Migranten-Milieu Studie
Die Richtung stimmt – aber der Weg führt noch weiter
Der individualisierte Blick auf eine innere Vielfalt scheint das Privileg der Mehrheitsgesellschaft zu sein, während die Einwanderungsgesellschaft als eine Komposition ethnischer Kollektive gilt, die sich scheinbar ganz ohne interne Diversitäten und Individualitäten, ohne grenzüberschreitende kulturelle Dynamiken arrangiert.
Von GastautorIn Freitag, 06.11.2009, 10:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 16:23 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
An diesem Bild der fremden, traditionsorientierten Minderheiten am Rand und der modernen, differenzierten und pluralen Mehrheitsgesellschaft im Zentrum ändert auch die statistische Neufassung der Verhältnisse in Bürger mit und ohne Migrationshintergrund wenig. Zwar stehen damit nicht mehr „Ausländer“ verschiedener Nationalitäten „den“ Deutschen gegenüber. Dafür lässt sich jetzt aber auch innerhalb der Bevölkerung mit deutschem Pass eine nationale „Kerngruppe“ (die Deutschen ohne Migrationshintergrund) von eingewanderten, eingebürgerten oder „Options“-Deutschen unterscheiden. Auch hier muss gefragt werden: Was genau sagen diese Unterscheidungen aus über die Vielfalt der sozialen Lagen, der Kulturen und Identifikationen in den Einwanderungsmetropolen? Ja, was eigentlich?
Zugespitzt formuliert, handelt es sich hier um den eher hilflosen Versuch, am nationalstaatlichen Ordnungsprinzip eines territorial und kulturell verankerten, langfristig sesshaften „Staatsvolks“ festzuhalten gegenüber einer zunehmenden Zahl von mobilitätserfahrenen, weltläufigen Bürgern – und diese Ordnung gegen jede Wirklichkeit weiterhin zur Grundlage der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung, aber auch zur Grundlage von „Integrations“-Politiken aller Art zu machen.
Das Konzept der „Milieus“ weist in eine andere, in die richtige Richtung: weg von den statischen Kategorien der „Herkunftsgruppen“ und hin zu beweglichen sozialen und kulturellen Formationen, die sich entlang von ähnlichen Lebensstilen, Geschmackskulturen, Weltanschauungen herausbilden. Die Studie „Migranten-Milieus“ hat dazu grundlegende Befunde geliefert: Sie belegt erstmals repräsentativ, dass auch Migranten – oder genauer: Menschen mit Migrationshintergrund – sich nicht nach der Zugehörigkeit zu einer „ethnischen Herkunftskultur“ unterscheiden, sondern nach der Zugehörigkeit zu Milieus, „an der sich die alltäglichen Muster der Lebensführung dieser Personengruppe orientieren“ (S. 2). Diese Milieus sind ethnisch gemischt, d.h., sie umfassen Menschen mit unterschiedlichen individuellen und familiären Migrationsbiografien, die sich jedoch hinsichtlich ihrer Lebenspraxis und ihrer Lebensperspektiven ähneln. Die Studie eröffnet so einen neuen Blick auf die spätmoderne Einwanderungsgesellschaft: Denn hier steht die Dynamik sich abgrenzender und sich annähernder, sich überschneidender, sich weiterentwickelnder Lebenswelten und Alltagskulturen im Mittelpunkt – und nicht die übliche Statik einer ethnisch sortierten „kulturellen Vielfalt“. Die Perspektive transethnischer Milieus ist richtungsweisend, aber dennoch nur eine Etappe auf dem Weg zu einem grundlegenden, notwendigen Perspektivenwechsel in Politik und Forschung.
Potenziale eines wiederentdeckten Konzepts
Das Milieu-Konzept geht in seiner heutigen Ausprägung ganz wesentlich auf den französischen Soziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu zurück. Von hier fand es seinen Weg über die deutsche Soziologie in die Marktforschung – wo es zu einem der wichtigsten Tools zur Erfassung potenzieller Kundengruppen wurde. Wie schon bei Bourdieu, so steht auch in dieser Anwendung seiner Theorie die Erkenntnis im Mittelpunkt, dass demografische Daten – wie Einkommen und Bildungsstand – allein keinen ausreichenden Aufschluss über die tatsächlichen Orientierungen, den Geschmack und Lebensstil der betreffenden Menschen liefern. Erst aus der Kombination von objektiver sozialer Lage und subjektiver Deutung, Aneignung und Praxis entsteht die Vielfalt der sozialen Milieus und der kulturellen Lebensstile in der modernen Gesellschaft. Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
Zitat:
„Während das Ideal der Sesshaftigkeit zunehmend zum Traditionsbestand einer nationalen Moderne wird, praktizie-ren Migranten längst ein hypermodernes, mobiles Leben in mehreren Heimaten, das die Zukunft postnationaler Formen der Bürgerschaft vorwegnimmt.“
In dem Text der Dame von oben sind durchaus interessante Gedanken zur Betrachtung von Nation, Nationalitäten, Migration etc. zu finden. Auch die Milieu-Betrachtung (z. B. grössere Gemeinsamkeiten von türkischen Akademikern mit deutschen Akademikern im Unterschied zu bildungsfernen Türken in Berlin-Neukölln) erscheint mir interessant und aufschlussreich. Die Frage ist, ob die Hauptrichtung des ganzen Artikels irgendwie falsch liegt: Als Beispiel – von welchen „5,7 %“ der türkischen Migranten spricht sie in Ihrem Artikel? Sind diese soziologisch gesehen in irgendeiner Weise repräsentativ für die Alltagsrealität mit Migranten aus Köln-Mülheim, Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln?
Die Gedanken von ihr bleiben bei soviel Realitätsferne wohl nur Trockenübungen für Migrationstheorie. Das ist insofern schade, da die Untersuchungsmethodik – Definition über Milieus (Vielleicht als Ergänzung zur traditionellen Nationalitätsbetrachtung) – bestimmt konstruktiven Input für die Migrationspolitik geben könnte. Obwohl die Dame einen wissenschaftlichen Hintergrund hat, scheint da doch sehr stark der Wunsch Vater des Gedanken sein. Aus wissenschaftlicher Sicht erscheinen im dem Text einfach zuviele normativen, wertenden Aussagen. Natürlich gibt es keinerlei Zwang oder wissenschaftliche Begründung, dass man zu den selben Schlüssen kommen muss wie sie. Soziologie hat wahrscheinlich oft nicht zu Unrecht den Kritikern Anlass dazu gegeben, Gesellschaftswissenschaften eine gewisse „Scheinwissenschaftlichkeit“ zuzuschreiben. Da wäre es schöner gewesen, Sie hätte sich auf die reine Beschreibung von Zuständen beschränkt, dass würde die Aussagen seriöser erscheinen.:-)