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Lamyas Welt

Warum die Muslime so rückständig sind

In der islamischen Welt gibt es keine einzige Demokratie. Auch hat sie kaum einen Nobelpreisträger hervorgebracht. Schuld allein ist der Islam. Gut gebrüllt, Löwe, findet Lamya Kaddor in ihrer neuesten Kolumne.

Von Freitag, 10.12.2010, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.01.2017, 10:13 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

In letzter Zeit hört man immer wieder zwei schlagende Argumente für die Rückständigkeit des Islam. Eines davon lautet, dass es in der gesamten islamischen Welt nicht eine einzige Demokratie gebe. Dem mag man im ersten Moment beipflichten, genauso wie der Aussage, dass es kein afrikanisches Land mit einer Demokratie gebe oder kein buddhistisches.

Der Hinweis auf die Türkei wird in der Regel damit gekontert, dass diese keine echte Demokratie sei, weil sie zu viele Defizite aufweise. Wenn dem so wäre, ist sie es ebenso wenig wie Südafrika, Thailand oder Brasilien, nur mit dem Unterschied, dass diesen Ländern in unseren Diskussionen der Status seltener abgesprochen wird. Aber bleiben wir beim Inhaltlichen.

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Über welches andere Mitgliedsland der 57 Staaten der Organisation der Islamischen Konferenz wollen wir hinsichtlich der Demokratiefrage reden? Über den Irak? Über Afghanistan? Oder eines der anderen Staaten, in denen fremdländische Kulturen in den vergangenen Jahrzehnten kräftig an den Rädern der Macht gedreht haben – mal so herum, mal so herum? Wir können auch über den Iran sprechen, es muss ja nicht immer gleich ein Krieg mit ausländischer Beteiligung sein, der die eigenständige Entwicklung gestört hat. Wer griff dort in den 50er Jahren noch mal ein, um das autoritäre Regime von Schah Reza Pahlavi zu stärken, dessen Herrschaft später in die Islamische Revolution mündete? Richtig, ebenfalls Ausländer, schließlich mussten diese den Zugriff auf die iranischen Bodenschätze sicherstellen, was ihnen der Schah im Gegensatz zu den demokratischen Kräften im Land nun mal großzügig gewähren wollte. Und wenn wir schon dabei sind, fragen wir uns doch auch gleich, wie viele fremdländische Kulturen im Gegenzug eigentlich in Deutschland, Frankreich und Großbritannien die Geschicke manipuliert haben? Richtig, keine!

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Aber gut, lassen wir das, sprechen wir über die Vereinigten Arabischen Emirate oder über Katar, Bahrain, Kuweit. Diese Länder waren vor fünfzig Jahren nichts als eine Ansammlung von Gehöften in der Wüste. Plötzlich kam märchenhafter Reichtum in Form von Öl und Gas über sie, sodass das Sinnieren über staatliche Strukturen zur Nebensache geriet. Welche vergleichbare Entwicklungsgeschichte gibt es im Westen?

Oder sprechen wir über Indonesien, Malaysia oder Bangladesch. Das sind mehr oder weniger funktionierende Demokratien. Gewiss gibt es dort viel mehr Defizite als in Norwegen, Schweden oder Finnland. Aber die „Unabhängigkeit“ der Skandinavier währt auch schon länger als 60, 50 bzw. 40 Jahre.

Beim Stichwort „Unabhängigkeit“ kann man natürlich auch an Länder wie die USA, Kanada oder Australien denken. Der Unterschied zu Indonesien ist nur, dass die Urbevölkerung dort durch die Einwanderung ganzer Heerscharen aus der alten Welt marginalisiert wurde. Zugleich kamen die Einwanderer überwiegend zu einem Zeitpunkt, als das Abendland zur aufstrebenden Weltmacht in politischer, militärischer und wissenschaftlicher Hinsicht avanciert war. Entsprechend brachten sie die politischen, militärischen und wissenschaftlichen Ideen und Fortschritte ihrer Zeit mit, die denen der anderen überlegen waren. Ähnliches geschah übrigens im 7., 8. und 9. Jahrhundert durch die Muslime.

Allerdings gründen die Aufstiege der Europäer oder der Araber auf nichts anderem, als auf einem zufälligen Zusammentreffen bestimmter historischer Ereignisse. Ihr Erfolg rührt jedenfalls nicht daher, dass die Europäer an sich so besonders intelligent oder die Araber als solche so besonders begabt gewesen wären.

Wenn wir uns also darüber unterhalten wollen, warum es „keine“ Demokratien in der islamischen Welt gibt, dann können wir dies nicht ohne die Berücksichtigung der Weltgeschichte und der jeweiligen Landesgeschichten tun. Die Betonung liegt auf „Berücksichtigung“. Das heißt, es sind nicht allein die Historie und die so genannten „exogenen Faktoren“, die für die diagnostizierte Rückständigkeit eine Rolle spielen. Sie sind lediglich ein gewichtiger Teil des Problems.

Der andere Teil des Problems sind die hausgemachten Defizite, die so genannten „endogenen Faktoren“ wie Korruption, Misswirtschaft, mangelnde politische Partizipation der Bevölkerung bzw. Bevölkerungsteile oder – und an dieser Stelle findet nun auch endlich „der“ Islam seinen Platz – ein restriktives Religionsverständnis.

Nobelpreisträger
Ein weiteres schlagendes Argument lautet: Der Islam ist bildungsfeindlich, schließlich haben die Muslime nur wenige Nobelpreisträger hervorgebracht. Gut gebrüllt, Löwe. Diese einfache „Beweisführung“ eignet sich prima, um munteres Kopfnicken an Stammtischen zu erzeugen. Dabei dürfte der Grund derselbe sein, warum die Hindus so wenige Nobelpreisträger hervorgebracht haben, oder die Afrikaner, oder die Südamerikaner oder die Chinesen. Nur, mit deren Religion und Kultur hat das weniger zu tun.

Man sollte besser fragen, warum die USA so einen Riesenvorsprung in allen Nobelpreis-Kategorien haben? Vielleicht sind US-Amerikaner ja tatsächlich so viel intelligenter als Europäer, Asiaten und andere. Ich glaub jedoch, es liegt weniger daran, dass eine Geburt in den nicht-muslimischen USA mit der Weitergabe einer besonderen Intelligenz verbunden ist. Ich glaube, es liegt eher daran, dass die Wissenschaftslandschaft in den USA um einiges besser ist als anderswo. Und beim Stichwort Wissenschaftslandschaft sind wir wieder bei den exogenen und endogenen Faktoren der staatlichen Entwicklung.

Selbstverständlich kann auch hier bezüglich der islamischen Welt das Islamverständnis als Faktor berücksichtigt werden, aber eben nicht als zentraler oder gar als einziger. Wenn explizit der Islam so sehr mit fehlender Bildung zu tun hätte, wie konnte dann die islamische Welt einst einen so großen Wissensvorsprung in allen Bereichen erzielen, während Europa im finsteren Mittelalter darben musste? Wer hätte wohl vor einigen hundert Jahren die meisten Nobelpreise bekommen?

Vielleicht der Mathematiker Khawarizmi wegen seiner Ausführungen zur Algebra. Oder sein Kollege al-Battani wegen seiner Arbeiten zur Trigonometrie, zur Planetenberechnung oder zur bis auf zwei Minuten exakten Bestimmung des Sonnenjahres. al-Biruni böte sich vielleicht an wegen seiner nahezu exakten Berechnung des Erdradius oder der Erfindung des Pyknometers, mit dessen Hilfe bis heute die Dichte von Flüssigkeiten und Pulvern ermittelt wird. Auch der berühmte Mediziner Ibn Sina wäre gewiss nicht leer ausgegangen. Ebenso der große Naturwissenschaftler Ibn al-Haytham, der maßgebliche Wegbereiter der Optik und Erfinder der Lupe. Oder der Konstrukteur al-Jazari, Vordenker der Kybernetik und Pionier der Zeitmessung. Oder al-Fazari, dem der Bau des ersten Astrolabs in der islamischen Welt zugeschrieben wird. Heiße Anwärter wären sicher auch der Geograf al-Idrisi mit seiner Weltbeschreibung und der dazugehörigen Karte („Tabula Rogeriana“) gewesen sowie der Botaniker al-Baitar für seine systematische Darstellung von mehr als 1.000 Heilpflanzen und Rezepturen. In den Fokus würde sich vermutlich auch der osmanische Erfinder Taqi al-Din drängen, von dem im 16. Jahrhundert – also auch noch nach dem so genannten goldenen Zeitalter des Islam – die Beschreibung einer Dampfmaschine überliefert ist; lange bevor sie in Europa entdeckt und zum Motor der Industrialisierung wurde. Die Liste der potenziellen Nobelpreiskandidaten ließe sich noch beliebig verlängern… Aktuell Meinung

