Ungleiche Potenziale
Studie verzerrt die Lage der Integration in Deutschland
Laut einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sind Türken mit Abstand die am schlechtesten integrierte Migrantengruppe. Seit Veröffentlichung der Studie scheint das weit verbreitete Vorurteil, Türken seien integrationsunwillig, bestätigt zu sein. Print- wie Rundfunkmedien heben das schlechte Abschneiden der Türken hervor und vermitteln, als sei die Herkunft ursächlich für das Abschneiden der jeweiligen Migrantengruppen. Bei näherer Betrachtung der Studie werden allerdings Verzerrungsfaktoren deutlich, die maßgeblich für die Resultate der Studie und das Ranking der Migrantengruppen sind.
Von Ekrem Senol Mittwoch, 28.01.2009, 14:54 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 28.08.2010, 17:57 Uhr Lesedauer: 16 Minuten |
Für die Auswertung wurde seitens des Instituts ein Katalog von zwanzig Indikatoren zusammengestellt und mit den Daten aus dem Mikrozensus 2005 ausgewertet. Dabei wurden die Ergebnisse aus dem Mikrozensus in Bewertungsschlüssel aufgeteilt, auf Grund derer eine Benotung von eins (schlecht) bis acht (gut) erfolgt.
Im Folgenden werden die einzelnen Indikatoren unter die Lupe genommen und augenscheinliche Verzerrungsfaktoren aufgeführt.
1. Bereich Assimilation
Staatsbürgerschaft
Die deutsche Staatsbürgerschaft ist laut Studie vor allem für Menschen, die nicht aus EU-Ländern kommen, eine Voraussetzung für die rechtliche Gleichstellung. Der Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und sozialen Leistungen ebne den Weg zur Integration erheblich. Gleichzeitig deute die Tatsache, dass jemand die deutsche Staatsbürgerschaft annehme, auf eine Identifikation mit der Bundesrepublik und damit auf den eigenen Integrationswillen hin.
Wie die Abbildung 1 verdeutlicht, schneiden hier die Aussiedler (8) am besten ab gefolgt von Afrikanern (6), den Migranten aus Ländern der 25 EU-Staaten (6). Migranten aus der Türkei belegen hier mit einer Bewertung von vier den sechsten Platz von acht miteinander verglichenen Migrantengruppen. Schlusslicht bilden Migranten aus Südeuropa und aus dem ehemaligen Jugoslawien mit dem schlechtesten Bewertungsschlüssel (1).
Verzerrungsfaktor 1
Was auf den ersten Blick wie ein relativ schlechtes Abschneiden der Türken ausschaut wird relativiert, wenn man in Betracht zieht, dass die Gruppe der Aussiedler bereits von Gesetzeswegen Deutsche sind. Bei ihnen bedarf es keiner Einbürgerung. Sämtliche Aussiedler (zu 100 %) werden im Mikrozensus bereits als Deutsche ausgewiesen. Ein Vergleich von Aussiedlern mit anderen Migrantengruppen, die nicht per Gesetz die Deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, ist daher nicht möglich und hätte auch nicht in die Gesamtbewertung einfließen dürfen.
Verzerrungsfaktor 2
Ein weiterer Verzerrungsfaktor ist der Vergleich von Türken mit Migranten aus den weiteren 25 Ländern der EU. Diese Gruppe umfasst Migranten aus Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Österreich, Polen, Schweden, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn, dem Vereinigten Königreich und Zypern. Zuwanderer aus Griechenland, Italien, Spanien und Portugal werden als Gruppe der „Südeuropäer“ gesondert betrachtet.
Hier werden zwei Migrantengruppen miteinander verglichen, bei denen die rechtlichen Voraussetzungen für die Einbürgerung nicht dieselben sind. Während Türken bei einer Einbürgerung in den deutschen Staatsverband die türkische Staatsbürgerschaft aufgeben müssen, dürfen Migranten aus den oben genannten 25-EU-Ländern ihre bisherige Staatsbürgerschaft bei Einbürgerung in den deutschen Staatsverband behalten. Berücksichtigt man, dass mit Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft im Einzelfall nicht unerheblich finanzielle Verluste drohen (beispielsweise Rentenansprüche) können, führt ein direkter Vergleich zu unbrauchbaren Ergebnissen und verzerrt das Gesamtergebnis zum Nachteil der Türken nicht unerheblich. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass nicht nur Migranten aus den EU-Staaten doppelte Staatsbürger werden können, sondern teilweise auch Migranten aus den Migrantengruppen naher- und ferner Osten mit denen die Bundesrepublik Deutschland ein Gegenseitigkeitsabkommen unterzeichnet hat.
