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Wochenrückblick

KW 43/2010 – Leitkultur, Muslim, Migrationsdebatte, Doppelpass, Multikulti

Die Themen der 43. Kalenderwoche: Emanzipatorische Leitkultur; Muslimische Selbstkritik; Leitkultur als falsches Konzept; Leitkultur und Doppelpass; Ein Leitkultur-Gefecht: Matussek gegen Yücel; Freiheit und Verantwortung; Merkels globales PR-Desaster

Von Montag, 01.11.2010, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.11.2010, 14:36 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Leitkultur im Gefecht: emanzipatorisch, selbstkritisch, mit Doppelpass, als falsches Konzept …

Emanzipatorische Leitkultur
Slavoj Zizek, SZ, plädiert für eine emanzipatorische Leitkultur. Sie liegt im universellen Anspruch der Individuen auf eigene Entscheidung. Dieser Anspruch treffe nun auf eine Einstellung von gläubigen Muslimen, die ihre Handlungen und Überzeugungen allein über vorab gültige Tradition und göttliche Autorität rechtfertigen. Hier müsse unsere liberale Haltung Widerstand entgegensetzen, nämlich wenn es zum Beispiel um moslemische Frauen gehe, die einen Schleier tragen:

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Sie könnten diese gerne tun, heißt es, sofern die Verschleierung ihre eigene Entscheidung sei und ihnen nicht von ihren Ehemännern und Familien aufgezwungen werde. Sobald diese Frauen den Schleier jedoch auf Grund ihres freien Willens tragen, verändert sich auch die Bedeutung des Schleiers grundlegend: Er ist dann eben nicht mehr ein Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime, sondern ein Ausdruck ihres idiosynkratischen Individualismus, ihrer spirituellen Sinnsuche und ihrer Ablehnung einer kommerzialisierten Sexualität, oder gar eine politische Geste des Protests gegen den Westen.

Das ist auch der Grund, warum Menschen, die sich in unseren säkularen Gesellschaften einen tiefen Glauben bewahren, in einer defensiven Rolle wiederfinden.

Sie sollten akzeptieren, dass die gleiche Leitkultur, die ihnen ihre religiöse Freiheit im Westen garantiert, von ihnen den Respekt aller anderen Freiheiten abverlangt.

Muslimische Selbstkritik
Die Aufforderung Zizeks führt der Niederländer Mohammed Abdulrahman weiter in einem Kommentar, den man in der WELT findet. Er mahnt die Muslime, bei ihrem Erschrecken und ihrem Protest gegen die politische Rolle, die Geert Wilders jetzt auf Regierungsebene spielen kann, den Unterschied zwischen islamischen Ländern und den immer noch liberalen Niederlanden nicht zu vergessen:

In der islamischen Welt gibt es kaum Rechte für Ausländer und religiöse oder ethnische Minderheiten. In so gut wie allen islamischen Ländern sind sie Diskriminierungen ausgesetzt, die von der Mehrheitsbevölkerung fast kritiklos geduldet werden. Man denke zum Beispiel an die Situation von Gastarbeitern in den Ölstaaten. Die grenzt an Sklaverei. Sie haben praktisch keinen rechtlichen Status, und von kulturellen oder religiösen Rechten kann schon gar keine Rede sein. Auf der Arabischen Halbinsel gibt es nur eine einzige Kirche: nämlich im Mini-Sultanat Oman. …

Für Menschen mit muslimischem Hintergrund ist es nicht leicht, sich Wilders‘ provozierende Aussagen über den Islam anhören zu müssen. Aber am Ende geht es um ganz normale Beleidigungen, nichts mehr und nichts weniger. Das Schlimmste, was uns Wilders antun kann, ist, dass auch wir uns radikalisieren. Dass er uns so weit bringt, dass wir unsere Identität auf eine verkrampfte Weise verteidigen. Und dabei aufhören, kritisch auf uns selbst zu schauen. Mit anderen Worten: dass wir uns genauso verhalten wie Wilders immer behauptet, dass wir uns verhielten. Den Gefallen sollten wir ihm nicht tun.

Leitkultur als falsches Konzept
Die New York Times hat Jürgen Habermas ein Forum gegeben, die aktuelle deutsche Migrationsdebatte dem amerikanischen Publikum zu erklären. Zum Thema Leitkultur schreibt Habermas – und er verzichtet dabei wohl bewusst auf Zizeks Konzept einer emanzipatorischen Leitkultur:

To the present day, the idea of the leitkultur depends on the misconception that the liberal state should demand more of its immigrants than learning the language of the country and accepting the principles of the Constitution. We had, and apparently still have, to overcome the view that immigrants are supposed to assimilate the “values” of the majority culture and to adopt its “customs.”