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  1. TaiFei sagt:

    @Ernst
    Sie verzetteln sich immer mehr. Ich antworte mal im Fließtext, da Ihren Punkten keiner mehr nachkommt. Sind die nun Antwort auf meine Argumente, Stichpunkte oder was? Dass die Mehrheit der Deutschen früher arm war (und heute wieder ist) ist eine Binsenweisheit. Das trifft für die Mehrheit des Volkes in JEDEM Land der Welt zu. Das ändert doch aber nichts am Reichtum der herrschenden Klasse, nämlich einen Teil des Adels und verstärkt ab dem späten Mittelalter des Bürgertums. Das hier eine Doktrin propagiert wird, welche diese sozioökonomischen Abhängigkeiten fixiert ist doch klar und die propagierte „Arbeitsethik“ ist so eine. Diese Arbeitsethik ist aber seit dem 17. Jh. in ganz Mitteleuropa verbreitet. Der Aufschwung DEs als Wirtschaftsmacht begann aber eben erst im 19. Jh., auch wenn es im dt. Reich schon immer einige Gegenden gab, welche wirtschaftlich schon viel früher prosperierten. Wir haben also in DE über zweihundert Jahre protestantischen Arbeitsethos, der aus DE KEINE Industrienation gemacht hat. Also muss es wohl andere Gründe gegeben haben. Im Übrigen waren Arbeitshäuser keineswegs dt. Besonderheiten, die gab es überall im westl. Europa sogar in kathol. Gegenden.
    Englands Aufstieg ist mit seinen und den Kolonien anderer Länder eng verbunden. Der atlantische Dreieckshandel als lukrative Einnahmequelle ist ohne Kolonien nicht denkbar. Die gegründeten Westindien-Gesellschaften vieler europ. Staaten profitierten hier von Kolonialbesitz in Latein- und Nordamerika von Beginn an. Im Indopazifischen Raum musste anders vorgegangen werden. Hier übernahmen die Ost-Indien-Kompanien teils mit massiver Gewalt den gesamten Handel mit Produkten nach Europa und errichteten Handelsmonopole, siehe Banda-Insel-Massaker. In dieser Periode hatten jedoch die indischen Mogulstaaten als auch China ein starkes Manufakturwesen, welches dem europ. gleichwertig war. Siam war auch noch im 16./17. der Handelsmittelpunkt für SO-Asien mit chinesischen, arabischen, malaiischen und japanischen Niederlassungen. Von überlegener ökonomischer Potenz kann hier also noch gar nicht gesprochen werden. Die europ. Überlegenheit im indopazifischen Raum wurde erst mit der Kolonialisierung erreicht. Englands endgültiger Aufstieg ist der Industrialisierung seit dem 18. Jh. zu verdanken. Zugpferd war hier die Textilindustrie mit billiger Baumwolle aus den Kolonien.
    Dass in England der Protestantismus die herrschende Doktrin war habe ich im Übrigen noch nie bestritten, wobei die Puritaner aber eher unterdrückt wurden. England war aber auch im 19. Jh. protestantisch, wo Sie den dt. Aufstieg zur Wirtschaftsnation korrekterweise ausmachen (und noch einmal DE HATTE in dieser Periode Kolonien – sie betreiben Geschichtsverfälschung). Beide Nationen haben also seit dem 17. Jh. eine ähnliche Arbeitsethik und dennoch entwickeln sie sich sehr ungleichmäßig. Also kann ihr Ethos gar KEINE Ursache für irgendeine unterstellte Überlegenheit sein. Wie passen übrigens Ihre Juden „Ist es unübersehbar, dass gerade deutsche Juden (Buchreligion!) und Protestanten im Unternehmertum viel erfolgreicher sind als Katholiken“ hier rein? Sind die zum Protestantismus übergetreten? Was soll der Verweis auf die Buchreligion? Der Katholizismus ist wohl keine? Und was ist mit den Muslimen, die beziehen sich wohl nicht auf ein Buch? Was hat Buchreligion mit wirtschaftlicher Dominanz zu schaffen?
    Natürlich ist die Industrialisierung der wichtigste Aspekt für die wirtschaftliche Dominanz Europas und natürlich haben dies sowohl Russland, als auch China, Japan und viele andere Staaten übernommen. Ihre Behauptung, dass der protestantische Arbeitsethos hier mit exportiert wurde, entbehrt jeglicher Grundlage. Eine industrialisierte Gesellschaft braucht Rechts- und Infrastrukturen. Sie braucht auch ausgebildetes Personal. Das sind Notwendigkeiten und keine kulturellen Eigenschaften und nein die Chinesen haben den protestantischen Arbeitsethos nicht adaptiert. Chinas Gesellschaft ist immer noch konfuzianisch geprägt mit recht strengen Reglements welches die Position des Einzelnen zur Gesellschaft bestimmen. Das ist inzwischen in Auflösung begriffen, was mehrere Ursachen hat. Auch die japanische Industriegesellschaft oder die indische funktionieren hier nach anderen gesellschaftlichen Regeln. So ist in Indien die Kastenzugehörigkeit immer noch ein entscheidendes wirtschaftliches Kriterium. Nicht der protestantische Arbeitsethos, sondern eher die globalisierte Industrieordnung bewirken hier aber eine Auflösung traditioneller Strukturen und das AUCH in Europa.
    Völlig wirr wird schließlich ihre Theorie vom überlegenen gottgewollten Arbeitsethos, wenn Sie diesen nun auf das heutige DE bzw. die jüngere dt. Geschichte anwenden. Einmal behaupten Sie, dass unsere „urdeutschen“ Fähigkeiten unsere Sonderstellung ausmachen, dann wiederrum prophezeien Sie den Niedergang anhand angeblicher kultureller/wissenschaftlicher Schaffenskraft und zunehmenden Analphabetismus. Ihre statistische Basis korreliert aber eben nicht. Die Analphabetenquote wurde um 1900 anders erfasst als heute. Und was ist denn nun Ihre allgemeine Aussage? Sie behaupten der Mittelstand ist unsere Innovativquelle. Das ist nicht falsch aber zu allgemein. Der „Mittelstand“ allein sagt nichts zum Industrialisierungsgrad aus. Dieser ist in DE sehr hoch. Genau jener industrialisierte Mittelstand ist aber der größte Profiteur des dt. Niedriglohnsektors. Dieser Mittelstand ist aber auch völlig abhängig vom Export, was die dt. Achillesferse ist. Ferner ist dieser Mittelstand auch keine Nischenindustrie wie Sie ständig behaupten, sie bieten allenfalls Nischenprodukte an, wobei dies allenfalls im Maschinenbau wirklich stimmt. Im Übrigen hatte ich in meinem letzten Statement über die dt. Kernindustrien den Präsens verwendet, nicht das Präteritum. Dass vor 1945 andere Prioritäten bestanden als heute, weiß ich auch.
    Es ist auch Quatsch, dass wir keine Ressourcen haben außer unseren Tugenden und Knowhow. Wie stellen wir denn unsere Produkte her, aus Luft? Unsere Industrie kauft billige Ressourcen (inzwischen jedoch mehr billige Ausgangsprodukte) aus Entwicklungs- und Schwellenländern auf und stellt damit hochwertige Exportgüter her. Dabei profitiert sie von einer Infrastruktur, die inzwischen nur noch auf Verschleiß fährt und von gut ausgebildeten, im europ. Durchschnitt, immer billiger werdenden Leih- und Vertragsarbeitern. Deutschland profitiert also ebenfalls vom immer noch gültigen imperialen System. Auch wenn koloniale Beziehung de jure nicht mehr existieren, de fact bestehen sie noch fort.
    Zum Schluss kommend, was die dt. Tugenden angeht, so zeigt Ihr Aldi-Gründer-Bsp. das Ihnen hier einige Grundlagen fehlen. Schon für Linkshänder wäre der rechtsliegende Bleistift nämlich eine Produktivitätseinbuße. Weiterhin ist es sehr müßig solche albernen Diskussionen und Spekulationen auf saudische Ölscheichs zu erweitern.

  2. ernst sagt:

    @Tei Fei Ihre Argumentationsweise war ziemlich vorhersehbar. Ich verzettele mich nicht, Ihnen gehen lediglich die Argumente aus. Darum noch einmal meine Antwort:

    1. „Dass die Mehrheit der Deutschen früher arm war (und heute wieder ist) ist eine Binsenweisheit.“ Solche Aussagen sind rundherum lächerlich. Einen heutigen Hartz-IVler kann man nicht mit einem Arbeitslosen der 1920er Jahre vergleichen. Mir ist nicht bekannt, dass Deutschlands „Arme“ millionenfach hungern, obdachlos sind, ausgezehrt und psychisch zerbrochen sind. Dieses Faktum ist keineswegs eine Binsenweisheit, sondern aus dem historischen Bewusstsein der Normalbürger weitgehend verschwunden, obwohl es eigentlich noch gar nicht so lange her ist. Ihr vollkommen dahergeholter Vergleich ist selbst das beste Beispiel dafür. Oder stehen vor Ihrem Haus täglich 20, 30, 40 Kinder, die um eine Suppe betteln? Wohl kaum.