Zieht man die Werte der Gruppe der Südeuropäer (Griechenland, Italien, Portrugal und Spanien) hinzu, die trotz der Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft sehr schlecht abschneiden (1), schneiden Türken mit einer Bewertung von vier vergleichsweise sogar gut ab und geben keinesfalls den Eindruck, dass durch das Gesamtergebnis der Studie suggeriert wird.
Bikulturelle Ehen
Bikulturelle Ehen zeigen laut Studie den Grad der Annäherung zwischen Menschen mit deutscher und nicht-deutscher Herkunft und seien daher ein Integrationskriterium. Auch hier schneiden Türken (1) – gemeinsam mit den Einheimischen – im Vergleich zu anderen Migrantengruppen deutlich schlechter ab.
Bei näherer Betrachtung werden allerdings auch hier Faktoren deutlich, die einen direkten Vergleich zwischen den einzelnen Migrantengruppen im Grunde verhindern. Insbesondere Bikulturelle Ehen entstehen nach langjähriger gegenseitiger Annäherung und gegenseitigem Austausch. Je näher sich Menschen aus unterschiedlichen Ländern kommen, desto häufiger entstehen Partnerschaften zwischen ihnen. Dieser Grundsatz führ zu einer Verzerrung in der Studie.
Verzerrungsfaktor 1
So haben Türken aus der Türkei im Gegensatz zu Migranten aus den o.g. 25 EU-Staaten – die mit einer Wertung von acht am besten abschneiden – und im Gegensatz zu Migranten aus vielen anderen Teilen der Erde nicht die Möglichkeit, sich innerhalb der EU frei zu bewegen. Während ein/e Japaner/in ohne Visum in die EU einreisen darf, muss ein Türke einen äußerst mühseligen Visumsantrag stellen, die zudem nicht selten abgelehnt wird. Ein ständiger Austausch oder Annäherung mit Deutschen ist für Türken aus der Türkei erheblich schwieriger als für einen Belgier, Dänen oder Franzosen.
Auch die möglichst restriktive Anwendung des bereits seit 1963 bestehenden Assoziierungsabkommens EWG, das die Türkei auf die EU-Mitgliedschaft vorbereiten soll, ist in weiten Teilen eher eine Abschottungs- als einer Annäherungspolitik.
Verzerrungsfaktor 2
Weiterhin verdeutlichen die Ergebnisse der Studie, dass selbst unter Migrantengruppen mit denselben Freizügigkeitsregelungen offensichtliche Unterschiede bestehen. Während Migranten aus den eher nördlichen 25 EU-Ländern auf eine Wertung von acht kommen, kommt die Migrantengruppe aus Südeuropa auf gerade einmal die Hälfte (4), was mit den kulturellen Unterschieden und unterschiedlichen Lebensweisen zusammenhängen dürfte. Dies macht sich auch bei den Türkischstämmigen bemerkbar, die nicht nur aus einem anderen Kulturkreis kommen sondern i.d.R. auch eine andere Religion haben, was sich insbesondere auf die Lebensweise auswirkt.
Ob Faktoren wie unterschiedliche Kultur und Religion, die gegenseitige Annäherung zwar verlangsamen aber grundsätzlich nicht verhindern, Rückschlüsse auf die Integrationswilligkeit der Migranten geben, darf stark bezweifelt werden. Je unterschiedlicher zwei Menschen sind und je größer die Entfernung zwischen ihnen, desto länger braucht die Annäherung. Dies steckt in der Natur des Menschen und dürfte kaum mit Willen oder Können im Zusammenhang stehen. So erklärt sich das Nord-Süd-Gefälle innerhalb Europas. Die temperamentvollen Südländer Europas gehen viel weniger eine Ehe mit einem/r Deutschen/in ein als Nordeuropäer.
Auch die dynamische Auswertung bikultureller Ehen unter den Deutschen und Türkischstämmigen in der zweiten Generation belegt dies deutlich: Während Bikulturelle Ehen unter allen Türkischstämmigen in Deutschland auf einen Wert von eins kommen, steigt dieser Wert in der zweiten Generation auf drei, was darauf hindeutet, dass Annäherung auch eine Zeitfrage ist.