That we are experiencing a relapse into this ethnic understanding of our liberal constitution is bad enough. It doesn’t make things any better that today leitkultur is defined not by “German culture” but by religion. With an arrogant appropriation of Judaism — and an incredible disregard for the fate the Jews suffered in Germany — the apologists of the leitkultur now appeal to the “Judeo-Christian tradition,” which distinguishes “us” from the foreigners.

Nevertheless I do not have the impression that the appeals to the leitkultur signal anything more than a rearguard action or that the lapse of an author into the snares of the controversy over nature versus nurture has given enduring and widespread impetus to the more noxious mixture of xenophobia, racist feelings of superiority and social Darwinism. The problems of today have set off the reactions of yesterday — but not those of the day before.

Leitkultur und Doppelpass
In der ZEIT befragt Jörg Lau Müntefering, SPD, zum Thema.

Müntefering: Ich war immer der Meinung, dass die doppelte Staatsangehörigkeit möglich sein muss. Es war falsch von der Union, den Optionszwang für hier geborene Kinder von Einwanderern festzuschreiben. Dadurch müssen sich Tausende junger Leute jetzt zwischen zwei Pässen entscheiden. Warum aber sollen wir Menschen mit Anfang 20 zwingen, ihren Vätern und Großvätern zu sagen, dass sie jetzt keine Türken mehr sein wollen, nur noch Deutsche? Warum nicht beides? Übrigens: Es darf nicht sein, dass jemand, der vor 30 oder mehr Jahren nach Deutschland gekommen ist, heute noch als Migrant behandelt wird. Irgendwann ist man einfach Deutscher. Das ist keine Frage von Glauben, Kultur, Haarfarbe, Sprache. Wenn jemand längere Zeit hier lebt, zählt nur, ob er sich zum Grundgesetz bekennt und die Gesetze achtet. Wer das tut, gehört mit allen Pflichten und Rechten dazu.

ZEIT: Hat der Bundespräsident recht, wenn er sagt, dass der Islam zu Deutschland gehört?

Müntefering: Wenn es die Aufregung in der Union nicht gegeben hätte, würde ich sagen: Er hat etwas Selbstverständliches gesagt. Angesichts der Reaktionen ist es ausgesprochen gut, dass er das gesagt hat.

ZEIT: Nicht jeder sieht es so, sonst hätte es den Aufschrei in der Union ja nicht gegeben.

Müntefering: Das kommt, weil die immer wieder mit ihrer unsäglichen Leitkultur-Debatte anfangen. Die deutsche Leitkultur ist das Grundgesetz. Die Grundrechte sind die Voraussetzungen für Freiheit. Dafür, dass viele Religionen in diesem Land gut miteinander leben können. Wer sich dazu bekennt, gehört hier dazu. Das müssen übrigens auch die türkischsprachigen Medien ihrem Publikum hier deutlich machen. Auch die Einwanderer sind gefordert, ihren Teil dazu beizutragen. Die Vernünftigen auf allen Seiten müssen zusammenhalten. Wir müssen sagen, dass es in diesem Staat und in diesem Land genug Raum gibt, in einer liberalen und offenen Gesellschaft mit unterschiedlichen Prägungen zusammenzuleben. Es tut Deutschland und der Türkei gut, wenn wir dabei beieinander bleiben und wenn irgendwann auch die Türkei zu Europa gehört.

Ein Leitkultur-Gefecht: Matussek gegen Yücel
Ein kleines Leitkultur-Gefecht haben sich Spiegels Matthias Matussek und Kübra Yücel geliefert. Die beiden hatten sich zufällig im Zug getroffen.

Matussek: Ach ja, sie war es, die mich angesprochen hat. „Das tut man eigentlich auch nicht als Muslima“, sage ich. Sie entgegnet, ich würde einfach zu wenig Muslimas kennen. Wie auch, sage ich, die werden doch von ihren jungen Schläger-Ehemännern unter Verschluss gehalten. Sie lächelt milde. Klischees. Im Übrigen würden die Jungen sich deshalb als Traditionalisten aufführen, weil sie von den Medien dazu gemacht werden. „Das ist eine Rollenzuweisung, die sie ausfüllen“, sagt sie, die angehende Politologin.

„Man kann doch nicht für alles die Medien verantwortlich machen“ sage ich, der kurzfristig selbsternannte Integrationsbeauftragte von SPIEGEL ONLINE.