    2. War „der“ Adel keineswegs in seiner Mehrheit „reich“ bzw „superreich“. Viele Junker in Ostpreußen waren in Wirklichkeit nichts anderes als gehobenes Bürgertum. Noch heute sind nicht alle Adelsfamilien superreich. In Wirklichkeit gab es da verschiedene Gruppen: Beamtenadel, Militäradel, Hochadel, Landadel, Industrieadel usw. Diese Aussage ist genauso so falsch, wie die Behauptung, „die“ Kirche sei reich gewesen. Es gab viele Klöster, die bettelarm waren. Fest steht, dass z.B. die Grafen von Württemberg oder die Markgrafen von Baden lange Zeit belächelt wurden, eben weil sie in der Relation „arm“ waren. Solche Verhältnisse waren durchaus nicht mit denen im übrigen Europa vergleichbar. Dazu reicht es nur, wenn man sich eine Landkarte von 1789 ansieht. Wo sind denn da die vielen Klein- und Kleinstaaten? Alles bedeutende und reiche Territorien? Lächerlich.

    3. Vergessen Sie, dass die Eisenbahn, der mechanische Webstuhl, die Dampfmaschine usw. englische Erfindungen sind. Mit den Kolonien hatte das direkt nichts zu tun, sondern mit einer spezifischen Unternehmerkultur, die profitmaximiert war. Profitmaximierung und Gewinnorientierung wurden religiös befürwortet, ganz im Unterschied zum Mittelalter oder anderen Kulturkreisen. Ich kann mit beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Puritaner, ein Methodist oder ein Baptist genauso ist wie ein Wahabit. Gleiches gilt auch für Reiche aus diesen Gruppen. Da gibt es große Unterschiede. Das wird auch heute von Geschäftsleuten immer noch so gesehen.

    4. Hatten Reichsstädte wie Nürnberg, die später in der Industrialisierung auch nicht bedeutungslos waren, ja auch keine „Kolonien“. Sie mussten gute Produkte liefern. Das wirkte innovativ genauso wie in rund 20, 30 anderen oberdeutschen Reichsstädten, die auch heute noch recht innovationsreich sind. Ja warum wohl? Weil man vor der Industrialisierung auf Dromedaren ritt?

    4. Kann man die Expansion Europas seit dem 16. Jahrhundert nicht begreifen, wenn man sich die innere Struktur der dortigen Länder nicht anschaut. Fest steht, dass es dort leistungsfähige Strukturen und Mentalitäten gab, die es erlaubten, andere Kontinente dauerhaft zu dominieren. Anders als etwa bei den Mongolen und China waren die Europäer den anderen Völkern immer und überall überlegen (Japan ausgenommen).

    5. Faseln Sie von einem „imperialen“ System: Nochmals: Wir hatten keine Kolonien. Kamerun und Südwestafrika waren Lachnummern, eine ganz kurze Episode. Das sind keine Absatzmärkte von Relevanz. Es gibt diesbezüglich keine Traditionen von Belang. Wenn wir Handelsstrukturen aufbauten, dann – mit wenigen Ausnahmen – fast immer nicht-militärisch. Gerade der arabische Raum ist das beste Beispiel dafür (Türkei, Bagdad-Bahn). Es gibt viele Beispieledafür, dass Deutschland schon im Kolonialzeitalter in Räumen aktiv war, die ihm nicht gehörten. Produkte von Siemens, MAN, AEG waren schon früher weltweit gefragt. Da brauchte man gar keine nationalen Absatzmärkte, weil man einen Konkurrenzvorsprung hatte. Und den hatte man sich „erarbeitet“. Heute ist das nicht anders.

    6. Machen Juden um 1900 mindestens 10% der Abiturienten aus, aber kaum mehr als 1 oder 2% der Bevölkerung. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das Lesen und das Schreiben in der jüdischen Religion (Intensivstudium, Textauslegung!) eine hervorragende Bedeutung haben. Das war bei den Katholiken halt anders. Dort interpretierte der Priester die Bibel, nicht der Gläubige. Wollen Sie leugnen, dass das im 19. Jahrhundert eine Rolle spielte?

    7. Ist der Mensch nicht die Inkarnation seiner ökonomischen Möglichkeiten – das ist Ihre komische Wunschsicht – , sondern seiner geistigen Potenzen. Man kann einem alles wegnehmen, seine geistigen Fähigkeiten, seine Talente und Tugenden kann man ihm nicht wegnehmen. Und darum sind viele, viele, viele ursprünglich bettelarme Juden und Deutsche gerade in Nordamerika überaus erfolgreich gewesen. Mein Großpapa, der so viel gehungert hat, hat sich zum Selfmademann gemaustert und am Ende 10 Häuser bzw. Wohnungen in bester Lage gehabt. Ebenso arme Verwandte waren noch erfolgreicher. Hat alles damit zu tun, dass man so benachteiligt ist.

    8. Kaufen wir unsere Ressourcen nicht nur aus armen Ländern, sondern durchaus aus entwickelteren Gebieten (Russland, Australien, Saudi-Arabien usw.). So simpel ist es nicht.

    9. „Eine industrialisierte Gesellschaft braucht Rechts- und Infrastrukturen. Sie braucht auch ausgebildetes Personal. Das sind Notwendigkeiten und keine kulturellen Eigenschaften“ Richtig, aber irgendwoher müssen diese Errungenschaften ja kommen. Sie müssen erst einmal anerkannt, befolgt bzw. akzeptiert werden. Oder glauben Sie, dass man sich im tiefsten Afghanistan um „Pünktlichkeit“, „Steuermoral“, „Bürgerlichkeit“ oder „Gesetzestreue nach Paragraph“ kümmert?
    Wieso findet man sie in der arabischen Welt eher nicht? Die Antwort ist einfach: Weil die meisten Menschen in Mittel- und Westeuropa vor der Industrialisierung bereits eine Sozialdisziplinierung erfahren hatten. Sie befehdeten sich nicht mehr, sie achteten ihre Landesherren, achteten die Gesetze, verhielten sich grundsätzlich loyal zum Staat und „arbeiteten“. Religion und die spezifisch geistig-sozioökonomische Situation haben bei dieser Sozialdisziplinierung eine herausragende Rolle gespielt. Max Webers Analysen fallen doch nicht vom Himmel!

    10. Wollen Sie Max Weber gänzlich in Frage stellen?

    11. Wollen Sie die Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit von Kulturen leugnen?

    12. Wollen Sie abstreiten, dass viele Millionäre und Milliardäre ganz klein angefangen haben?

    13. Wollen Sie abstreiten, dass der Westen keinen geistigen Einfluss auf Asien gehabt hat?

    14. Wollen Sie abstreiten, dass Religion für die Entwicklung der modernen Welt keine Rolle gespielt hat?

    15. Wollen Sie abstreiten, dass Religion jahrhundertelang einen enormen Einfluss auf die Philosophie, die Mentalität und den Alltag der Menschen hatte?

    16. Wollen Sie Facharbeiter ernsthaft mit Hilfsarbeitern vergleichen (im Hinblick auf die Bedeutung für unsere Volkswirtschaft)?

