Ein Plädoyer
Wir sind Integration
Wenn von Integration die Rede ist, denkt man in erster Linie an Migranten und an Schwierigkeiten. Doch das eigentliche Problem sind häufig die Deutschen ohne Migrationshintergrund, die nicht an Integrationsprozessen teilhaben wollen und einer fragwürdigen Multi-Kulti-Theorie anhängen. So bleiben die Potenziale, die in neuen Formen von Identität stecken, auf der Strecke – und Verlierer sind nicht nur die Migranten. Oder: Ein Plädoyer für die gegenseitige Veränderung von Migranten und Deutschen.
Von GastautorIn Freitag, 13.11.2009, 8:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 13.05.2014, 9:35 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Haben Sie Kinder? Dann machen Sie mal einen Test: Sagen Sie zehn von ihren Bekannten, dass Sie für Ihr Kind eine Krippe, Kita oder Schule suchen, in der unbedingt auch Migrantenkinder sind, und zwar in etwa so viele, wie sie tatsächlich auch in der Gesellschaft repräsentiert sind. Das sind inzwischen eine ganze Menge, denn jedes dritte Kind unter drei Jahren in Deutschland entstammt heute einer Familie mit Migrationshintergrund, in der Gesamtbevölkerung hat jede fünfte Person einen Migrationsbezug. Wie wird also die ehrliche Reaktion der meisten Angesprochenen sein? Im Grunde zu häufig so: Beim Türken oder Libanesen essen, das ist okay. Aber mit Türken oder Libanesen gezielt auf eine Schule? Und in der Regel stellt man seine Kinder so ein, wie man auch selbst eingestellt ist.
Integration aber ist immer insbesondere auch Beziehung, und zwar nicht nur allgemein, die Beziehung zu einer Gesellschaft und ihren Institutionen, sondern vor allem konkret, zu Personen. Daher drängt sich die Frage auf, wie sich Integration in Deutschland gestalten soll, wenn nur wenige autochthone Deutsche daran teilhaben wollen? Jenseits aller verzerrten Wahrnehmung, Integration sei bleiern schwer und bringe hauptsächlich Probleme, bleibt die geringe Teilnahme der autochthonen Deutschen an Integrationsprozessen im Kern einer anderen Ursache geschuldet. Denn selbst wohlwollende deutsche Zeitgenossen sehen ihren Beitrag zur Integration neben ihrer Toleranz vor allem in der Bereitstellung passender Instrumente, etwa der Sprachförderung, für die zu Integrierenden – und nicht in der tatsächlichen Veränderung, oder besser: der Öffnung ihrer und des Landes selbst für bewusste Veränderungen, die aus dem Zusammenleben resultieren könnten. Daher auch ist die gut gemeinte Idee von Multikulti in ihrer jetzigen Form nicht einmal die halbe Antwort auf die Tatsache einer pluralen Gesellschaft. Denn die meisten Multikulti-Befürworter verstehen mit ihrer Toleranz zwar ein friedliches Nebeneinander-Gedeihen verschiedener kultureller Gewächse, aber, das ist wichtig, bei verschiedenen Menschen – und nicht in einer Person, vor allem nicht in den Autochthonen selbst. In der Praxis sieht es dann so aus, dass Menschen teilweise unterschiedlich leben, differente kulturelle Verankerungen haben, sich gegenseitig tolerieren, doch die gemeinsamen Schnittmengen mehr als überschaubar bleiben. Doch was ist Integration eigentlich anderes, als die Herstellung bzw. das Entstehen von etwas Neuem aus Bestandteilen, die vorher in keinem gemeinsamen Kontext standen?
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist denn auch fast ausschließlich von der Integration in etwas, etwa in die deutsche Gesellschaft die Rede. Dabei wird meist übersehen, dass eine Integration in etwas immer ein stark assimilierendes Moment hat, und zwar nicht nur von der Sprachkonstruktion her, sondern auch von der tatsächlichen Wahrnehmung: Jemand, der sich in etwas integriert, wird, um im Sprachbild zu bleiben, in etwas Bestehendes hinein genommen – ohne, dass sich das, in das er sich integriert, verändern würde. Tatsächlich müsste es sich aber doch verändern – nur wird dies von Sprache und Realität ausgeblendet. Integration in etwas bedeutet in diesem Mainstream-Denkmuster fast zwangsläufig, dass der zu Integrierende auf etwas verzichtet. Man integriert sich in etwas und kann dies doch nur, wenn man vorher Unpassendes ablegt, etwa kulturelle Gewohnheiten, wie das Schächten von Schafen – oder aber die Ursprungs-Staatsangehörigkeit. Und, das ist ganz wichtig: Dasjenige, in das man sich integriert, bleibt nach diesem Schema weitgehend unverändert, nur qualitativ gibt es eine Bewegung – nämlich steigende Bevölkerungszahlen. Eine solch verstandene Integration in die Gesellschaft ist aber zu häufig zum Scheitern verurteilt, weil sie unnötige Opfer auf Seiten der Einwanderer und ihrer Nachkommen verlangt. Viele von ihnen erbringen diese Opfer, häufig um den Preis eines inneren Heimatverlustes.