Ein gemütliches Hickhack. Einig sind wir uns in unserem Erstaunen darüber, wie sehr die religiöse Identität sich in den Vordergrund der Leitkultur-Debatte geschoben hat.

Yücel: Und dann kommt der Punkt, an dem wir den Tanz um den heißen Brei aufgeben. „Sie sind aber schone eine Ausnahme“, sagt Matthias Matussek und beobachtet mich gespannt.

Uff. Wie oft ich diesen unsäglichen Satz doch schon gehört habe. Dieser furchtbare Satz, der mehr sagt, als der Absender vielleicht meint.

Ich bin keine Ausnahme. Es gibt viele muslimische Frauen, die das Kopftuch tragen, erfolgreich studieren und emanzipiert sind. Ich habe muslimische Freundinnen, die Ärzte, Anwälte, überzeugte Feministinnen und Soziologinnen sind. Eine erzählte mir kürzlich von ihrer dunklen Goth-Vergangenheit. Wie viele Ausnahmen braucht es, um die Regel zu überdenken? Wann kann man einen differenzierten Blick einfordern?

Empirisch gesehen, treffe er aber tatsächlich das erste Mal auf eine Kopftuchträgerin wie mich, sagt Matussek. Da mag er recht haben. Das macht aber nicht mich, sondern unsere Begegnung zur Ausnahme. Ein trauriges Zeugnis der vielen parallelen Lebenswelten in Deutschland.

1:0 für Yücel. Und – implizit – ein gelungener Einwand gegen Zizek?

Freiheit und Verantwortung
Pro Zizek ließe sich Saba Farzans Bekenntnis zu Deutschland verwenden. Die Publizistin ist im Iran geboren, in Deutschland aufgewachsen.

Bei meinen Vorträgen zur Integration werde ich oft gefragt, warum ich mich besonders mit diesem Land identifiziere. Die Antwort: wegen unserer Verfassung. Es ist unser Grundgesetz, das jeden Staatsbürger in die Verantwortung nimmt, nicht wegzusehen, wenn Menschen Leid angetan wird – hier bei uns und anderswo in der Welt. Es mag sein, dass ein Burkaverbot nicht hilfreich ist, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir bei der Entrechtung von Frauen tatenlos zusehen können. Zivilcourage ist gefragt. In der islamischen Welt haben sich die Iraner – allen voran mutige Frauen – auf den Weg der Säkularisierung gemacht. Dies wird vor allem den Nahen Osten grundlegend verändern, aber bereits jetzt ein Signal nach Europa senden: Ein anderer Islam ist möglich und schon dabei, Realität zu werden.

Ich liebe Deutschland aus vielen unterschiedlichen Gründen, aber der Prägendste ist, dass mir dieses Land die Freiheit geschenkt hat. Sie überall zu verteidigen ist Privileg und Verpflichtung zugleich.

Merkels globales PR-Desaster
Werfen wir zum Schluss einen Blick aus dem Ausland auf diese Debatte. Michael Thumann, ZEIT, gibt einen Überblick über die internationalen Reaktionen auf Angela Merkels Rede, in der sie Multikulti für gescheitert und tot erklärt hat.

Die Lehre aus dem globalen PR-Desaster der Kanzlerin ist zweierlei. Erstens: Es gibt nirgendwo in Deutschland ein Bierzelt, wo man ungeniert vom Leder ziehen und sicher sein kann, dass Birma nicht mithört. Zweitens: Die Weltöffentlichkeit ist extrem hellhörig und empfindlich gegenüber jeder Art westlicher Hoffart. Merkels Äußerungen komplettieren ein ohnehin düsteres Bild des Westens, an dem andere westliche Führer Schuld tragen. Das behindert zunehmend westliche Politik.

Thumann denkt hier an die Wikileak-Irak-Geschichte sowie auf Sarkozy und die Roma.

Deutschland hingegen – und das ist bemerkenswert – konnte in den vergangenen Jahren in globalen Umfragen immer gut abschneiden. Zuletzt im April bescheinigte eine globale BBC-Umfrage der Bundesrepublik, dass sie bei vielen Menschen in der Welt ein vorzügliches Image genießt. Das Land profitiert davon erheblich, wie die jüngste Auszeichnung mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat zeigt.

Doch, auch das lehren solche Umfragen, ist Image ein flüchtig Ding. …Eine Serie von schlechten Nachrichten aus Deutschland, wie die schier endlose Sarrazin-Debatte und Merkels Multikulti-Beerdigung erster Klasse, kann den Eindruck schnell zerstören. MiGPRESS Wochenschau

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