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Sinus-Milieu-Studie

Große Vorurteile gegenüber Muslimen

Die von der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Martina Köppen, gestern in Berlin vorgestellte Sinus-Milieustudie "Diskriminierung im Alltag" offenbart dringenden Handlungsbedarf für eine diskriminierungs- und vorurteilsfreie Gesellschaft insbesondere gegenüber Muslimen.

Freitag, 03.04.2009, 7:17 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Der Studie nach verengt sich die Auseinandersetzung mit Benachteiligungen wegen der Religion oder Weltanschauung jedoch meist sehr schnell auf das überwertige Religionsthema und dabei auf den Islam und dessen Negativimage. Die typischen Assoziationsketten laufen nach folgendem Muster ab:

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Religion > Islam > Fundamentalismus > Terror

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Das heißt, beim Stichwort „Religion“ denkt man sofort an den „Islam“. Dieser wird spontan mit religiösem „Fundamentalismus“ in Verbindung gebracht. Und von diesem erwartet man in erster Linie Gewalt und „Terror“ – wie man es aus einschlägigen Medienberichten gelernt hat. Die Spielart dieser Engführung in den gehobenen Milieus des Leitsegments und der Mitte ist:

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Religion > Islam > rückständig > Unterdrückung der Frau > Zwangsheirat und Ehrenmord

Die Variante in den unterschichtigen Milieus, die die Zusammenhänge oft konkretistisch wahrnehmen und deshalb personalisiert darstellen:

Religion > Moslems > Türken > Ausländer > Bedrohung

Nicht viel anders verläuft die Assoziationskette im traditionellen Segment:

Religion > Moslems > Intoleranz > Hassprediger > Unterwanderung/Zerstörung unserer Kultur

Lediglich in den jungen Milieus gibt es alternative Denk-und Assoziationsmuster:

Religion > uncool > Islam >

  • Mittelalter > unzeitgemäß > Aufklärung nötig
  • Fanatiker, Spinner > unsympathisch > Distanzierung

Auch Statements zum Thema Religion sind besorgniserregend. So sind 39 % der Ansicht, dass Muslime intolerant und gewalttätig sind und lediglich 55 % finden es nicht in Ordnung, dass nach jedem Terroranschlag als erstes die Muslime verdächtigt werden. Wenger als die Hälfte der Befragten ist für eine Gleichstellung nichtchristlicher Religionsgemeinschaften (z. B. Juden oder Muslime mit den christlichen Kirchen. 41 % sprechen sich für die Aufhebung des Kopftuchverbots aus und etwa jeder Dritte möchte mehr über fremde Religionen und Glaubensgemeinschaften wissen. Für „Religiöser Eifer passt nicht mehr in unsere heutige Zeit.“ stimmten 79 % der Befragten und 59 % sind der Ansicht, dass Religionen keinen staatlichen Schutz verdienen, weil Religionen Andersgläubige diskriminieren.

Gleich in mehreren Milieu-Segmenten hält man Diskriminierung, die Anhänger fremder Religionen treffen – Muslime, für gut verständlich, wenn nicht sogar für gerechtfertigt („Muslime würde ich diskriminieren, das Drecksvolk!“). Gleichzeitig wird bestritten, dass in Deutschland Menschen wegen ihrer Religion diskriminiert werden („Ich wüsste niemanden …“; „In Deutschland herrscht Religionsfreiheit“).

Erklärbar sind solche Widersprüche der Studie nach nur durch die massiven Ängste, von der wachsenden Zahl der Moslems im Land „überrollt“, „überrannt“, „unterwandert“ oder „eingenommen“ zu werden. Vor allem in den Milieus der „Konservativen“ und „Traditionsverwurzelten“ geht man davon aus, dass der Islam nicht „friedfertig“ ist, sondern seine „rückständigen“ Vorstellungen, Normen und Gebote den Einheimischen mit Gewalt aufzwingen will („Da entsteht was, da wird was ausgebrütet, wir wachen erst auf, wenn alles unterwandert ist“). Entsprechende Verschwörungsszenarien werden gelegentlich auch in den anderen Milieus ausgemalt (skurriles Beispiel: „Die Diskriminierung der Frauen in unserem Land ist durch die Moslems eingeschleppt worden“).

Frauenunterdrückung
Insbesondere weibliche Befragte kommen im Zusammenhang mit dem Thema Religion oft auf das „Leiden der moslemischen Frauen“ zu sprechen, schwankend zwischen Mitleid und Empörung („Mir tun die türkischen Frauen unendlich leid, die geschlagen werden, zwangsverheiratet werden, Kopftuch tragen müssen“; „Meine türkische Freundin, die von den Eltern geprügelt wird – das ist der Hammer!“).