    17. Sind Sie der Meinung, dass der Billiglohn die Basis unseres Wohlstands ist?

    18. Sind Sie der Meinung, dass alle Menschen – abgesehen von ökonomischen Unterschieden – „gleich“ sind?

    19. Beruht Reichtum Ihrer Meinung nach auf Fähigkeiten, Tüchtigkeit oder auf der Zinsvermehrung und Besitz?

    20. Was ist denn Ihrer Meinung nach typisch für Deutschland (seit 1500)?

    21. Wo waren denn unsere „Imperien“? In Indien? In Amerika?

    22. Wer hatte mehr Interesse an seinen Untertanen? Der alte Fritz oder Peter der Große?

    23. Wollen Sie infrage stellen, dass viele deutsche Geistesgrößen „arm“ waren?

    24. Wollen Sie Marcel Reich-Ranicki widersprechen, der von einem geistigen Verfall in Deutschland gesprochen hat?

    Ich freue mich schon auf Ihre Anwort

  3. TaiFei sagt:

    @Ernst
    Wow, 9 Argumente und ganze 15 Unterstellungen.
    Nun denn, Begriffe wie absolute und relative Armut scheinen für Sie Fremdwörter zu sein. Natürlich lässt sich Armut zwischen Staaten der 1. Und der 3. Welt nicht 1:1 setzen. Sie neigen aber offensichtlich dazu, zu verallgemeinern. Wir sprachen ja eigentlich von der Armut in der dt. Geschichte und ich habe auch ganz bewusst geschrieben: „nämlich einen Teil des Adels und verstärkt ab dem späten Mittelalter des Bürgertums“ Also schieben Sie mir keine Aussagen unter, die ich gar nicht getätigt habe. Das scheint ja Ihr Problem zu sein. Sie verallgemeinern zu viel. Aus einzelnen Bsp. wie Ihren Großpapa versuchen sie volkswirtschaftliche Kausalitäten abzuleiten, was wissenschaftlicher Unsinn ist. Im Übrigen ritt man vor der Industrialisierung in DE eher auf Pferden oder benutzte Kutschen, die sich wiederum in den klimatischen Breiten Mittelasiens eher schlecht machen. Ich bestreite auch nirgends, dass es in DE kein gutes Handwerk gegeben hätte. Gute Handwerker gab es aber auch in anderen Gebieten dieser Erde. Dass es im 16. Jh. gefestigte Strukturen in Europa gegeben hätte, ist so auch nicht wahr. Die Reformationskriege und die Bauernaufstände fallen in diese Epoche welche eine enorme soziale Umwälzung nach sich zogen. Sie vergessen auch den 30jährigen Krieg zu Beginn des 17. Jh. der die dt. Lande praktisch ruinierte. Und selbst UK erlebte noch zu Beginn seiner Aufstiegsperiode einen brutalen Bürgerkrieg. Das die europ. Völker anderen immer und überall überlegen gewesen waren und wohl noch sind, disqualifiziert Sie praktisch von jeder wissenschaftlich relevanten Diskussion. Dazu passt auch Ihre Negation der Relevanz dt. Kolonien. Ihr Geschichtsbild ist überholt, nehmen Sie das bitte zu Kenntnis. Bei Ihren Studienzahlen zur jüdischen Bevölkerung ignorieren Sie die soziale Komponente. Was ja das nächste Problem Ihrer „Argumentationskette“ auszeichnet. Sie ignorieren eine wichtigen Satz der modernen materialistischen Philosophie „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“. Sie propagieren einen Mystizismus welcher sich gar nicht so sehr von dem fundamentaler Muslime unterscheidet.
    Natürlich importieren wir Ressourcen auch aus entwickelten Ländern, das ändert doch aber nichts am grundsätzlichen Abhängigkeitsgeflecht der Weltwirtschaft und ignoriert völlig historische Entwicklungen. Nehmen wir z.B. Australien; die Geschichte der nativen australischen Bevölkerung ist mit Beginn der Kolonisation eine Geschichte von Massakern, Diskriminierung und Unterdrückung. Noch bis die 1980er gab es Rassentrennung, Internierungslager, Familientrennung, Enteignungen u.ä. war bis weit ins 20. Jh. weit verbreitet. Es ist auch interessant, dass Sie Saudi-Arabien nun auch plötzlich zu den entwickelten Ländern zählen. Sie bleiben in Ihrer „Argumentation“ ja nicht mal konsistent. Über die Ausbeutung tausender Tagelöhner aus afrikanischen und asiatischen Ländern reden Sie natürlich auch nicht. [ernst sagt: 18. Januar 2017 um 20:06: „Oder glauben Sie, dass man sich im tiefsten Afghanistan um „Pünktlichkeit“, „Steuermoral“, „Bürgerlichkeit“ oder „Gesetzestreue nach Paragraph“ kümmert?“] Nun ist Pünktlichkeit eigentlich erst eine Notwendigkeit der Industrialisierung. Davor spielte diese auch in Europa eher eine untergeordnete Rolle. In Landwirtschaftlichen Gegenden war ein Leben im Tagesrythmus der Natur üblich und orientiert sich an Sonnenauf- und –untergangszeiten. Handel zwischen verschiedenen Regionen war eine Frage von Wochen oder gar Monaten, im Welthandel sogar von Monaten bis Jahren. Eine Just-in-Time-Wirtschaft ist nur das Wesen einer entwickelten Industrie. Pünktlichkeit ist also erst seit kurzer evolutionärer Zeit eine relevante Größe in der menschlichen Entwicklung, welche erst durch eine moderne Infrastruktur ermöglicht wird. Eine Abgaben- und Steuermoral ist aber auch anderen Gesellschaften immanent. Das trifft sogar im besonderen Maße für egalitäre, indigene Gesellschaften zu, welche praktisch kein Privateigentum kennen. Hier wird JEDES Produktivmittel der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Das Phänomen der Steuer- und Abgabenvermeidung ist dort praktisch unbekannt. Und natürlich ist ein Rechtskanon ein Merkmal JEDER menschlichen Gesellschaft. Diebstahl, Mord und Körperverletzung sind auch in jeder kleinen Dorfgemeinschaft in Afghanistan i.d.R. strafbewehrt. Dass sich der moralische Kompass in Kriegszuständen verschiebt muss ich Ihnen wohl eher nicht erklären. [ernst sagt: 18. Januar 2017 um 20:06 „Weil die meisten Menschen in Mittel- und Westeuropa vor der Industrialisierung bereits eine Sozialdisziplinierung erfahren hatten. Sie befehdeten sich nicht mehr, sie achteten ihre Landesherren, achteten die Gesetze, verhielten sich grundsätzlich loyal zum Staat und „arbeiteten“. Religion und die spezifisch geistig-sozioökonomische Situation haben bei dieser Sozialdisziplinierung eine herausragende Rolle gespielt.“] Eine soziale Disziplin ist Gegenstand JEDER menschlichen Gesellschaft. Anomische Verhältnisse sind in der Menschheitsgeschichte eher Ausnahme statt Regel und zwar weltweit. Soziale Hierarchien werden immer akzeptiert, solange sie eine Ordnung und gewisse Verteilungsgerechtigkeit gewährleisten können. Religion spielt hierbei eine wichtige Rolle ist aber immer nur Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, sprich den sozioökonomischen Verhältnissen übergestülpt, um diese zu legitimieren. Den Begriff „geistig-sozioökonomische Situation“ gibt es nicht. Was soll das GEISTIG hier bedeuten – Himbeergeist, Poltergeist?
    So nun zum Rest.
    Ja, ich hinterfrage Max Weber, zudem ist auch er, der damals üblichen Eurozentrik verhaftet. Außerdem war und ist Max Weber keineswegs unumstritten und das schon von Beginn an. Im Übrigen spricht selbst Weber (Protestantismus –Kapitalismus-Theorie) eher von Wahrscheinlichkeiten und nicht von Kausalitäten. Kulturelle Unterschiede habe ich nie bestritten, Sie sind aber weniger relevant als sozioökonomische Realitäten und wie diese auch nicht unveränderlich. Kulturelle Unterschiede sind exogene nicht endogene Eigenschaften und individuell auch sehr verschieden ausgeprägt.
    Ich streite keineswegs ab, dass viele reiche Menschen mal „klein angefangen“ haben. Das ist aber keine volkswirtschaftliche Konstante. Im Gegenteil, es ist statistisch nachgewiesen, dass die meisten Reichen in Europa, diesen Reichtum bereits seit vielen Generationen auf sich vereinen, in einigen Fällen reicht das mehrere hundert Jahre zurück.
    Ich habe auch nie einen Kulturexport des Westens bestritten. Allerdings hat es sowohl in der Geschichte als auch heute auch immer den umgekehrten Weg gegeben. Ferner haben Sie doch selber die Unterschiedlichkeiten von einzelnen Kulturen betont, sprich einen kulturellen Austausch negiert. Also was denn nun?
    Natürlich spielt Religion in der Menschheitsgeschichte eine wichtige Rolle. Die Entwicklung zur modernen Welt ist aber eher von der Säkularisierung geprägt. Die moderne Welt ist verbunden mit der Definition empirischer wissenschaftlicher Standards, die sich eben nicht zwangsläufig mit religiösen Dogmen in Übereinstimmung bringen lassen.
    Ich vergleiche Facharbeiter auch gar nicht mit Hilfsarbeitern. Sie unterstellen eine Kausalität von Billiglohn und prekären Arbeitsverhältnissen zu Hilfsarbeit. Das geht aber an der ökonomischen Realität vorbei. Und ja DE profitiert heute mehr denn je vom Billiglohn. Die Lohn-Stück-Kosten liegen in DE seit über 10 Jahren unter EU-Durchschnitt.
    Ich kenne Ihre Definition von „gleich“ nicht. Natürlich sind alle Menschen nicht gleich sondern eben sehr individuell. Im Gegenteil Sie unterstellen doch eine Gleichheit anhand geographischer und kultureller Maßstäbe. Allerdings befürworte ich natürlich eine Egalität bzw. Gleichwertigkeit.

