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Meinung

„Törichter Pessimismus“ oder was will der Lissabon-Kläger Gauweiler wirklich?

Der Bürger, MdB Dr. P. Gauweiler, erhebt Verfassungsbeschwerde ((2 BvR 1010/08)) wegen Verletzung seiner persönlichen Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte (Art. 20 Abs. IV GG) und Organklage (Art. 93 I Nr. 1 GG) ((2 BvE 2/08)), weil seine Statusrechte als Abgeordneter (Art. 38 GG) durch Ergänzung des Artikel 45 GG verletzt würden und weil Abhilfe nach Artikel 20 Abs. IV GG wegen Verletzung der mit Artikel 79 III GG gesetzten Grenzen jetzt durch das Gericht erforderlich sei. Dies sei letztlich im Recht auf „Widerstand nach Artikel 20 GG“ begründet.

Von Dienstag, 30.06.2009, 12:45 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 27.01.2011, 9:48 Uhr Lesedauer: 19 Minuten  |  

Nur vollständigkeitshalber sei angemerkt, dass eine hier nicht zu erörternde Klageumstellung im Herbst 2008 erfolgte. Im Übrigen hafte dem gesamten procedere der „Begleitgesetzgebung“ (nebst Änderungen der GOen von Bundestag und Bundesrat) des Deutschen Bundestages der Mangel an, dass diese nicht ausreichend und angemessen im Deutschen Bundestag beraten und der exakte Vertragstext nicht vorgelegt worden sei. Im Wesentlichen werden dabei nahezu identische Begründungen sowohl für die Verfassungsbeschwerde als auch für die Organklage verwendet.

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Ziel ist, um es kurz zu formulieren, den gesamten Vertrag von Lissabon (nachfolgend „Lissabon“ genannt) für Deutschland abzulehnen. Damit würde der umfangreiche „Reformvertrag Lissabon“ in der Europäischen Union nicht rechtskräftig, solange nicht alle Mitgliedsstaaten vorbehaltlos zustimmen. Nach Auffassung der Kläger sind das vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates, beschlossene Zustimmungsgesetz zu „Lissabon“ nebst Begleitgesetze, nicht verfassungskonform bzw. grundgesetzwidrig. Die eintretenden Änderungen in deutschen Rechtsverhältnissen „zugunsten“ der Europäischen Union überschreiten die im Artikel 79 Abschnitt III gesetzten Grenzen, wenn originäre Zuständigkeiten bzw. Kompetenzen nicht mehr beim gesetzgebenden Bundestag und Bundesrat nebst anderen Verfassungsorganen liegen, sondern auf die Europäische Union übertragen würden. Künftig sei deshalb auch nicht mehr das Bundesverfassungsgericht, sondern der Europäische Gerichtshof entscheidende Instanz. Deshalb fordern die Kläger, die vom Bundestag beschlossenen Gesetze nach Artikel 23 Abs. I S. 3 GG, aufzuheben. Fundamentalkritiker bezeichnen „Lissabon“, unter vieldeutiger Anspielung auf historische Vorgänge vor 1945, als “Ermächtigungsgesetz“, das schon deshalb ungeachtet der Details abzulehnen sei.

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Zum beklagten Beratungs- und Abstimmungsprocedere gibt es das „Eingeständnis“ des Klägers in „Der Spiegel“, dass im Bundestag zu viel Zurückhaltung der Abgeordneten 1 bestehe. Diese Zurückhaltung ist vielleicht Ursache für die jetzt beklagte auf mangelhaften Unterlagen beruhende reduzierte Erörterung, was weder Protokolle 2 noch die zu Protokoll gegebene persönliche Erklärung 3 im Bundestag erkennen lassen. Erstaunlich auch, nachdem nicht zuletzt Bayerns Positionen („überzeugte Verfechter … und aufmerksame Wächter“) 4 im Bundesrat Gehör und in Gesetz und verbindlichen Absprachen zwischen Bundesrat und Bund immerhin Widerhall fanden. Waren bisher 1/3 der Stimmen des Bundestages für Minderheitenrechte notwendig, so sind jetzt dafür in allen Fällen nur 1/4 aller Stimmen notwendig, was gegen die beklagte Verschlechterung des Abgeordnetenstatus im Bundestag im Zusammenhang mit „Lissabon“ spricht. Die Einwände mehrerer Kläger, das Vertragswerk sei „fast unlesbar“ (24.04.2008), nur mit dem Vorvertrag verständlich jedoch nicht konsolidiert vorgelegt worden, verwundern, denn die Beratungen im Bundestag fallen bekanntlich nicht plötzlich ins Plenum.

