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Ismail Ertuğs Meinung

Sarrazin schafft Muslime ab

Der Sarrazin-Mythos: Kaum einer hat ihn gelesen, aber eine Mehrheit gibt ihm Recht. Womit er Recht haben soll, würde ich gerne wissen. Ein verlegenes Schulterzucken ist die häufigste Reaktion auf die Frage, auf welche Thesen des promovierten Volkswirts aus Gera sich die Zustimmung bezieht.

Von Montag, 06.09.2010, 7:58 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.01.2011, 23:47 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die Vermutung, dass es nicht Sarrazins Argumente sind, die eine Mehrheit der Deutschen überzeugen, wird bestätigt durch Beobachtungen der hysterischen Mediendebatte der letzten Tage. Da sitzt der Bundesbankvorstand wie ein Häuflein Elend in der Wohlfühlsendung von Starmoderator Reinhold Beckmann und kommt gegen die wortgewaltigen Gäste Ranga Yogeshwar (Wissenschaftsjournalist), Aygül Özkan (CDU-Integrationsministerin in Niedersachsen), Renate Künast (Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen) und Thomas Sonnenburg (Sozialpädagoge und Streetworker) kaum zu Wort – nicht etwa, weil ihn die Kontrahenten niedergeschrien hätten, sondern weil seine Thesen nicht stand hielten.

Sarrazin trifft natürlich ein Bauchgefühl, dass gar nicht widerlegt werden möchte.

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Viel Bauch, wenig Hirn
Dennoch war die Zustimmung für das SPD-Mitglied auf Abruf überwältigend – etwa 70 Prozent fanden das Stottern des Bundesbankers triftiger als die freundlich und mit Quellenangaben formulierte Gegenposition der Praktiker aus Politik, Wissenschaft und Sozialarbeit. Die Schlussfolgerung, dass es nicht am überzeugenden Auftritt des frisch gebackenen Bestseller-Autors gelegen haben kann, sei erlaubt. Sarrazin trifft natürlich ein Bauchgefühl, dass gar nicht widerlegt werden möchte. Nur: Mit einem Bauchgefühl lässt sich keine verantwortungsvolle Politik für ein ganzes Land gestalten.

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Deshalb an dieser Stelle einige Gegenthesen zu den Behauptungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators, die im Kern lauten: Muslimische Mitbürger sind genetisch bedingt dümmer, aus kulturellen Gründen nicht integrierbar und aufgrund ihrer vermuteten höheren Geburtenrate dabei, die „deutsche“ Ur-Bevölkerung zu verdrängen.

Zur Kompetenz eines Bankers
Thilo Sarrazin ist promovierter Volkswirt und kein Evolutionsbiologe. Wäre er wie Yogeshwar Wissenschaftsjournalist, würde er zumindest über Methoden verfügen, sich einer fachfremden Materie objektiv zu nähern und den aktuellen Forschungsstand objektiv zu reflektieren. Sarrazin kann und will dies nicht. Er bedient sich wie jeder Laie wahllos in der historischen Fundgrube des Wissenschaftsbetriebs und pickt sich passende Fragmente heraus – von Darwin bis zur höchst umstrittenen Zwillingsforschung von Charles Murray und Richard Herrnstein. Gemein haben seine Quellen: Sie sind überholt, mitnichten common sense und zusammen dann ungefähr so wissenschaftlich wie die nationalsozialistische Rassenideologie.

Biologie aus der Klamottenkiste
Leitmotiv des Buches ist das Auslesepostulat des Biologen Harry Laughlin (1880-1943): „Die Gesellschaft muss Erbgut als etwas betrachten, das der Gesellschaft gehört und nicht allein dem einzelnen.“ Die Konsequenz formulierte Irving Fisher 1912, als er eine neue Einwanderungsgesetzgebung in Amerika forderte – nach den Maßstäben einer sozialdarwinistischen Auswahl der Besten. Jenseits der moralischen Fragwürdigkeit dieser Position sprechen schon die Jahreszahlen für sich. Die Vorstellung eines von Genen determinierten Menschen ist längst widerlegt.