    Ja Reichtum beruht auf dem Besitz von Produktionsmitteln. Das ist eine gesellschaftliche Tatsache. Sie schließt aber natürlich nicht aus, dass Reichtum auch mit anderen Mitteln erworben werden kann.
    Diskussionen, was angeblich typisch deutsch wäre, empfinde ich eher als müßig, zumal ich mich da auch selten wiedererkenne. Ja ich teile einige Eigenschaften mit anderen Menschen aus meiner Umgebung, in anderen Dingen unterscheide ich mich aber radikal.
    Zum restlichen Block ab 21.
    Puh, das wird langsam lächerlich. Ja DE hatte keine Kolonien in Indien und Amerika und? Ich rede von einer imperialen Weltordnung, welche de fact noch besteht. Die G6-Staaten bilden die wirtschaftliche Elite und das Wohlstandszentrum. Wir verbrauchen prozentual die meisten Ressourcen, wobei diese als Wirtschaftsgüter z.T. natürlich auch wieder zurückfliesen. Diese Ressourcen beziehen wir zum großen Teil aus weniger industriell entwickelten Staaten, welche sich oft lange Zeit im kolonialen Besitz befanden oder in kolonialähnlicher Abhängigkeit. Deren Volkswirtschaft wurde in dieser Zeit auf unsere Volkswirtschaft abgestimmt (Plantagen, Minen usw.) Ferner sind sie auch sichere Absatzmärkte für unsere industriellen Produkte, da vor Ort wenig Industrie oberhalb des primären Sektors existiert. Wir sichern diese wirtschaftliche Abhängigkeit heute durch Protektionismus in Form der WTO, IMF und Weltbank. So funktioniert im Wesentlichen immer noch die koloniale Ordnung. Durch die Weiterentwicklungen in der Industrie (Digitale Revolution) und die Suche nach besserer Kapitalverwertung ist seit den 80ern dieses System jedoch langsam in eine Schieflage geraten. Während in vielen Ländern der G6 eine Deindustrialisierung stattgefunden hat (Konzentration auf Dienstleistungssektor), haben andere Länder hier industriell zugelegt, das sind z.B. die Tiger/Panther-Staaten, wobei dies zu Beginn hauptsächlich durch ausländisches Kapital erfolgte (Asien-Krise 97 radikaler Abzug ausländisches Kapital). Bisherige Spitze der Entwicklung sind heute die BRICS, welche inzwischen wirtschaftlich nicht mehr zu ignorieren sind und die versuchen sich unabhängig zu machen (zukünftige Ablöse des USD im BRICS-Handel). Deutschland hat hier noch eine Sonderstellung, da die Deindustrialiserung nicht in gleichen Maß betrieben wurde, wie z.B. im UK.
    Ich lasse mich auch nicht auf solch lächerliche Diskussionen ein, wer jetzt der „bessere“ autokratische Herrscher war. Als Sachse habe ich zum ollen Fritz eher ein angespanntes Verhältnis, erst Recht durch seine völkerrechtlich fraglichen Aktionen im Siebenjährigen Krieg. ;) Wie Sie nun „geistige“ Größe, die Kriterien hierfür dürften eh sehr subjektiv sein, mit materieller Unsicherheit kausal in Verbindung bekommen ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich beziehen Sie sich hier auf den Satz: „Die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln.“ Das mag unter Umständen korrelieren, kausal ist es aber keinesfalls. Dass alte Herrschaften den kulturellen Verfall schon immer in der Menschheitsgeschichte beklagt haben, ist bekannt. Herr RR ist insofern keine Ausnahme, Scholl-Latour hat ähnliches von sich gegeben. Das hängt wohl mit einem gewissen Kulturpessimismus zusammen, der bei vielen im Alter auftritt. Ich teile diese Auffassung nur bedingt und würde somit beiden Herren auch widersprechen.

  4. ernst sagt:

    @Tei Fei

    1. Ich bin zufälligerweise in den Geisteswissenschaften habilitiert.
    Darum denke ich, dass ich mir ein ziemlich gutes Bild der historischen Verhältnisse in Deutschland machen kann. Es steht Ihnen natürlich jederzeit frei, sich für den besseren Fachmann zu halten. Ich unterstelle Ihnen nichts, sondern präzisiere Ihre Standpunkte: Jeder Kenner der Szenerie weiß, dass das Zitat „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ von Karl Marx stammt. Ihr ideologischer Standpunkt ist jetzt jedenfalls ziemlich klar. Interessant, dass Sie vorgeben, „wissenschaftlich“ zu argumentieren und gleichzeitig jemand zitieren, der kein professioneller Historiker und kein professioneller Ökonom war. Wenn man – wie Sie – rein aus dem Blickwinkel einer sozialistisch-marxistischen Ideologie urteilt, fällt es der Gegenseite naturgemäß schwer, auf der Basis von Fakten zu argumentieren. Dies fällt umso schwerer, als Sie auf meine Fragen konkret nicht eingehen. Das lege ich als argumentative Schwäche Ihrerseits aus.

    2.. Hat Deutschland von der imperialen Weltordnung anderer profitiert. Das stimmt. Es stimmt aber genauso, dass es fast genauso viel in die Schweiz exportiert wie nach China. Es stimmt genauso, dass Indien und Afrika – also gerade arme Länder und Kontinente – als Exportmärkte für uns nach wie vor ziemlich bedeutungslos sind. Ihr Argument kann also nicht ganz „ziehen“. Was z.B. für Großbritannien gilt, gilt für uns nur bedingt. Unser Reichtum beruht nur bedingt auf dem Export in ehemalige Kolonialländer. Zwischen 1945 und 1990 war vor allem der Export nach Europa und in die USA wichtig. Gerade das Wirtschaftswunder zeigt, dass der Export in die dritte Welt so gut wie keine Rolle spielte am Aufschwung nach dem Krieg. Die Rohstoffe haben wir bis ca. 1966 nämlich selbst abgebaut. Das Öl kam aus den – reichen – arabischen Ländern, und den USA. Arme Länder sind nicht die Basis unseres Wohlstands. Armut ist nicht die Basis von Reichtum, jedenfalls nicht in Deutschland. Das ist sozialistisches Wunschdenken.

    3. Die Thesen eines Max Weber, der in Teilen gewiss überholt ist, nicht aber in der Quintessenz, können nicht ganz wegdiskutiert werden. Der Mann war Zeitzeuge und beschrieb das, was er direkt in seiner Lebensumwelt vorfand: Überdurchschnittlich viele jüdische Dozenten, überdurchschnittliche viele protestantische Dozenten und unterdurchschnittlich viele katholische Dozenten. Er sah, dass Juden acht mal mehr Steuern zahlten als Katholiken, vier mal so viel wie Protestanten. Er sah, dass sie deutlich häufiger Unternehmen gründeten. Bitte geben Sie doch Antwort darauf, worin denn die Gründe für diese Unterschiede liegen. Frage: Hat die Religion bei der Entstehung einer Wirtschaftsethik Ihrer Meinung überhaupt keine Rolle gespielt?

    4. War Pünktlichkeit schon vor der Industrialisierung im deutschsprachigen Raum sehr gefragt („preußische Tugenden“). Das hat mit der Industrialisierung zunächst rein gar nichts zu tun:

    Aufrichtigkeit
    Bescheidenheit
    Ehrlichkeit
    Fleiß
    Geradlinigkeit
    Gerechtigkeitssinn („Suum cuique“ = Jedem das Seine)
    Gewissenhaftigkeit
    Ordnungssinn
    Pflichtbewusstsein
    Pünktlichkeit
    Redlichkeit
    Sauberkeit
    Sparsamkeit
    Unbestechlichkeit
    Zurückhaltung („Mehr sein als scheinen!“)
    Zielstrebigkeit
    Zuverlässigkeit

    5. Kann Armut sehr wohl sozialdisziplinierend wirken. Das ist eine Erkenntnis der modernen Psychologie. Wer arm war, hat gelernt, zu sparen, zu verzichten, zu arbeiten, erfinderisch zu sein usw. Er ist es gewöhnt, etwas zu leisten. Das gilt gerade für den unterprivilegierten Handwerker(=Facharbeiter), der alles daran setzt (und gesetzt hat), der Proletarisierung zu entfliehen. Darum ist die Gleichung arm=dumm nur bedingt richtig. Für die Slums in Afrika oder die proletarischen linken Milieus in Deutschland mag das gewiss zutreffen, nicht jedoch für die allgemeinen Verhältnisse in Mitteleuropa. Hierzulande gilt immer noch der Grundsatz: Wer etwas leistet, wird etwas. Das ist unsere Kultur.