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MdB P. Gauweiler ist mit Prozessvertreter, Prof. Dietrich Murswiek und Gutachter Prof. Karl A. Schachtschneider, nicht allein in dieser Klagesache. Weitere Kläger sind der Bundesvorsitzende der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), Prof. Klaus Buchner 5 mit Prozessvertreter RA Langgartner und MdB Dr. Dieter Dehm 6 mit 52 weiteren Abgeordneten mit Prozessvertreter Prof. A. Fisahn (Uni Bielefeld) 7, sowie der frühere Thyssenchef Dieter Spethmann und der Dipl.Ökonom Prof. (em.) Joachim Starbatty („Euro-Gegner“). Zuletzt reichte der Jurist, Prof. Markus Kerber als Prozessvertreter und Schriftsatzersteller der Gruppe um Franz L. Graf von Stauffenberg (ehem. CSU-Europaabgeordneter und Vorsitzender des EP-Rechtsausschuss) 8 Klage ein 9. In anderen europäischen Hauptstädten lösten die Klagen Verwunderung aus, 10 als man dort angesichts der Wirtschaftskrise gerade den „Segen des Euro“ lobte. Die Beteuerungen der Euro-Skeptiker, dass die Kläger im Prinzip für die EU seien, werden dort in Erinnerung an das EU-Engagement deutscher Bundesregierungen zumindest teilweise bezweifelt.
Ob die Klage der Fraktion Die Linke (52 Abgeordnete) formalen Anforderungen für das Bundesverfassungsgericht standhalten kann, weckt Zweifel („Gruppenbeschwerde“ weil die Anzahl fürs „abstrakte Normenkontrollverfahren“ fehlt?).

Für den Bundestag sind als Prozessbevollmächtigte und Gutachter Prof. Franz C. Mayer (Uni Bielefeld / Berlin) und Prof. Ingolf Pernice (HU Berlin), Prof.(em.) Christian Tomuschat (HU Berlin) sowie der Vorsitzende des Europaausschuss des Bundestages, MdB Gunther Krichbaum (CDU), Jurist, sowie für die Bundesregierung ergänzend dazu Bundesinnenminister Dr. W. Schäuble (CDU) und Außenminister Frank W. Steinmeier (SPD), zu erwähnen.

Die nachfolgenden Bemerkungen sind weder systematisch noch können die Verfahren formal und inhaltlich im pro und contra vollständig wiedergegeben oder gar alle involvierten Personen genannt werden. Das juristische Scharmützel hat eine sehr hohe politische Dimension, gleichwohl die Richter ausschließlich juristische Sachverhalte prüfen. Prozessvertreter und Gutachter sind ausnahmslos dem Kreis, der die sog. herrschenden Meinungen abbildet, zuzurechnen und außerdem Autoren und Kommentatoren des EU- und Verfassungsrechts. Eine handelsübliche Warnung hierzu sei erlaubt: Deren spannenden Materialien können süchtig machen …