Doch eine nachhaltigere Integration ist nicht die einseitige Integration – und damit de facto Assimilation – in etwas, sondern die beider-, oder vielmehr multiseitige Integration miteinander – also die Integration der deutschen mit den ausländischen Kulturen; soweit eine derart klare Trennung vorher überhaupt besteht. Eine Integration mit jemanden oder mit etwas ist die gleichzeitige Veränderung aller beteiligten „Akteure“ – also der Mehrheit und der Minderheit(en), die freilich auch zuvor keine monolithischen Blöcke sind. Dabei verändern sich im Optimalfall alle, und zwar je so stark, wie es ihre Quantität, aber auch die „Qualität“ bedingt. Im Regelfall wird sich freilich die Minderheit stärker verändern. Doch bringt jemand in eine Integrationsbeziehung überzeugende Argumente mit ein – etwa ein neuartiges Denken – so sollte er selbst die quantitativ überlegene Mehrheit (auch in friedlicher Auseinandersetzung) durchdringen können und sie stärker verändern, als er selbst verändert wird. Etwas Ähnliches geschah in Deutschland und anderen Ländern etwa in der 68er-Bewegung. Es fand eine – sehr konfliktreiche – Integration von unterschiedlichen Denk- und Verhaltensprinzipien statt, bei der „Rebellen“ und „Mehrheitsgesellschaft“ (auch hier: nicht monolithisch) sich durchsetzten und zugleich verzichteten, sich veränderten, eben: miteinander integrierten – und nur ewig Gestrige regen sich heute über das Schwulsein von Guido Westerwelle auf. Undenkbar vor 40 Jahren.
Eine ähnliche Entwicklung findet in Deutschland im Zusammenhang mit Einwanderer-Kulturen und migrantischen Lebenswelten nur bedingt oder gar nicht statt. Die Mehrheit der Deutschen ohne Migrationshintergrund sieht kaum bis keinen Anlass, sich mit den schillernden Facetten ausländischen Lebens in Deutschland zu integrieren, was bedeuten würde, dass sich die Mehrheitsgesellschaft, und damit einzelne Individuen, eben auch verändern und dies bewusst zulassen. Grund dafür ist häufig, dass das Prestige vieler Länder – und damit natürlich auch ihrer Sprachen, Kulturen, Mythen – aus dem afrikanischen, arabischen oder osteuropäischen Raum in Deutschland recht weit unten rangiert. Was nicht nur deswegen schade ist, weil Image und Wirklichkeit des Öfteren nicht das Gleiche sind, sondern auch, weil dadurch vor allem autochthone Deutschen die Möglichkeit verpassen, ihrer Identität wertvolle Akzente hinzuzufügen. Der Journalist Arno Widmann beschrieb die Frage der Identität im Kontext von Europa einmal so: „Es gibt keinen Grund zur Angst, die eigene Identität zu verlieren. Man hat sie nämlich nicht. Man erwirbt sie. Man erwirbt sie, in dem man sie mehrt. Es gibt da nichts zu verteidigen außer der Freiheit, sie mehren zu dürfen.“ Tatsächlich gibt es in Deutschland kein gesetzliches Verbot, die eigene mono-nationale Identität um andere nationale und kulturelle Ideen und Verankerungen zu mehren, sie in das eigene Dasein einzubeziehen, und zugleich mit den Menschen, die diese Ideen und Verankerungen repräsentieren, gemeinsam Integration zu betreiben. Meinung
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Es wird nun doch deutlich, dass die Angst vor der Transformation der deutschen Gesellschaft als Resultat eines dynamischen Prozesses nicht nur ein Thema von Menschen ohne Migrationshintergrund auf der einen Seite und Menschen mit Migrationshintergrund auf der anderen Seite ist.