    6. Ist Armut in Europa vor 1930/40 durchaus mit der in der heutigen dritten Welt vergleichbar (sehr hohe Kindersterblichkeit, Hungerkrisen, Hungertote), wobei es von Land zu Land selbstverständlich große Unterschiede gibt. Wollen Sie leugnen, dass dies Einfluss auf die Mentalität der Deutschen gehabt hat? Wollen Sie leugnen, dass das einen Einfluss auf den Arbeitswillen der Westdeutschen nach 1945 gehabt hat?

    6. Kann man die Welt nicht wie Marx aus rein materialistischer Sicht sehen. Der große Mangel bei Marx liegt ja gerade darin, dass er alle historische Epochen als Abbild der Seinen ansieht, ohne zu begreifen, dass jede Epoche in sich „autark“, unverwechselbar und nicht vergleichbar ist mit anderen. Zur Zeit Karls des Großen gab es halt weder Microsoft noch Siemens. Darum ist es unsinnig, den materialistischen Sozialismus auf Verhältnisse zu übertragen, die mehr oder wenig vormodern-„biblisch“ waren. Selbst wenn Marx Unterschiede zwischen den Epochen sieht, betrachtet er die vergangenen Epochen doch stets aus der Sicht seiner Zeit, ein Umstand, der ihn wissenschaftlich weitgehend disqualifiziert. Denn eine Epoche muss man immer aus sich selbst heraus begreifen (was zugegebenermaßen sehr schwierig ist, da man immer zeitgebunden urteilt. Das Wissen um diese Zeitgebundenheit ist bei Marx aber nur bedingt vorhanden).

    7. Liegt das Hauptproblem von Marx darin, dass er den Mensch nur bedingt als Wesen begreift, das von psychischen und kulturellen Bedürfnissen angetrieben wird. Marx sieht den Menschen grundsätzlich als Subjekt, nicht als „geistiges Wesen“ (Dass es da und dort Stellen gibt, die in eine andere Richtung gehen, leugne ich nicht).
    Das ist bei Weber schon anders: Der sieht zuerst das Innere des Menschen. Das ist auch Ihr Problem. Mein Vorwurf: Sie begreifen Menschen im Großen und Ganzen nur als äußere Hüllen, ohne Individualität, geistigen Eigenwert, originelle Kraft und eigene Identität. Sozialismus halt. Wenn Sie Gegenteiliges behaupten, dann doch nur sehr halbherzig. Die Möglichkeit, dass das Bewusstsein das Sein bestimmen könnte, ist Ihnen jedenfalls fremd.

    8. Kann man darüber streiten ob der Materialismus/Kapitalismus eine Religion ist oder nicht. Nicht bestreiten kann man, dass Kriterien wie Arbeit, Konsum, Leistung und Erfolg sowohl im Sozialismus (Staatskapitalismus) als auch im westlichen Kapitalismus (freier Kapitalismus) religiöse Züge aufweisen. Die These Weber besteht ja – auf den Punkt gebracht – gerade darin, dass er feststellt, dass Kapitalismus eine Religion ist, eben eine geistig-sozioökonomische Macht. Einen Urwaldmenschen, der sein ganzes Leben unberührt war von unserer Welt, können Sie jedenfalls nicht ohne Weiteres an ein Fließband stellen, zumindest nicht ad hoc. Er wäre überfordert, schon aus mentalen Gründen, nicht weil er „dumm“ wäre oder „unfähig“, sondern weil das seinem kulturellen Konditionierung nicht entspricht. Diese kulturelle Konditionierung war in Europa nun einmal anfänglich christlich geprägt. Diese christliche Prägung ging verloren, ohne dass die Arbeitsideologie ihren religiösen Charakter verloren hat. Das ist der Punkt.

    9. Existiert in Afghanistan zwar gewiss die Vorstellung, was Recht sein könnte, tatsächlich ist die Situation aber anders: Es herrscht vielerorts Faustrecht, da ein funktionierender Rechtsstaat nicht existiert. Darum ist die Bereitschaft der normalen Menschen, ihr Rechtsverständnis im mitteleuropäischen Sinn schwach ausgeprägt. Diebstahl, Körperverletzung usw. sind dort Alltag, Teil der soziokulturellen Prägung. Was als Staat gilt, wird in Wirklichkeit als Räuberbande empfunden. Wieso also „staatsbürgerliche Tugenden“?
    Was dort zählt ist der soziale Verband, die sozialen Bande. Das ist ihre soziale Konditionierung, nicht die „staatsbürgerliche“ Orientierung. Mit der könnten Sie in Afghanistan nur wenig anfangen, lieber Sachse! Dass die „soziale Disziplin“ Teil einer jeden Gesellschaft ist, ist sonnenklar, sonnenklar ist freilich nicht die spezifische Ausprägung dieser sozialen Disziplin. Im Knast gilt eine andere soziale Disziplin als bei der Kaffeerunde bei Loriots! Im Slum in Nairobi gelten andere Normen als im BMW-Werk in Sachsen. Die Frage bleibt, warum das so ist. Die Antwort hat wesentlich mit „Geschichte“ und kultureller Prägung. zu tun. Und genau darum geht es.

    Mein Standpunkt ist: Der Mensch ist ein „Kopfwesen“, Ihr Standpunkt ist: „der Mensch ist die Inkarnation seiner ökonomischen Verhältnisse“. Ich empfehle Ihnen daher: Unternehmen Sie eine Reise an den Amazonas. Suchen Sie nach den „Produktionsmitteln“ und Bankkonten der Indianerhäuptlinge im tiefsten Urwald. Könnte ja sein, dass die Nummernkonten in Singapur haben …

  5. TaiFei sagt:

    @ Ernst
    Interessant, ist eher, dass Sie Karl Marx als wichtige Reverenz in der philosophischen/ökonomischen Welt ignorieren. Und was heißt hier nicht professionell? Weil er keinen Lehrstuhl innehatte oder was? Ihre restliche Argumentationskette pro Weber contra Marx ist dann absolut an den Haaren herbeigezogen:
    „Die Thesen eines Max Weber, der in Teilen gewiss überholt ist, nicht aber in der Quintessenz, können nicht ganz wegdiskutiert werden. Der Mann war Zeitzeuge und beschrieb das, was er direkt in seiner Lebensumwelt vorfand“ „Selbst wenn Marx Unterschiede zwischen den Epochen sieht, betrachtet er die vergangenen Epochen doch stets aus der Sicht seiner Zeit, ein Umstand, der ihn wissenschaftlich weitgehend disqualifiziert.“ „Der große Mangel bei Marx liegt ja gerade darin, dass er alle historische Epochen als Abbild der Seinen ansieht, ohne zu begreifen, dass jede Epoche in sich „autark“, unverwechselbar und nicht vergleichbar ist mit anderen. Zur Zeit Karls des Großen gab es halt weder Microsoft noch Siemens. Darum ist es unsinnig, den materialistischen Sozialismus auf Verhältnisse zu übertragen, die mehr oder wenig vormodern-„biblisch“ waren.“
    Diese Zitate von Ihnen zeigen recht deutlich, dass Sie hier ideologisiert arbeiten. Weber war also Zeitzeuge und hat seine Lebensumwelt beschrieben. Marx war aber ebenfalls Zeitzeuge und hat seine Lebensumwelt beschrieben. Während Sie Weber zugestehen, hier allgemeine „kausale“ Bewertungen treffen zu können, verweigern Sie Marx diese Erkenntnisgewinnung. Und das auf Basis von …, ja was eigentlich? In der Periode von Karl den Großen war protestantischer Arbeitsethos auch völlig unbekannt. Was hat das also mit Weber zu tun. Marx wendet doch keinen „Sozialismus“ auf das Frühmittelalter an, er analysiert dort allenfalls die sozioökonomischen Abhängigkeiten. Genau solche hat es nämlich zu jeder Zeit gegeben. Wirtschaft besteht ja nicht erst seit der Renaissance. Eine Wirtschaft mit der ihr innewohnenden Ethik hat die Menschheit mindestens seit Beginn der Ackerbaugesellschaft und das mit allerlei wechselnden Religionen. Daher ist nicht eine Religion die Basis von Wirtschaft sondern umgekehrt Religion legitimiert wirtschaftliche Verhältnisse. Gerade Ihre „Urwaldmenschen“-Bsp. unterstreicht doch meine Argumentation. Dieser wurde unter anderen sozioökonomischen Verhältnissen sozialisiert. Er kann sich den neuen Verhältnissen anpassen oder auch nicht. Mit dem Christentum hat das aber nichts zu tun. Chinesische Fließbandarbeiter sind keine Christen, indonesische Fließbandarbeiter sind keine Christen, malayische Fließbandarbeiter sind keine Christen. Ich könnte das noch ziemlich weit ausführen. Umgekehrt sind viele arbeitslose Stahlarbeiter im US-amerikan. Rustbelt sehr wohl Christen und sogar ziemlich viele Protestanten. Wie kommt es, dass die Wirtschaft im hauptsächlich muslimischen Indonesien durchaus prosperiert, während im protestantisch geprägten Rustbelt die wirtschaftliche Basis praktisch vor dem Zusammenbruch steht. Ihr Christengeschwurbel hat nichts aber auch gar nichts mit globalen, wirtschaftlichen Entwicklungen zu tun.
    Und noch einmal, das Steueraufkommen der jüdischen Bevölkerung sagt weniger über die Wirtschaftsethik, als viel mehr über die sozioökonomischen Verhältnisse aus. Juden waren in der europ. Geschichte von vielen Gewerken ausgeschlossen. Sie konzentrierten sich daher in bestimmten wirtschaftlichen Bereichen, welche später vom internationalen Handel und vom Geldwesen besonders profitierten. Die Basis war aber hier nicht deren „Ethik“ sondern die Diskriminierung in der europ. Gesellschaft des Mittelalters.
    Was Ihre „preußischen“ Tugenden angeht. Machen Sie doch bitte mal den Test und setzen diesen Tugenden die entsprechenden Negationen gegenüber und dann erklären Sie mir mal WELCHE Kulturen dieser Welt irgendeine dieser Negationen als anstrebenswert propagiert. Merken Sie was? Ferner ist es schon interessant, dass Sie die Gleichung „dumm = arm“ (welche ich übrigens nie gebraucht habe) für Afrika als gültig bewerten. Sie vergessen, dass das eine Gleichung ist, sprich beide Teile austauschbar sind. Und hier wird diese Gleichung nämlich kritisch. Damit ist jeder Arme also auch Dumm. Das ist nicht nur sozialdarwinistisch, sondern widerspricht auch „23. Wollen Sie infrage stellen, dass viele deutsche Geistesgrößen „arm“ waren?“ Um diese Divergenz zu lösen, fallen Sie einfach in rassistische Denkmuster zurück, in dem Sie das ganz einfach geografisch und teils auch soziologisch einschränken wollen. Dann hilft es eben auch nicht, das mit „kultureller Prägung“ zu legitimieren. „Im Knast gilt eine andere soziale Disziplin als bei der Kaffeerunde bei Loriots! Im Slum in Nairobi gelten andere Normen als im BMW-Werk in Sachsen. Die Frage bleibt, warum das so ist. Die Antwort hat wesentlich mit „Geschichte“ und kultureller Prägung. zu tun.“ Ersten sitzen im Knast auch jede Menge Menschen aus christlichen Kulturkreisen und selbst im Slum von Nairobi werden sie auch bestimmt mehr Protestanten finden als im BMW-Werk bei Leipzig. Die Mehrheit der Bevölkerung ist hier nämlich atheistisch. Ferner vergessen Sie immer die Tatsache, dass Kultur eben ein exogenes und variables Element der menschlichen Prägung ist. Es wirkt IMMER von außen, ist in ständiger Veränderung und direkt abhängig von den sozioökonomischen Bedingungen der Umwelt. Womit wir nach Afghanistan gehen wollen:
    Dass in weiten Teilen der Gesellschaft dort angeblich Faustrecht besteht, wage ich zu bezweifeln. Selbst die Taliban sind eine „Werte“gemeinschaft, auch wenn wir deren Werte nicht teilen und Diebstahl wie Körperverletzung sind keineswegs frei jeglichen Rechtskanons. So dürfte der Diebstahl einer Ziege durch einen Bauern beim Nachbarn ganz bestimmt Konsequenzen nach sich ziehen, während der Diebstahl an Steuergeldern sicher lange Zeit eher ungesühnt bleiben dürfte, zumindest solange die herrschende Clique nicht wechselt. Ähnlich ist das auch bei der Körperverletzung. Wir haben also auch in Afghanistan in weiten Teilen durchaus einen Rechtskanon (Übrigens entsprach die Endlösung in DE damals auch gültigem Rechtskanon). Die Anwesenheit von Werten bzw. eines Rechtskanons allein besagt also erst einmal wenig. Ferner befinden sich weite Teile in kriegsähnlichen Zuständen zwischen innerafghanischen Parteien aber auch mit ausländischen Kräften. Krieg hat in keinem Land staatbürgerliche Tugenden befördert. Da Afghanistan grundlegend andere sozioökonomische Verhältnisse auszeichnet als Mitteleuropa, sind die kulturellen ebenfalls stark abweichend, während im ebenfalls muslimischen dominierten Indonesien eine Annäherung an westl. sozioökonomische Verhältnisse begonnen hat, welche unter der partizipierenden Bevölkerung auch ähnliche bürgerliche Werte hervorbringen. In China, Thailand oder Vietnam sind ähnliche Entwicklungen sichtbar. Jedoch sind und bleiben auch erhebliche Unterschiede bestehen, da die Industrialisierung heute in SO-Asien z.B. anders verläuft als vor 200 Jahren in Mitteleuropa.
    Womit wir wieder in DE wären. Die wirtschaftliche Situation in DE war nach 1945 eine ganz andere als zu Beginn der Neuzeit und da wiederum eine andere als bei der Reichsgründung 1871. Sie können nicht sämtliche Perioden einfach in einander schmeißen. Nach 1945 war das zentrale Element der dt. Wirtschaft der Wiederaufbau Deutschlands und Europas, deren Wirtschaft übrigens Deutschland zuvor ursächlich nachhaltig zerstört hat. Der maßgebliche Schub des „Wirtschaftswunders“ setzte übrigens erst nach dem Londoner Schuldabkommen ein. Besonders Relevant waren auch die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA die aber im Zeichen des kalten Krieges bewertet werden müssen, siehe hier übrigens auch Japan und Südkorea. Wären die Westalliierten z.B. zu der Erkenntnis gelangt, dass z.B. der Morgenthau-Plan für das Nachkriegsdeutschland umgesetzt werden sollte, würden wir hier eine ganz andere Diskussion führen. Ferner ignorieren Sie mit ihrem Verweis auf die Ölimporte wieder sämtliche historischen Zusammenhänge. Die USA ist kein Staat indigener Amerikaner, sondern ein Produkt der europ. Expansion. Die arabischen Golfmonarchien wurden durch die Engländer als Gegengewicht zu den Osmanen erst möglich. Ferner wird gerade dort ein Großteil des Gewinns durch ausländische Vertragsarbeiter erwirtschaftet, welche wiederum als ärmeren Regionen Afrikas und Asiens stammen. Letztendlich landen wir halt immer bei imperialen Strukturen, welche eben noch bis heute nachwirken. Nun mag DE hier global selbst immer nur eine zweitrangige Rolle gespielt haben, profitiert hat es aber eben IMMER. Selbst die Schweiz profitiert bis heute stark davon und das ganz ohne direkte koloniale Ausbeutung. Sie ignorieren hier bewusst globale Abhängigkeiten und historische Zusammenhänge. Ich leugne, im Gegensatz zu Ihnen, überhaupt keine Abhängigkeiten. Natürlich hat die Armut in weiten Teilen der europ./dt. Bevölkerung Einfluss auf die Mentalität gehabt. Wenn Sie aber schreiben „Ist Armut in Europa vor 1930/40 durchaus mit der in der heutigen dritten Welt vergleichbar (sehr hohe Kindersterblichkeit, Hungerkrisen, Hungertote), wobei es von Land zu Land selbstverständlich große Unterschiede gibt. Wollen Sie leugnen, dass dies Einfluss auf die Mentalität der Deutschen gehabt hat? Wollen Sie leugnen, dass das einen Einfluss auf den Arbeitswillen der Westdeutschen nach 1945 gehabt hat?“ Wieso hat die Armut der dritten Welt keinen Einfluss auf deren Mentalität und Arbeitswillen? Wieso vergleichen Sie die Armut in Europa 1930/40 mit der heutigen in der dritten Welt? Ihre ganze Argumentation arbeitet mit unzulänglichen Vergleichen und Behauptungen.
    Weder Materialismus noch Kapitalismus sind Religionen. Darüber kann man auch nicht streiten und der Begriff des Subjekts wird in der Philosophie auf das erkennende Ich angewendet. Damit ist Ihr „Geist“ bereits inkludiert. Daher geht Ihr Vorwurf, ich würde den Menschen nur als Hülle betrachten, ins Leere. Im Gegenteil, ich habe die menschliche Individualität hier immer betont. Sie sind es, der sie negiert. Sie behaupten eine göttliche Lehre würde Kultur eines Menschen bestimmen. Sie leugnen damit die menschliche Selbstbestimmung. Sie negieren menschliche Kultur und Schaffenskraft, sofern diese nicht Ihre gottgewollten Ethik und Tugend teilt. Nicht die Religion bestimmt den Menschen sondern der Mensch bestimmt die Religion, da diese ohne den Menschen gar nicht existiert. Das Christentum/der Protestantismus würden anders gar nicht existieren, denn die Menschheit gibt es schon viel länger. Ich leugne die Selbstbestimmung keineswegs, ich schränke diese nur dahin gehend ein, dass die Selbstbestimmung sozioökonomischen Zwängen unterworfen ist. Ferner ist der Satz:“ Das ist bei Weber schon anders: Der sieht zuerst das Innere des Menschen.“ völliger Blödsinn. Was bitte ist das Innere des Menschen, seine Knochenstruktur, sein Kreislaufsystem, sein Gehirnmasse? Der menschliche Ideenreichtum, seine kulturellen Errungenschaften sind nicht irgendetwas Inneres. Sie sind Ausdruck seines Erfassens und Verstehens der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt, sie sind Produkte der gesellschaftlichen Interaktion mit anderen Menschen, des Austauschs von Gedanken und Gefühlen. Sie sind wissenschaftlich also zu allererst exogene Einflüsse welche der Mensch in der Lage zu verarbeiten und zu bewerten ist. Diese Möglichkeiten stehen grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung und nicht nur Menschen, welche einen bestimmten Kontinent bewohnen oder eine bestimmte Religion für sich als gültig erachten.