Die Organklage des Bundestagsabgeordneten P. Gauweiler wegen des Zustimmungsgesetzes zu „Lissabon“, erhebt den Vorwurf, dass mit dem „Integrationsprozess die Grenze überschritten“ sei, die „das Grundgesetz der Übertragung von Hoheitsrechten setzt“. Die Integration der Bundesrepublik in die EU höhle damit z. B. die Hoheitsrechte der Staatsorgane entgegen dem Schutz des GG (Art. 79 Abs. III) bis zur „Entstaatlichung“ oder „Entleerung“ aus. Vereinfacht formuliert bedeutet der Vorwurf, durch den sog. ‚Lissaboner Reformvertrag’ würden originäre verfassungsmäßige Rechte der Mitgliedsstaaten weitgehend ausgehebelt. Letztlich verlören dadurch nicht nur gesetzgebende Organe der Mitgliedsstaaten ihre Funktion. Selbst deren letztinstanzliche Gerichtshöfe würden quasi zu Erfüllungsgehilfen des EuGH, was am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts beschrieben wird. Dem ist vorweg entgegenzuhalten, dass die Sicherung des Art. 79 Abs. III GG aus der unheilvollen Geschichte 1933-1945 folgt, wie vom Bundesverfassungsgericht bereits anderweitig festgestellt wurde und dieses Klagevorbringen gegen die „tiefere“ europäische Integration als kaum als tauglich gesehen wird.

Wenn die Kläger indirekt bereits den Beitritt zur EWG/EG/EU insoweit infrage stellen, als sie der EU letztlich durch „Lissabon“ den Status eines föderalen Bundesstaat unterstellen und darin die Auflösung des Rechtsstatus der Bundesrepublik und seiner Bundesländer 11 gesehen wird, ist das, für sich allein genommen, als formaljuristisches Scharmützel dank Grundfreiheiten legitimerweise hinzunehmen. Prozesstaktik für ein Referendum? Ein Weg, um evtl. anderweitig postulierte „Volksabstimmung“ zu forcieren? Um die indirekt beklagte Ratifizierung des EU-Beitritts und seiner ausschließlich durch repräsentativ handelnde Verfassungsorgane anerkannten Rechtsfolgen letztlich zu Fall zu bringen? Es ist schon die Frage bedenkenswert, ob die heutigen Anti-EU-Reformer in Wahrheit die EU-Gegner von morgen sind.

Wer das Ende „existenzieller Staatlichkeit“ insinuiert, im Stillen vielleicht sogar erhofft, verbindet vielleicht damit Vorstellungen, das im Sinne von Artikel 146 „vorläufige“ Grundgesetz durch eine neu formulierte Verfassung anderen Inhalts per Referendum ersetzen zu können. Das ginge sicher leichter, wenn Lissabon zuerst als grundgesetzwidrig abgelehnt und damit für Deutschland auch die EU stark relativiert würde. Denkbar ist allerdings auch als Spruch des Bundesverfassungsgerichts ein Referendum zu Lissabon, begründet durch Artikel 146. Das würde anderen Überlegungen einen Riegel vorschieben, möglicherweise auch die Urteilskraft der Wähler, wie im von EU-Vorteilen gesegneten Irland, strapazieren.

  1. „Duckmäusertum“, Der Spiegel, 10.04.2009, SPON
  2. 19 DBT-Protokolle mit Bezug auf „Lissabon“ ohne Wortbeiträge des Klägers
  3. nach GOBT § 31; Protokoll 16/157 24.04.2008 S. 16609-16611
  4. CSU-Fraktionsbericht 2008, S. 76
  5. 2 BvE 5/08
  6. 2 BvR 1259/08
  7. 2 BvE 5/08 und 2 BvR 1259/08
  8. 2 BvR 182/09
  9. Lesenswert: TAZ, 11.02.2009, Linke im Schatten Gauweilers http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-im-schatten-gauweilers/; vgl. auch Handelsblatt, 27.01.2009, „Neue Klage gegen EU-Vertrag von Lissabon“; Euro- (und EU-)kritisch: Wilhelm Hankel / Wilhelm Nölling / Karl Albrecht Schachtschneider / Joachim Starbatty, Die Euro-Klage -Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek: Rowohlt 1998, S. 303
  10. französisches Magazins „L’Express“, Christophe Barbier im französischen Fernsehen „Segen des Euro’s“; W. Hutton: mangels Euro „Kapitalflucht in Großbritannien“, The Observer, 16.11.2008
  11. = „… existenzielle Staatlichkeit weitgehend … beenden …“, Schriftsatz im Klageantrag des MdB Gauweiler gegen das Zustimmungsgesetz, 23.05.2008, erstellt von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
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