mit einer Schultüte in der Schule gestartet sind, hat Nuray Çeşme nur eine Aldi-Tüte.
„Die Schuljahre vergingen sehr schnell und es waren sehr schöne Jahre, aber aus meiner Klasse war Jasemin bis zu meinem achtzehnten Geburtstag die Einzige, die bei mir zu Hause zu Besuch war. Ich hatte mich auch für mein Zuhause geschämt, genau wie für die Aldi-Tüte. Wir hatten nun mal keine schönen Möbel und ich hatte kein eigenes Zimmer.“
Die Gastarbeitertochter macht eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten und wird später Bilanzbuchhalterin. Heute arbeitet sie als Abteilungsleiterin in einem Hamburger Konzern. Sie fühlt sich in Deutschland und auch in der Türkei zu Hause. „Ich lebe in Deutschland, bei meiner Familie ist Heimat. Ich bin Deutsch-Türkin.“ Ihr beruflicher Erfolg und ihre individuelle Motivation, die sie von den Eltern hat, machen sie aus. Sie ist voller positiver Energie und dankbar. Sie lässt den Leser teilhaben an ihrem Glück, Luxus und ihrer Zufriedenheit. Als sie ihr Traumauto kaufen möchte, einen BMW Cabrio, möchte Nuray Çeşme den Segen ihrer Mutter haben und bespricht ihren Wunsch mit ihr. Ihre Mutter sagt, sie soll das Leben genießen und das Auto kaufen. Ihre Eltern hatten dieses teure Autohaus gemieden, da sie sich solch einen Wagen nie hätten leisten können. „Meine Eltern hatten ihr Leben lang hart gearbeitet, sie waren nie im Restaurant, nie im Kino, nie im Theater… Das, was sie sich erarbeitet hatten, hatten nun wir, ihre Kinder. Und ein Teil davon war mein Cabrio.“
Die Bilanzbuchhalterin weiß woher sie kommt und ist stolz auf ihre Eltern und das, was diese erreicht haben. Sie weiß auch, dass ihre Eltern auf viele Dinge verzichten mussten, um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten. Sie beschreibt die Sparsamkeit und Bescheidenheit ihrer Eltern. „Meine Eltern sind als fleißige Arbeiter hergekommen und waren offen für alles, sie waren einfache Menschen, aber immer sehr herzlich und gütig.“ Das sind für die Autorin die Eigenschaften, die sie mit der Türkei verbindet: „offen, herzlich und großzügig, bei uns wurde der Esstisch immer für eine Person mehr gedeckt, damit ein spontaner Gast auch Platz findet und sich wohl fühlt.“
Aber auch typisch deutsche Eigenschaften kann Nuray Çeşme für sich definieren: „Deutsche sind strukturiert, geordnet und gut organisiert. Mein Alltag ist fast nur Deutsch. Ich mag, dass Deutsche ihre Liebe zeigen können. Das fällt den Türken schwer.“ Die Botschaft der Autorin und Powerfrau ist: „Wir Deutsche und Türken müssen mehr miteinander reden und mischen. Dann kann ein schönes Zusammenleben gelingen.“
Es macht Spaß, dass Buch von Nuray Çeşme zu lesen, da es sehr herzlich geschrieben ist, sehr offen und viele Gefühle benennt. Sie spricht über den Tod ihres Vaters, über ihren Schmerz und ihre Trauer. In allen Kapiteln gibt sie auch umfangreiche Informationen über Sitten und Bräuche des Heimatdorfes ihrer Eltern, so dass der unwissende Leser gleichzeitig aufgeklärt wird.
Mir hat am meisten das vorletzte Kapitel gefallen. Hier erzählt die vierzigjährige Autorin von ihrer Reise nach Neuseeland und Australien. Sie beschreibt ihr individuelles Gefühl von Freiheit und angekommen sein. Sie nimmt bewusst und dankbar ihr Leben an. „Ich war mindestens 16.000 Kilometer von zu Hause entfernt. Auf einmal merkte ich, wie mir die Tränen kamen. Nicht weil ich traurig war, nein, es waren Freudentränen.“ Sie denkt über ihr Schicksal nach und die vielen Entbehrungen, aber sieht auch das Glück, das ihr geschenkt wurde.
Viele Journalisten hierzulande betonen leider immer wieder gern die gescheiterte Integration der türkeistämmigen Migranten und setzten ihren Focus auf die Problemfälle und negativen Ereignisse. All die normalen Lebensläufe und glücklichen Familien mit ihren individuellen Schicksalen schaffen es selten, in den Medien zu erscheinen. Die Geschichte von Nuray Çeşme ist ein wunderbares Beispiel für eine gelungene Integration einer Gastarbeiterfamilie trotz vieler Schwierigkeiten in einem fremden Land und der Unterschiede zwischen den beiden Kulturen. Es lohnt sich, dieses rührende Buch zu lesen. Aktuell Rezension
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen