Integrationsstudie
Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung kritisiert Berlin-Institut
Bei der jüngsten Debatte zum Integrationsstand "der Türken" wurden wieder sozialwissenschaftliche Methoden eingesetzt, die der Lebenswelt und Sicht der Betroffenen wenig Platz einräumen, die wieder Ethnie und individuelle, messbare Schulleistung in einen direkten kausalen Zusammenhang stellt.
Mittwoch, 18.03.2009, 7:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.08.2010, 11:40 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Wir 1 meinen, dass gerade für Migranten das Zusammenspiel zwischen Potenzialen und Problemen in der Stadtgesellschaft sowie die Zugehörigkeit zu Milieugruppen unverzichtbare Grundlagen sind, um Perspektiven in die Debatte brennender politischer Probleme zu bringen, um der Stadt ihr Bestes zu suchen und nicht Vorurteile zu bedienen. Das gilt im Prinzip sowohl für demografische, ökonomische und ökologische Herausforderungen als auch für die entsprechende Forschung.
Vom Krisenszenario deutscher Stadtgesellschaften zu einer angemessenen Theorie urbaner Vielfalt
Migrantengruppen sind nicht das Problem an sich, sondern Teile unserer Gesellschaft, die in ihrer Breite Gewinner und Verlierer der Modernisierung kennt. Die größeren Städte in Deutschland bilden eine Gesellschaft in Vielfalt ab. Die Menschen sind in ihren sozialen, Generationen- und Kulturunterschieden mehr oder minder zwingend aufeinander angewiesen. Weder Stadtverwaltung, noch Wirtschaft oder eine vereins- und verbändegestützte Zivilgesellschaft können die in dieser Vielfalt nicht offen liegenden Potenziale im Alleingang erschließen.
Für aufgeklärte Städte stellen sich diese Alltagsstrukturen der Zuwanderung, Altersentwicklung und sozialer Unterschiede und Lebensweisen nicht als nationalstaatliches Krisenszenario dar, sondern als Handlungsfelder miteinander verknüpfter Akteure. Soziale Stadt heißt unter diesem Vorzeichen nicht die Sorge um Minderheiten, Randlagen und Problemquartiere sondern um die Prozesse und Verfahren („governance“), die den Zusammenhalt („cohesion“) und das Gemeinwohl („public value“) der gesamten Stadt sichern.
Die Hälfte der nachwachsenden Schulkinder in Städten haben Migrantenhintergrund, die Hälfte der Bevölkerung lebt jenseits vom Erwerbsleben und sie leben allein, und nur noch knapp die Hälfte bildet die Einkommensmitte der Stadtgesellschaft. Für die nationalstaatliche Sichtweise sind es andere „Fakten“: ein Drittel Migranten, ein Viertel Ältere usw. Rund um die Studie werden deshalb auch Klischees wiederholt: Berlin, Bremen etc. als Zuwanderungsbrennpunkte, während die realen Migrationszentren München, Stuttgart etc. sind. Die europäischen Stadtgesellschaften ähneln sich, die Menschen in ihren Städten „müssen ihr Leben führen und verstehen im Austausch und nicht länger in der Begegnung mit ihresgleichen“ (Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit, 2008, S.40) oder sie werden scheitern.
Von der individuellen Leistungsmessung zum Wirkungszusammenhang von Individuen, Milieus, Gemeinschaften und staatlicher Daseinsvorsorge
Deutschland diskutiert, weil eine Studie sagt: „Die Türken verweigern sich der Integration“. (WELT 1.2.09) Das Berlin-Institut lehnt sich an die spektakulären PISA-Studien an, errechnet Leistungsfaktoren wie Bildung, Assimilation, Erwerbsleben, Dynamik und Absicherung und kommt zu dem Schluss („Endbewertung“ heißt es dort), dass die Türken „halb so gut sind“ wie Aussiedler und EU-Zugewanderte. Die Presse hat die Botschaft wohl verstanden. Dort wurde getitelt „Bundesweite Studie ist alarmierend“. Der Spiegel titelt „Für immer fremd“.
Kommunale und nationale Politik wird zur messbaren Dienstleistung im nationalstaatlichen Handlungsrahmen. Die Berlin-Studie zu den Migranten geht diesen Weg – konsequent und unhistorisch. Alle Migranten werden verglichen bei höchst verschiedenen Startchancen. Beispielsweise hat die dritte Generation einer Zuwanderungsgruppe andere Bedingungen in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit als eine erste „Türkengeneration“ bei Daimler-Benz, die zwar schlecht deutsch sprach aber sowohl das Streikrecht wie die Kehrwoche neben einem Zehnstundentag perfekt beherrschten. Das hat alles mehr mit dem „deutschen“ Arbeitsmarkt zu tun als mit der „anatolischen Herkunft“.
Es schleicht sich der Eindruck ein, dass in der Studie Ursachen und Wirkungen verwechselt werden. Weil die nationale Politik nicht früher reagiert hat sowie konsequent und differenziert nach ethnischen Gruppen arbeitet und nicht mit den Städten kooperiert hat, werden jetzt die Folgen festgestellt und den Betroffenen in die Schuhe geschoben.
Von der Spaltung zur Wertschätzung und Anerkennung
Es gibt „die Türken“ nicht. Der Ansatz der vhw-Milieustudien zeigt, dass die Migranten sich ähnlich der deutschen Gesellschaft quer zu den Ethnien sammeln. Die Unterscheidung nach Herkunftsländern bzw. -kulturen ist nicht geeignet, der vielfältigen Lebenswirklichkeit und damit auch der Integrationsbereitschaft von Migranten gerecht zu werden. Die aktuelle Studie Migranten-Milieus verdeutlicht: Vielmehr entscheidet die Zugehörigkeit zu einer Lebenswelt, einem „Migranten-Milieu“ über Stand und Bereitschaft zur Integration bei Migranten.
Um in diesem Zusammenhang auf die Türken zurückzukommen: Sie sind hier sehr breit in allen Gruppen vertreten. Weniger als ein Fünftel von Ihnen zählt zum integrationsfernen religiös-verwurzelten Milieu und eine relative Mehrheit von 40% ist bürgerlichen und aufstiegsorientierten Milieus mit hoher Integrationsneigung zuzuordnen.
Entsprechend solcher Linien verläuft die Integrations- und Bildungserfolgsdebatte. Ein Teil der Deutsch-Türken „hängt“ in unteren Milieus fest: aber aus arbeitsmarktbedingten, ökonomischen oder religiös verankerten Gründen – nicht wegen ihrer „Nation“. Sie kommen gerade zu 4% (im Migrantendurchschnitt 14%) mit Hochschulabschlüssen im Alltag an und können ihren Kindern entsprechend schwerer Qualifikationen vermitteln. Die Deutsch-Türken als Ganze stimmen allerdings gleichzeitig in hohem Maße individuellen Leistungs- und Erfolgswerten zu – und hier unterscheiden sie sich auch nicht im Vergleich zu anderen Migrantengruppen. Tatsächlich ist das Element der Leistungsorientierung bei Migranten sogar stärker ausgeprägt als bei Deutschen. Bei der Identifikation mit Deutschland stehen sie als Ethnie anderen Migrantengruppen zwar leicht nach (75% zu 83%): Tatsächlich differenziert hier aber das Gegenüber von traditionellen und modernen Milieus stärker als die Zugehörigkeit zur Gruppe der Deutsch-Türken. Das Wertemuster der Deutsch-Türken ist sogar breiter als die Berlin-Institut-Studie erlaubt zu denken (Teilhabe wünschen sich etwa Türken wie andere Migrantengruppen auch über alle Milieus hinweg zu über 40%). Die Politik muss das für eine soziale Stadt nicht unwichtige Wertespektrum anerkennen und dieses hohe Potenzial der modernisierungsbereiten Deutsch-Türken stärken, statt sie in „einen nationalen Topf“ zu werfen. Und: sie muss Antworten finden, warum der Teilhabewunsch hierzulande nur zur Hälfte realisiert werden kann (20% Status Quo zu über 40% Potenzial).
Zugänge der Milieuforschung treffen die Wirklichkeit deutlicher. Noch einmal zum Widerspruch der Forschungsansätze. Der Berlin-Institut-Ansatz interessiert sich nur für das individuelle Ergebnis. Der stadtgesellschaftliche Milieuansatz fragt nach den Zusammenhängen, um zu besseren individuellen Ergebnissen zu kommen. Gerade am Beispiel der Deutsch-Türken gilt: Sie akzeptieren fast alle diese deutsche Gesellschaft mit ihren Leistungsansprüchen, aber es gelingt einigen Gruppen von ihnen und(!) den deutschen Institutionen nicht, ihren Kindern den weiterführenden Schulerfolgsanschluss zu ermöglichen.
Von der staatsorientierten Ausländerdebatte zu einem neuen Gesellschaftsverständnis
In isolierten Ressortforschungen lassen sich die Phänomene wunderbar eingrenzen – in der Wirklichkeit nicht. Mithin werden solche „Berlin-Studien“ nicht das Integrations- und Bildungsniveau „der Türken“ verbessern sondern eher eine „Absetzbewegung“ der Leistungsmilieus im deutschen und türkischen Bereich fördern. Türkische Privatschulen sind angesagt. Umzüge deutsch-türkischer Bürger aus den Schulsprengeln, um dem eigenen Kind eine Zukunft zu geben. Die Kommunen werden ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge und der Demokratiegestaltung nicht leisten können, wenn eine Gesellschaft – erst unsichtbar, dann auch sichtbar – zerfällt. Und die Kommunen müssen dort Antworten finden, wo Segregation sichtbar geworden ist. Es fehlt an Studien, die uns helfen zu verstehen, wie aus sichtbaren Initiativen, z.B. deutsch-türkischer Stadtteilmütter, ein Mehrwert für alle generiert werden kann. Wer gibt dem Gemeinwohl im Gemeinwesen eine Zukunft?
Von populistischen Forschungen an den Angsträndern unserer Stadtgesellschaften zur Neuvermessung der Sozialen Stadt
Interdependenz und Teilhabe machen die Stadtgesellschaften aus. Ein Entrinnen daraus gibt es nur um den Preis der Ausgrenzung, Spaltung oder Abwanderung. Der nationale Politik-, Forschungs- und Mediendiskurs verläuft entlang der individuellen Erfolgs- und Leistungskriterien und ignoriert die Wirkfaktoren, Abhängigkeiten, Zusammenhänge und letztlich auch Chancen für gemeinschaftsorientierte Lösungen.
Der vhw greift diese Entwicklung in Fortbildung und Grundlagenforschung auf und setzt sich für eine zeitgemäße Unterstützung der Bürgergesellschaft ein. Die vornehmste Aufgabe zukunftsorientierter Gesellschaftspolitik ist es, den oft unsichtbaren, virtuellen, aber höchst wirksamen Gleichgewichtspunkten solcher Stadtgesellschaften die gebotene Aufmerksamkeit zu schenken.
Es wird ein neues Bemühen der nationalstaatlichen Politik geben müssen, solches Vorgehen nicht zu behindern und intelligente Wege zu finden, durch eine ressortübergreifende Politik den Zusammenhalt von Gesellschaft in der Ausgewogenheit individuellen Förderns und Forderns bei gleichzeitiger Stärkung der Infrastruktur und demokratischen Teilhabe der Bürgerschaft zu fördern.
- Mehr zu der vhw-Migrantenstudie „Wie Migranten wohnen wollen„
- Einzelne Downloads zu: Lebenswelten der Migranten [pdf]
- Wohnsituation und Wohnwünsche der Migranten [pdf]
- Migranten-Milieus und lokales Engagement [pdf]
- Der vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. ist ein gemeinnütziger, unabhängiger Verband, der sich seit seiner Gründung vor fast 60 Jahren dafür einsetzt, dass der Bürger seine Vorstellungen von angemessenem Wohnen – vor allem durch die Bildung von selbst genutztem Wohneigentum – verwirklichen kann. Dieses Ziel ist nach Meinung des Verbandes Kern der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Wohnungs- und Städtebaus. Der Verband verbindet damit sein Anliegen, die Position des Bürgers am Markt durch eine nachfrageorientierte Wohnungs- und Städtebaupolitik zu aktivieren und zu stärken.
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Interessant ist es sehr, diese erhärtete Kritik an dem, was bisher von E. Senol und andere gemacht wurde. Aber hat das ohne Eindruck auf Studien-Wissenschaftler gemacht. Haben diese nicht gezeigt bisher ein Reaktion und warum nicht? Sehr konzentriehrt und ausführlich belegt, war das Artikel von Hans Werth, wo ich erst glaubte, es hat zuviel Kritik. Gerade beim Wohnen in deutscher Stadt, wo Werth so ganz kurz hartes Urteil gegen die Studien beleuchtet. Aber man hat gut nachprüfen in Zitate-Quellen, dass dort wunde Punkte wurden getroffen und viel Distanz ein objektives Sichtweise ihm ermöglicht und auch die Verzerrungen-Kritik von E. Senol das stützen. Aber bei allen bleibt Frage offen, warum ist deutsche Gesellschaft so kompliziert gegenüber türkischen Leuten mit Ausnahme in den Stadten Berlin und auch Groß-Frankfurt. Dort ist viel Mischung bei jungen Weltbürger. Aber sonst spürt man viel, sie die Inlandsbürger wollen nicht so gerne mit Menschen aus andere Länder leben? Wenn Senol und Werth so konsequent an Fakten bleiben, dann ist noch eine große Frage, warum so wenige diese Themen hier diskutieren. Es ist also auch Vorurteile in den türkischen Menschen die hier oft mit den Briefen an Diskussion mitmachen. Und Migazin hat auch ganz wichtiges Beiträge aus dem nicht mehr aktiv lebenden Jurblog nicht übernommen, gerade auch Gastkommentar sind dort viele wichtige für weitere Gespräch und Diskussionnen. Sie viel wichtiger sind als die viele Tagespresse, die viel kurze Argumente oft ohne tiefes Gründe haben. Verbinden Sie das intensive Artikel bitte noch viel deutlicher miteiander, wir brauchen viele gute Stimmen und machen Sie bitte das weiter so im Migazin mit positives Kritik.