Verzerrungsfaktor 3
Ein weiterer Verzerrungsfaktor sind Ehevermittlungen über das Internet. Einer Studie aus dem Jahr 2000 zufolge werden für den deutschen “Heiratsmarkt“ rund 70 % Frauen aus Osteuropa präsentiert, etwa 15 % Frauen aus Asien und ca. 10 % Frauen aus Lateinamerika. Familienzusammenführungsanträge aus dem fernen Osten zu deutschen Ehemännern gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung. Mit 2.535 Ehen im Jahre 2003 zwischen thailändischen Frauen und deutschen Männern ist Thailand beispielsweise die nur dritthäufigste an interethnischen Ehen in Deutschland beteiligte Nation. Die Zahl der Eheschließungen von deutschen Frauen mit einem Thailänder lag dagegen bei 26, was das offensichtliche Ungleichgewicht und die Intention der Eheschließungen zeigt. Diese Zahlen zeigen aber nicht einmal das tatsächliche Ausmaß. In der offiziellen Statistik tauchen nur Eheschließungen auf, die vor einem deutschen Standesamt oder in einem deutschen Generalkonsulat im Ausland geschlossen wurden (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung), im Mikrozensus dagegen werden alle Eheschließungen erfasst, die von den Befragten angegeben wurden.
In diesem Zusammenhang darf bereits die Eignung des Faktors „binationale Ehen“ als ein Integrationskriterium angezweifelt werden. Wenn Frauen aus den armen Regionen der Welt wie aus einem Versandhandelkatalog bestellt und ehelicht werden, dürfte dies wohl kaum Rückschlüsse auf den Integrationswillen zulassen. Insbesondere bei kleineren Migrantengruppen in Deutschland dürfte der prozentuale Anteil an Ehen aus dem Katalog einen nicht unerheblichen prozentualen Anteil am Gesamten ausmachen und darf nicht als Vergleich mit anderen Migrantengruppen herangezogen werden.
2. Bildung
Eine gute Ausbildung ist in einem hoch entwickelten Industrieland Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, so die Studie. Finanzielle Unabhängigkeit, Qualität des Arbeitsplatzes, Höhe des Erwerbseinkommens und gesellschaftliches Engagement stehen in engem Zusammenhang mit dem Bildungsstand eines Menschen.
Schaut man sich die Gesamtpunktebewertung der die Bildung betreffenden Faktoren (ohne dynamisch) einmal an, schneiden Türken erneut mit Abstand am schlechtesten ab. Allerdings sind auch hier einige Punkte anzuführen, die zeigen, dass auch diese Ergebnisse nur bedingt aussagekräftig sind.
Verzerrungsfaktor 1
Für den Bereich Bildung wurden Personen im Alter von 20 bis 64 Jahre erfasst. D.h., dass auch Migranten der ersten Zuwanderergeneration mit erfasst sind. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wäre ein besseres Abschneiden aller Türkischstämmigen in Deutschland überraschend. Die erste Generation der Türkischstämmigen, die Gastarbeiter, stammte ganz überwiegend aus ländlichen, strukturschwachen Gebieten und hatte häufig keinerlei Ausbildung. Sie waren zwischen 20 und 40 Jahre alt. In Deutschland angekommen sollten sie für eine vorübergehende Zeit arbeiten und wieder in ihre Heimat zurückkehren. Sprachkurse oder Fortbildungsmaßnahmen, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Daher verwundert es nicht, dass die Bildungsquote der Türkischstämmigen deutlich schlecht ausfällt.
Dieser Umstand deckt sich mit dem Grundtenor der Studie – Türken seien integrationsunwillig – nicht überein. Schaut man sich die dynamische Entwicklung (Kinder von Migranten) in punkto Bildung an, wird deutlich, dass insbesondere Türken am besten abschneiden und den größten Sprung hinlegen. Die guten Werte bei der dynamischen Bewertung für „Hochschulreife“ fließt in das Gesamtergebnis allerdings nur mit 1/20 ein, während die Bewertungen der 20 bis 64-jährigen mit einem Anteil von 4/20 einfließen, was das Gesamtbild äußerst negativ beeinflusst, obwohl unter den Türkischstämmigen ein deutlicher Trend hin zum Positiven vorhanden ist, wenn auch immer noch verbesserungsbedürftig.
Verzerrungsfaktor 2
Migrantenkinder haben es im deutschen Bildungssystem besonders schwer; sie sind mehrfach benachteiligt. Kinder aus sozial schwachen Familien (häufig Migrantenfamilien) müssen vergleichsweise mehr Leistung erbringen als deutsche Kinder, um eine Empfehlung für eine Realschule oder für das Gymnasium zu erhalten. Des Weiteren erhalten Zuwandererkinder aufgrund ihres Migrationshintergrundes eher eine schlechtere Empfehlung für eine weitergehende Schule. (Quellen mit weiterführenden Verweisen: hier, hier und hier).
Insbesondere die PISA-Studien haben erstmals quantitativ exakt belegt, dass Deutschland stärker durch Migranten unterschichtet ist als die anderen modernen Einwanderungsgesellschaften, wobei die tendenzielle Statuskluft bei den Einwanderern aus der Türkei besonders groß ist. In einigen europäischen Nachbarländern – Vereinigtes Königreich, Schweden, Norwegen, Frankreich – ist der Statusabstand höchstens halb so groß, und in Kanada, das seit drei Jahrzehnten eine durchdachte Migrationspolitik mit einer darauf abgestimmten Integrationspolitik betreibt, gibt es derartige Statusunterschiede kaum, was wiederum darauf schließen lässt, dass Erfolg und Misserfolg von Integration nicht davon abhängt, woher ein Migrant kommt.
3. Erwerbsleben
Indikatoren zur erfolgreichen Beteiligung am Erwerbsleben deuten laut Studie immer auf zwei Aspekte hin. Sie zeigen zum einen, ob eine Person gewillt ist, am wirtschaftlichen und damit auch am sozialen Leben teilzunehmen. Zum anderen lassen sie Rückschlüsse darauf zu, wie offen die Aufnahmegesellschaft gegenüber den Migranten ist. Türkischstämmige Migranten erzielen auch hier das weitaus schlechteste Ergebnis.
Verzerrungsfaktor 1
Die Ergebnisse dieser Indikatoren sind für sich betrachtet von großer Bedeutung und zeigen deutlich auf, wo Defizite sind und Handlungsbedarf besteht. Allerdings hängen sämtliche dieser Indikatoren mit den oben aufgezeigten Bildungsindikatoren zusammen. Mangelnde Bildung führt zu hohen Erwerbslosenquoten und zu wenigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in Vertrauensberufen.
Der Verzerrungsfaktor liegt darin, dass sämtliche Indikatoren der Gruppe „Erwerbsleben“ auf das Gesamtergebnis mit einer Gewichtung von 8/20 einfließen. Die damit zusammenhängende Indikatorengruppe „Bildung“ wird mit 5/20 gewichtet. Zusammen kommen die Indikatorengruppen „Bildung“ und „Erwerbslosigkeit“ auf eine Gewichtung von 13/20 im Gesamtergebnis. Die deutsche Staatsbürgerschaft hingegen fließt in das Gesamtergebnis mit nur einer Gewichtung von 1/20 ein.
Verzerrungsfaktor 2
Viele Vertrauensberufe sowie die Beschäftigung im öffentlichen Dienst setzen die deutsche Staatsbürgerschaft voraus, was zu einer weiteren Verzerrung bei Migrantengruppen führt, die es schwieriger haben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen als beispielsweise Migranten aus den EU-Ländern (siehe oben: Staatsbürgerschaft).
Verzerrungsfaktor 3
Die Nichtanerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen oder erlernter Berufe führt bei Personen aus Nicht EU-Ländern häufig dazu, dass sie trotz Berufserfahrung und Ausbildung in Deutschland als unqualifizierte Arbeitssuchende eingestuft werden und somit schlechte Aussichten auf eine Arbeitsstelle haben. Dieser Umstand trägt maßgeblich mit dazu bei, dass viele von ihnen ihre Berufe nicht als Selbständige ausüben dürfen. Dieser Problematik bewusst, werden aktuell auf Bundes- und Landesebene Gespräche über die Anerkennung von im Ausland erworbener Qualifikationen geführt. Diese Ungleichbehandlung von EU- und Nicht-EU-Bürgern fließt in die Studie allerdings nicht ein, so dass ein direkter Vergleich auch hier nicht möglich ist.
Verzerrungsfaktor 4
Der Indikator „Hausfrauenquote“ verzerrt das Gesamtergebnis mehrfach. Zum einen dürfte bereits fraglich sein, inwiefern die Entscheidung einer Frau für Familie und Kind darüber Auskunft geben kann, ob sie integrationswillig ist oder nicht.
Zum anderen werden Frauen, die sogar Akademiker sein können, in der Studie als Hausfrauen erfasst, wenn sie sich in Elternzeit befinden. Dieser Umstand führt zu einer deutlichen Verschlechterung der Ergebnisse zu Lasten von kinderreichen Migrantengruppen.
Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Personen besonders dann als integriert gelten, wenn sie dem Gemeinwohl dienen indem sie beispielsweise arbeiten und Steuern zahlen, was sich auch in die Gewichtung der vorliegenden Studie niederschlägt, müsste eine hohe Hausfrauenquote oder zumindest eine hohe Geburtenrate positiv auf die Gesamtbewertung einfließen und nicht umgekehrt.
Aufgrund des demographischen Wandels und der niedrigen Geburtenraten ist Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden. Nicht ohne Grund wurden in Deutschland nach und nach finanzielle Anreize für Familien geschaffen, ein Kind auf die Welt zu bringen. Hinzu kommen zahlreiche Verbesserungen der rechtlichen Rahmenbedingungen, damit Arbeits- und Berufsleben überhaupt möglich sind. Wenn Maßstab für Integration die Gemeinnützigkeit ist, dann darf eine hohe Hausfrauenquote nicht als Indiz für Integrationsunwilligkeit angesehen werden. Trotz zahlreicher Verbesserungen der letzten Jahre haben kinderreiche Familien in Deutschland weniger Geld zum Leben als kinderarme oder kinderlose Familien, obwohl sie zum Wohle der Allgemeinheit die Steuer- und Rentenzahler von morgen aufziehen.
Die von dieser Verzerrung am meisten betroffene Gruppe sind die Türken: Laut vorliegender Studie hat die Gruppe der Türkischstämmigen eine durchschnittliche Haushaltsgröße von 3,2 Personen. Migranten aus dem nahen Osten kommen auf eine durchschnittliche Haushaltsgröße von 2,7 und belegen den zweiten Platz. Schlusslicht sind die Einheimischen und die Migrantengruppe aus den 25 EU-Ländern mit einer Haushaltsgröße von jeweils 2,0.
Die hohe Hausfrauenquote verzerrt aus diesen Überlegungen heraus nicht nur das Gesamtergebnis, verkehrt sie auch noch ins Gegenteil.
4. Absicherung
Ein gesichertes eigenes Einkommen ermöglicht privaten Konsum und berufliche Investitionen. Dagegen sind Menschen mit keinem oder einem niedrigem Einkommen, laut Studie, in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Im Extremfall verursachen sie gesellschaftliche Kosten, weil sie vom Staat alimentiert werden müssen. Angesichts der miserablen Bildungsquote aller Türkischstämmigen und der hohen Erwerbslosigkeitsquote überrascht das Ergebnis im Bereich der Absicherung.
Verzerrungsfaktor
Trotz ungünstiger Voraussetzungen auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt scheinen Türkischstämmige ihre Absicherung besser im Griff zu haben als Migrantengruppen, die vergleichsweise höhere Bildungsgrade aufweisen und auch auf dem Arbeitsmarkt besser positioniert sind.
Daraus könnte man folgern, dass Türken trotz offensichtlich vorhandener Probleme im Erwerbsleben weniger Leistungen vom Staat in Anspruch nehmen als Migrantengruppen, denen es finanziell besser gehen müsste. Dieser Umstand fließt in die Gesamtbewertung der Studie mit nur einem Anteil von 3/20 ein, obwohl die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen in der Allgemeinheit als ein erheblicher Integrationsindikator angesehen wird. In den Grundtenor der Studie – Türken seien am schlechtesten integriert – fließt dieser Teilaspekt dennoch nicht ein.
5. Dynamische Indikatoren
Zugewanderte kommen aus den unterschiedlichsten Gründen und aus den verschiedensten Ländern und Lebenssituationen. Abweichungen zu den Einheimischen hinsichtlich vieler Merkmale, etwa dem Bildungsstand, sind damit programmiert. Die Unterschiede können auch bei einem längeren Aufenthalt in Deutschland nur allmählich und nur teilweise schwinden. Anders sieht es bei den hier geborenen Kindern der Zugewanderten (dynamisch) aus. Ihr Lebensmittelpunkt liegt in der Regel von Anfang an in Deutschland. Der wahre Erfolg der Integration einer Herkunftsgruppe wie auch der nationalen Integrationspolitik zeigt sich laut Studie in der Entwicklung dieser zweiten Generation. Daher messen fünf Indikatoren in verschiedenen Bereichen den Änderungsfaktor zwischen den Lebenslagen von Zugewanderten im Vergleich zu ihren in Deutschland geborenen Kindern.