Nahezu alle angeblichen Entdeckungen vom „Methusalem-Gen“ über das „Kettenraucher-Gen“ bis zu diversen Krankheitsgenen erwiesen sich bisher als Fälschungen oder Fehler. Es bleibt lediglich eine Hand voll bereits bekannter Erbkrankheiten. Die Neuro-Wissenschaftler Michael Meaney und der Pharmakologe Moshe Szyf (McGill University in Montreal/Kanada) wiesen nach, dass Erfahrungen, Gefühle, Umwelteinflüsse, Schadstoffe und der Lebensstil die Arbeitsweise von Genen in wenigen Monaten verändern können – mit anderen Worten: Gene sind weit lern- und anpassungsfähiger als Thilo Sarrazins überkommene Gedankenwelt. Meinung

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  1. Zum Thema Sarrazin und Intelligenz:

    Die „adäquate“ kognitive Erfassung der Welt ist viel zu komplex um gemessen werden zu können. Und die üblichen Intelligenztests definieren sich wissenschaftlich in einem Zirkelschluss („Intelligenz ist was Intelligenztests messen.“).

    Eigentlich lässt sich über „Intelligenz“ also gar nicht diskutieren, weil es in eine „Phantomdiskussion“ mündet, es sei denn man beginnt von 0 und fragt sich einmal was Intelligenz überhaupt sein könnte und ob sie nicht unendlich viele Aspekte mehr haben könnte als gewöhnlich darunter verstanden wird. Aber es ist natürlich viel einfacher vorgefertigte strukturalfaschistisch verwertbare Konstrukte unhinterfragt zu übernehmen und zu instrumentalisieren.

    „Intelligenz“ ist qua wissenschaftlicher Definition ein „Konstrukt“ ich würde aus eigenen intensiven Studien zum Thema ergänzen ein „bloßes Konstrukt“ fast ohne jegliche Brauchbarkeit.

    Dieses Konstrukt wird fast ausschließlich an Schulleistungen validiert … d.h. was mit diesen Tests im Besten aller möglichen Fälle ein wenig bestimmt werden kann sind schulische und schulleistungsanaloge Kompetenzen und Leistungsmöglichkeiten.

    Aber auf jeden Fall bestimmen sie keine allgemeine Substanz „Intelligenz“. Diese ist nicht bestimmbar und schon gar nicht mit quantitativen Zahlenwerten.

    Was auch immer „Intelligenz“ ist … sie lässt sich nicht auf ein einzelnes Gen beziehen… sie lässt sich also nicht substanzialisieren …eines steht also fest, wenn es eine genetische Grundlage von so etwas wie „Intelligenz“ gibt, dann ist sie vielfältig und unüberschaubar verzweigt und auf das Engste von der Umwelt abhängig und auf diese bezogen.

    Völlig absurd ist es z.B. sagen „Intelligenz sei zu 80 % angeboren“ wissen wir doch dass die Intelligenztest Intelligenz in einem Zirkelschluss definieren … es ist also nicht einmal klar was da angeblich zu 80% vererbt sein soll … arme Menschen … arme Psychologie …

    Und das Vermögen der adäquaten kognitiven Welterfassung kann sich ein ganzes Leben lang weiterentwickeln, wenn die Umweltbedingungen dies zulassen und anregen. Das gilt natürlich auch auf die Zeit die für Erfassung benötigt wird … „Zeit“ spielt bei vielen I-Tests eine prominente Rolle.

    „Intelligenz“ damit vor allem „Intelligenztests“ sind deswegen so prominent geworden, weil sie sich sehr gut zur strukturalfaschistischen Selektion eignen.

    Worüber hier also wie über ein fassbares Ding (verdinglichend) diskutiert wird ist noch gar nicht fassbar … ein Phantom von dem auch noch jeder glaubt mehr als die Anderen zu haben … arme Menschen … ein Armutszeugnis …

    Sarrazin hat nicht einmal die basalsten wissenschaftlichen Kenntnisse zum Thema „Intelligenz“ wie jedoch manch anderer sogar wissenschaftlich gebildete Quacksalber auch soviel steht ohne Frage fest … die Äußerungen dieser Menschen sind im Ansatz verfehlt und auch noch gefährlich …

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Uni-Köln)

  2. Marie sagt:

    “Herr Sarrazin stottert nicht weil er “dumm” ist, sondern das hat etwas mit einer Erkrankung zu tun. Er hatte eine Geschwulst unter seinem Auge die weg operiert wurde. Diese hat aber auch sein Sprachzentrum leicht zerstört.”

    Ich verstehe nicht wirklich, was das mit dem Thema zu tun haben soll, ob Herr Sararin stottert und gegebenenfalls, weshalb er stottert. Eine eventuelle Zerstörung des Sprachzentrums ist ja keine Rechtfertigung für rassistische volksverhetzende Aussagen.