Es leben Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland, die natürlich ganz unterschiedliche Wertesysteme haben. Das ist eine Realität. Es ist doch dann nur natürlich, wenn Menschen, die ganz verschiedene Werte und Anschaugen haben, die Nähe zu dem vermeidlich Anderen oft nicht ertragen können. Dieses ist aber nichts Neues, wie die Geschichte und Gegenwart anderer Einwanderungsländer zeigt.
Diese Transformation der deutschen Gesellschaft , die vor dem Hintergrund der Globalisierung unumkehrbar ist, löst somit bewußte und unbewußte Ängste aller Menschen -Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen ohne Migrationshintergrund- aus. Es wird mit größter Gewissheit Gewinner und Verlierer dieser Transformation der deutschen Gesellschaft jenseits der Herkunft geben. Diese Tatsache löst bei allen Menschen, die in Deutschland leben,
Ängste aus. Dies wird hier allzu deutlich durch alle Beiträge bestätigt. Eines sollte aber immer gelten:
Das Üben von Tolerranz ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt, und fordert eine Bringschuld von allen Menschen in diesem Land, die an einer offen und solidarischen Gesellschaft interessiert sind.
Markus Eisgruber
Ich finde diese Seite äußerst bemerkenswert, weil man hier endlich einmal ins Gespräch kommen kann ohne ständige wechselseitige Schuldzuweisungen. Ich hätte nicht viel gegen die Vision Jan Opielkas einzuwenden. Im Grunde war es aber doch schon immer so, oder? Was ist denn überhaupt „deutsch“, „eurpäisch“, „türkisch“, „orientalisch“, „russich“? Ich beschäftige mich gerade mit der europäischen Renaissance im 15. Jahrhundert, die überhaupt nicht denkbar wäre ohne die Rezeption des Islam. Gerade Deutschland als Land mitten in Europa war doch immer schon Migrationen ausgesetzt. In meine Heimatstadt Augsburg wanderten im 18. Jh. viele Italien, im 19. Jh viele Elsässer zu, 1955 war nur etwa die Hälfte der Augsburg auch hier geboren, heute haben 30% der Bewohner (50% der Kinder) einen „Migrationshintergrund“. Und ich habe nicht den Eindruck, dass das Zusammenleben nicht klappt.
Ich beobachte aber auch, dass es zunehmend Angebote gibt, die etwas Ähnliches zum Ziel haben, wie von Herrn Opielka angesprochen: Es gibt z.B. die Stadtteilmütter, die Ihren Kindern die jeweilige Muttersprache beibringen, im Kindergarten oder der Schule werden dann die muttersprachlichen Texte auf Deutsch gelernt. Die Puppenkiste bietet Märchen aus 1001 Nacht auf deutsch mit türkischer Zusammenfassung. Im Theater werden türkische Stücke gespielt.
Dennoch habe ich folgende Beobachtung gemacht: Die autochtone Bevölkerung nimmt Angebote, die Einblick in die Migranten-Kulturen bieten durchaus wahr, wenn auch manchmal sehr zögerlich. Bei Führungen und Ausstellungen zur Ortsgeschichte sind aber nur bestimmte Migranten-Gruppen (z.B. viele Russen) vertreten. In den Gemäldegalerien habe ich bisher kaum Muslime angetroffen, vielleicht auch, weil es viele Bilder mit christlichn Themen gibt oder weil eine Scheuh vorhanden ist, weil insgesamt die Erfahrung mit europäischer Bildgeschichte fehlt? Es hat mich sehr beschäftigt, was wir falsch machen, dass nicht nur so wenige Migranten in die stadtgeschichtlichen Museen kommen, sondern generell wenig junge Leute. Denn wenn sich niemand mehr mit dieser Ortgeschichte auskennt, werden die Besucherzahlen schwinden (was jetzt schon zu beobachten ist) und dann ist es nicht mehr weit bis zur Schließumg der Museen, des Theaters, zum Abbruch der historischen Monumente wie nicht mehr benutzten Kirchen usw.. Erste Auswirkungen sind schon zu beobachten und ich denke, deshalb haben viele „Autochtone“ auch Angst, sich den Kulturen der Migranten zu öffnen, weil andererseit die „eigene“ Kultur im Niedergang begriffen scheint.
D.h. wir können nur die von Herrn Opielka Gesellschaft gegenseitiger Integration erreichen, wenn wir alle die Zeugnisse der bisherigen Kulturgeschichte pflegen. Dies würde eine viel stärkere Beschäftigung mit Geschichte und Kunst an den Schulen voraus setzen, Fächer, die aber gegenwärtig immer mehr zurückgedrängt werden.