  6. Gertrud sagt:

    Herzlichen Dank für diese gute Zusammenfassung, Frau Kaddor. Bitte, mehr davon und mehr in vielerlei Medien verbreiten.

    Alleine schon die wunderbaren kulturellen/ handwerklichen Leistungen vor vielen Jahrtausenden sowie die sehr erfolgreiche (Pflanzen- und Alternativ-) Medizin zeugen von einem so hohen Standard wie ihn westl. Länder nicht erreichen werden. Ein ausgebildeter afghanischer Arzt/ Chirurg hatte z.B. in Indien schon Ende der 1900- Siebziger /Anfang der Achtziger Jahre mit erfolgreichen alternativen Methoden gearbeitet, die zu dem Zeitpunkt grade mal bei uns diskutiert wurden und auch nur wenigen überhaupt bekannt waren.

    Und diese Menschen durften/dürfen dann bei uns nicht oder sehr lange nicht arbeiten. Bei Praktika stellen sie fest, wie rückständig wir sind.

    Wir sind in vielerlei Hinsicht ein Entwicklungsland, auch die Gastfreundschaft betreffend, von der wir in anderen Ländern doch immer so begeistert sind.

    Die arrogante und überhebliche Art sehr vieler EuropäerInnen, sehr vieler Deutscher beruht auf Nichtwissen, Ignoranz und einem Denken, das uns für den weisesten Mittelpunkt der Welt hält. Dieses Denken wird leider gelernt und gelehrt…

    Und die Integration: Schauen wir uns die Deutschen doch mal in anderen Ländern an, wie sie sich zusammenschließen, nah beieinander wohnen (wollen), in deutschen Läden kaufen oder selbst welche eröffnen, nicht dran denken, die Sprache zu lernen etc. etc.

    Es wird nicht genügend darauf hongewiesen, was in Europa/ Deutschland noch vor 20, 75, 100 und mehr Jahren los war und welche unglaublichen Gesetze bis vor wenigen Jahren hier noch galten und wieviele immer noch aus der Nazi-Zeit!!

    Bei diesen Gegenüberstellungen sehen wir einfach nur schlecht aus, nehmen die Schnauze aber wohl auch deswegen so voll…

  7. ernst sagt:

    @Tei Fei Der Export von Ulmer Uhren, Reutlinger Messgeräten, Nürnberger Rechengeräten, Augsburger Feinmechanik, astronomischen Geräten seit dem 15./16. Jahrhundert hat mit dem Imperialismus genausowenig zu tun wie die Herstellung von See- und Weltkarten durch Nürnberger Astronomen und Handwerker. Der Zusammenhang besteht bestenfalls indirekt.
    Ohne über eigene Kolonien zu verfügen waren deutsche Spezialisten bei der Errichtung von Bergwerken und der Entwässerung von Seen in Amerika sehr gefragt. Ohne Grund hat es auch unter den ersten Navigatoren nicht wenige Italiener gegeben. Wieso hat man Leute aus Länder geholt, die keine Kolonien hatten? Wieso Fremde aus Zentraleuropa? Die Mitte Europas musste Spanien, Egnland und Portugal etwas voraus haben. Was war das? Antwort: Bildung und know-how. Das kann man drehen und wenden wie man will. Mit „Macht“ hatte das nichts zu tun. Oder war Nürnberg eine Weltstadt damals?
    Der Vertrieb von Nürnberger Draht in aller Welt, kann mit der Sklaverei nicht erklärt werden. Die Erkenntnis, dass Zeit relativ sein könnte, hat mit der Ausbeutung der Westküsten Afrikas nichts zu tun.
    Wenn die Jesuiten in China waren, mag das mit dem Kolonialismus zu tun gehabt haben. Gewiss. Entscheidend war aber, dass man die Leute in China wollte, weil sie einen Wissensvorsprung hatten. Vergessen Sie auch nicht, dass schon die Franziskaner mindestens seit dem 14. Jahrhundert dort präsent waren. Odorich von Portenau und Marco Polo waren kein Imperialisten! Auch Johannes Kepler, Kopernikus, Erasmus von Rotterdam und Martin Luther kann man nicht als Profiteure/Exponenten eines Militärapparats hinstellen. Sie lebten in weitgehend „kleinen“ Lebenszusammenhängen. Gleichwohl ist ihr Einfluss auf die geistige Entwicklung der gesamten modernen Welt unbestritten.

    Fakt ist: Die Globalisierung ging von Europa aus und zwar schon im 13. Jahrhundert. Der geistige Einfluss Europas manifestiert sich in europäischen Weltsprachen (Griechisch, Latein, Englisch, Französisch, Deutsch) und im Buch (eine europäische Erfindung!), um nur zwei markante Beispiele für Europas Dominanz zu nennen. In Chinas Bibliotheken stehen eben „Bücher“ und keine Rotuli und die Dänische köngiliche Bibliothek hat nicht ganz von ungefähr mehr Bücher als die größte chinesische Bibliothek. Das können Sie drehen und wenden wie Sie wollen. Oder hatte Dänemark ein Weltreich, mit dem es sich „Bildung“ „kaufen“ konnte? Fest steht doch, dass moderne Bibliotheken ohne den Wissenstransfers aus Europa undenkbar wären und zwar weltweit. Ein ganz erheblicher Teil aller Bücher weltweit war in deutscher und lateinischer Sprache gedruckt bis weit in die Neuzeit hinein und nicht in Französisch, Englisch, Spanisch oder Chinesisch. Nehmen Sie das zur Kenntnis! Folgen Sie der Spur des Buches und Sie werden an Europa nicht vorbeikommen.

    https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c1/Druckorte_Inkunabeln.svg

    https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCcherverluste_in_der_Sp%C3%A4tantike#/media/File:Bibsta4.jpg

    Fazit: Ihr geschichtliches Weltbild stammt aus der Zeit des real existierenden Sozialismus! Sie übersehen, dass Deutschland nicht nur ein kapitalistisches, sondern ein geistiges Zentrum ersten Ranges ist und nicht irgendein Kuhdorf! Dieses Erbe zu negieren wäre ausgesprochen dämlich und nichts anderes als Geschichtsverfälschung! Vergessen Sie nicht, dass die allermeisten Nobelpreisträger einen zentraleuropäisch-weißen Background haben, auch die US-amerikanischen und israelischen. Und wenn es ein Asiate in diesen Kreis schafft, hat er meist in Oxford oder an der Sorbonne studiert, Traditionsunis aus dem Mittelalter.

  8. posteo sagt:

    Gertrud sagt:
    25. Januar 2017 um 12:14

    Ihre Einzelfallbeispiele ändern nichts daran, das es ungleich mehr Menschen aus der islamischen Welt in den Westen zieht als umgekehrt, und sei es nur als Medizintouristen. Somit spielt es offenbar keine Rolle, was vor 20, 100 oder gar 1000 Jahren war.
    Die viel gerühmte Gastfreundschaft ist mit der dauerhaften Aufnahme von Zuwanderern nicht zu vergleichen. Die Auslandsdeutschen beanspruchen als Fachkräfte oder deutsche Rentenbezieher weder öffentliche Gelder noch öffentliche Aufmerksamkeit, ob sie unter sich bleiben oder nicht, spielt daher keine Rolle.
    Nicht restlos geklärt bleibt weiterhin, warum die islamische Hochblüte bereits nach wenigen Jahrhunderten wieder unterging.

  9. Jochen sagt:

    @posteo Sie ging unter, weil man, nachdem die griechische Kultur übernommen worden war, wenig leistungsfähige Großgebilde schuf, die keine Individualität zuließen.

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