Die den Anhängern des Islam zugeschriebene vormoderne Lebensform der Frauenverachtung, der Gewalttätigkeit und des Machotums wird scharf kritisiert, was nicht selten in heimliche oder offene Sympathie für drastische Gegenmaßnahmen mündet („Wir leben hier in Deutschland, da kann nicht jeder machen, was er will, da muss Zwang ausgeübt werden“). Unabhängig von der gefühlten Bedrohung durch den Islam lehnt man öffentlich sichtbares religiöses Engagement ab und rückt es in die Nähe von „Fundamentalismus“ und „Fanatismus“.

Aufgrund dieser Ergebnisse bestehe, so die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Martina Köppen, u.a. in Bezug auf religiöse Minderheiten „noch Aufklärungsbedarf“.

Antidiskriminierungsstelle muss Anwältin der Betroffenen sein
Volker Beck und Irmingard Schewe-Gerigk (Die Grünen) sehen das ähnlich und kritisieren die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Sie stelle sich selbst ein Armutszeugnis aus. Laut der heute veröffentlichen Sinus-Milieustudie kennen nur 34 Prozent der Befragten das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Es würden demnach sehr viele falsche Vorstellungen über die reale Situation bei Diskriminierungen in Deutschland ebenso wie über die bestehende Gesetzeslage grassieren.

„Zu den gesetzlichen Aufgaben der Antidiskriminierungsstelle gehören ausdrücklich die Öffentlichkeitsarbeit über das Problem Diskriminierung und Aufklärung über die gesetzlichen Regelungen. Davon war bislang in der Öffentlichkeit wenig zu sehen. Die Leitung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat sich vielmehr absolut leisetreterisch verhalten. Sie hätte lieber den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern suchen sollen, als Hinterzimmerbündnisse mit der Wirtschaft anzustreben.“

Die Grünen fordern daher, die Studie als Anlass zu nehmen für einen deutlichen Kurswechsel in der Politik der Antidiskriminierungsstelle. Die Antidiskriminierungsstelle müsse Anwältin der von Diskriminierung Betroffenen und Bedrohten sein, anstatt selbst Vorurteile gegen Antidiskriminierungsgesetzgebung nachzubeten.

Antidiskriminierungsstelle warnte vor Verschärfung des AGG
Gemeint ist ein öffentlicher Diskurs mit Köppen Mitte 2008. Pläne der Europäischen Union zum Schutz vor Diskriminierung alarmierten damals die Wirtschaft. Die EU-Kommission wollte einen Richtlinienentwurf vorlegen, der das deutsche Antidiskriminierungsgesetz deutlich verschärfen sollte.

Geplant war ein Verbot jeglicher Benachteiligung von Bürgern im Geschäftsverkehr aufgrund von Alter, Religion, sexueller Orientierung oder Behinderung. Die Folgen des Richtlinienentwurfs reichten von Einschränkungen für Wohnungsbaugesellschaften bei der Mieterauswahl bis hin zu Pflichten für kleine Einzelhändler. Außerdem ist der zivilrechtliche AGG-Schutz auf „Massengeschäfte“ – Geschäfte, die üblicherweise ohne Ansehen der Person geschlossen werden – beschränkt. Diese Beschränkung drohte bei einer neuen EU-Regelung ebenfalls zu fallen.

Eine Warnung Martina Köppens Anfang Juni 2008 vor einer Ausweitung des Diskriminierungsschutzes durch die EU hatte damals für Verwunderung und Ärger gesorgt. „Eine stärkere Regulierung und eine weniger strenge Definition des Begriffs Diskriminierung wären ein Schlag für die Wirtschaft“, hatte Köppen in der FAZ erklärt und sich damit hinter Angela Merkel gestellt, die sich ebenfalls gegen die geplanten Verschärfungen ausgesprochen hatte. Daraufhin warf man Köppen vor, sich gegen eine Verbesserung des Diskriminierungsschutzes auszusprechen, obwohl sie diejenige sein müsste, die eigentlich vor Diskriminierungen schützen müsse.

Überflüssig und Kriesenverschärfend
Als „überflüssig und krisenverschärfend“ hat gestern auch die Europaministerin Emilie Müller (CSU) den Beschluss des Europäischen Parlaments zur Verschärfung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie mit ähnlichen Argumenten wie Köppen kritisiert: Der „Beschluss des Parlaments ist ein falsches Signal der Überregulierung und Bevormundung. Deutschland hat bereits einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung. In der derzeitigen sehr schwierigen wirtschaftlichen Situation ist es absolut inakzeptabel, den Unternehmen zusätzliche bürokratische Lasten aufzuerlegen.“

Müller ergänzte, Brüssels Bürokraten müssten endlich verstehen, dass „Regelungswut nicht der richtige Weg aus der Wirtschaftskrise“ ist und forderte: „Die Antidiskriminierungsrichtlinie muss jetzt endgültig vom Tisch.“ Müller forderte die Bundesregierung auf, im Rat ihr Veto einzulegen, um die Richtlinie noch zu stoppen. (MiG, es) Gesellschaft Studien

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