Weder deutsch noch ausländisch
Identitätsbildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft Deutschland
Identitätsbildungsprozesse verlaufen im globalisierten Kapitalismus spannungsreicher als in früheren Zeiten. In dem Maße, wie sich traditionelle Zugehörigkeiten auflösen, müssen die Individuen aus einer Vielzahl von Identitätsangeboten auswählen und sich ihre eigene Identität „erarbeiten“. Politik und Bildungsinstitutionen sollten die Vielfalt von Identitätsformen als gesellschaftliche Realität anerkennen, anstatt immer wieder in nationale oder ethnische Denkmuster zurückzufallen.
Von GastautorIn Dienstag, 14.09.2010, 8:35 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.10.2010, 4:33 Uhr Lesedauer: 13 Minuten |
Die Vorstellung, dass jeder Mensch ein eigenständiges Wesen ist, das nicht nur über eine ausgeprägte Persönlichkeit verfügt, sondern auch über sich selbst reflektieren und sein Verhalten korrigieren kann, hat sich spätestens am Ende der Aufklärung verfestigt. Damit war eine grundlegende Voraussetzung für das neuartige Konzept „Identität“ gegeben: Wer in sich hineinhorcht und über die eigene Lebensgeschichte nachdenkt, entwickelt ein Gespür dafür, inwiefern man persönlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen folgt. Identitätsbildung wäre nicht denkbar ohne Institutionen wie Schule, Kirche oder Klinik. Unter deren Anleitung hat das bürgerliche Subjekt gelernt, über eigenes Leben, Gefühlshaushalt und körperlichen Zustand zu reflektieren und sich selbst als ein einzigartiges, klar umgrenztes und weitgehend beständiges Ich wahrzunehmen.
„Ich bin weder deutsch noch ausländisch und trotzdem beides“
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Identitätsbildung weist noch eine weitere gesellschaftliche Dimension auf, nämlich die Identifikation mit einem Kollektiv. Richteten sich die Loyalitäts- und Zugehörigkeitsgefühle der Menschen über Jahrhunderte auf einen Familienclan, eine Fürstendynastie, eine Stadt oder einen Herrschaftsbereich, so nahm im Zuge der Legitimationskrisen frühmoderner westlicher Gesellschaften die Nation diese Stelle ein. Im Rückgriff auf eine verklärte Vergangenheit entstand die Idee einer Nation, die als schicksalhafte Gemeinschaft verstanden wurde und deren Mitglieder sich durch gleiche Abstammung, Sprache oder Kultur auszeichnen. Ziel nationaler Bewegungen war die Etablierung eines Nationalstaates, der sich gegen innere wie äußere Feinde zu behaupten weiß und dies durch Verdichtung der Binnenhomogenität und Befestigung der Außengrenzen zu erreichen sucht. Die Vorstellung von einem einheitlichen sozialen Organismus antwortete in einer immer säkularer werdenden Welt einem starken, quasi-religiösen Bedürfnis nach Sinnstiftung, Kontinuität und politischer Bedeutsamkeit. Aufgrund seiner hohen Flexibilität konnte sich der Nationalismus mühelos an unterschiedliche Regierungsformen und Gesellschaftsverfassungen anpassen und entwickelte sich damit zum bedeutendsten Instrument zur Legitimation politischer Herrschaft in der Moderne. 1
Wer sich mit Fragen der Identitäts- wie der Nationenbildung beschäftigt, weiß, dass beide Konzepte nicht nur in historischen Krisenzeiten entstanden sind, sondern bis heute krisenhafte Momente in sich tragen – zum Beispiel den Zwang, sich einer bestimmten Vorstellung von Identität bzw. Nationalität unterzuordnen. Es ist offensichtlich, dass in beiden Konzepten ein großes Potenzial zur sozialen Disziplinierung von Individuen steckt, bis hin zu der Möglichkeit, Menschen gewaltsam auszugrenzen, die diesen Vorstellungen nicht entsprechen oder nicht entsprechen wollen.
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Sehr schöner Artikel, der umfassend in die Debatte einführt. Allerdings bereitet mir der Identitätsbegriff seit geraumer Zeit erhebliche Kopfschmerzen. Seit mehr als drei Jahrzehnten werden mit dem Begriff Diskurse geführt, die fast immer zu einer Gegenüberstellung von Wir-Gruppen führen. Das führt nicht gerade zur Hearausbildung verträglicher zivilgesellschaftlicher Schnittmengen. Wenn nun von multiplen Identiäten die Rede sein soll, dann können wir den Begriff auch ganz sein lassen.
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