Verzerrungsfaktor
Während 15 Indikatoren eine Unterscheidung nach Zugewanderten und in Deutschland Geborenen nicht vornimmt, fließen in das Gesamtergebnis lediglich fünf dynamische Indikatoren ein. Um die Entwicklung allerdings umfassend und ausgewogen zu präsentieren, wäre es wichtig und richtig gewesen, sämtliche Indikatoren auch hinsichtlich der dynamischen Entwicklung auszuwerten, um auch die Entwicklung in diesem Bereich ausreichend zu würdigen.
Das Gesamtbild über die angebliche Integrationsunwilligkeit türkischstämmiger Migranten verbessert sich bei der dynamischen Auswertung deutlich und entspricht nicht mehr dem Grundtenor der Studie, weshalb die unausgewogene Gewichtung zwischen den dynamischen und nichtdynamischen Indikatoren zu einer deutlichen Verzerrung des Gesamtergebnisses insbesondere zu Lasten der Türken führt.
6. Wer integriert wie gut?
In diesem Abschnitt der Studie werden die Werte der Integrationsindikatoren für die Bundesländer Deutschlands ermittelt. Dazu werden sämtliche Personen mit Migrationshintergrund, unabhängig von ihrer Herkunft, zu einer Gruppe zusammengefasst.
Auffällig ist bei dieser Auswertung das gute Abschneiden des Landes Hessen mit einer Gesamtbewertung von 4,71. Schlusslicht ist Saarland mit einer Bewertung von 3,43, was wiederum dem Grundtenor der Studie wiederspricht. Unterschiedliche Migrantengruppen sind nicht wegen ihres Herkunftes, der Ethnie oder Religion besonders gut oder schlecht integriert sondern aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen vor Ort. Anders lässt sich das Gefälle zwischen den Bundesländern nicht erklären. Dies wird noch einmal im Städtevergleich deutlich, wo München mit einer Gesamtbewertung von 5,94 deutlich besser abschneidet als Schlusslicht Duisburg (3,75).
7. Fazit
Die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung enthält viele nützliche Informationen und Auswertungen, um den aktuellen Integrationsstand zu erfassen. Einzelne Indikatoren geben Aufschluss darüber, wo Defizite besonders groß sind und wo die Herausforderungen für eine künftige Integrationspolitik liegen.
Allerdings sind einzelne Indikatoren nicht geeignet, den Integrationsgrad zu messen und sagen auch nichts darüber aus, ob eine bestimmte Migrantengruppe mehr oder weniger integrationswillig ist. Ein Indikator (Hausfrauenquote) verkehrt den Integrationswillen sogar ins Gegenteil.
Der Vergleich zwischen den Migrantengruppen ist wegen diversen Verzerrungsfaktoren und ungleichen Voraussetzungen nicht möglich. Die Zusammenfassung der Ergebnisse zu einem Gesamtergebnis mit einem Ranking der Migrantengruppen ist unbrauchbar und dürfte kaum den Integrationswillen widerspiegeln. Der mit diesem Vergleich einhergehende Grundtenor der Studie – Türken seien am schlechtesten Integriert – gibt einen äußerst negativen Beigeschmack und suggeriert, als seien die Integrationsdefizite oder der Integrationswille auf die Ethnie oder das Herkunftsland zurückzuführen. Dass dem nicht so ist, wird in der Studie beim Länder- und Städtevergleich zwar deutlich, die Medienlandschaft konzentriert sich dennoch auf die am wenigsten Aussagefähige Gesamtbewertung.
Bleibt zu hoffen, dass die Lehren und Handlungsempfehlungen aus der Studie beherzigt werden. Es ist höchste Zeit, den Zeigefinger nicht mehr auf einzelne Migrantengruppen, sondern auf die Defizite in der Integrationspolitik zu richten. Gesellschaft Meinung
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Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, diese Studie genauer zu beleuchten.
Es ist ja ein häufig gehörtes Argument, Türken seinen nicht integrationswillig. Dem argumentativ begegnen zu können ist sehr wichtig.
Vielen Dank für diesen Artikel. Auch ich wollte mir die gesamte Studie genauer anschauen, habe aber keine Zeit finden können. Die Punkte, die Sie darlegen, dürfen auch meiner Meinung nach nicht außer Acht gelassen werden.
PS: Machen Sie weiter so! ;-)
Evtl ein Verbesserungsvorschlag: Verbesserungsvorschläge! :D Manchmal angedacht, jedoch nicht durchgänging.
Sonst finde ich den Artikel ich auch sehr gelungen!