HEYMAT
Endlich wird mal darüber gesprochen?
Worüber Deutschland "endlich" redet und worüber nicht: Rassismus, Ängste und Verunsicherungen in einem sich verändernden Einwanderungsland Deutschland, das nicht weiß, wie es in 20 Jahren aussehen wird. Naika Foroutan in ihrer HEYMAT Kolumne auf MiGAZIN.
Von GastautorIn Freitag, 24.12.2010, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.01.2011, 2:00 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Immer wieder hört man nach diesen Monaten die Aussage, „es sei doch gut, wenigstens würde jetzt offen darüber gesprochen“. Für all Jene, die seit fünf Jahren offen und konstruktiv an der Integrationsproblematik arbeiten, ist das ein Schlag ins Gesicht.
Denn, Fakt ist: Seit Jahren wird täglich über die Integration von Muslimen in Deutschland debattiert – in den Medien, der Politik, den Ländern, Kommunen und Städten, den Quartiersmanagements, in der Polizei, in den Kindergärten und Schulen. Es gibt eine sehr aktive und engagierte Politik, Selbsthilfe und Stadtentwicklung, die von Menschen mit Migrationshintergrund maßgeblich mitgetragen wird, um beidseitig und ausgewogen an einem gemeinsamen Deutschland zu arbeiten. All das wird weggewischt, da „der Bürger“ offensichtlich das Gefühl hat, es hätte sich in den letzten Jahren alles zum Schlechteren entwickelt.
In dieses gärende Gefühl, das sich durch die Verunsicherung der Mittelschicht erklären lassen könnte, die in Zeiten ökonomischer Krisen und gesellschaftspolitischer Verunsicherung um den Erhalts ihres Lebendmodells fürchtet, knallte dieses Buch hinein mit seinen unverhohlen geäußerten Abwertungen gegenüber jener Gruppe, die als die unbekannteste und bedrohlichste Gruppe der „Fremden“ wahrgenommen wird und bestärkte die Sehnsucht danach, dem angestauten Unwohlsein in Deutschland Ausdruck zu verleihen. Es sind tief sitzende Ressentiments, die seit dem nach außen dringen, die nun geäußert werden, nicht mehr verschämt, sondern eher trotzig, selbstbewusst und aggressiv – endlich darf vergrabene, nicht aufgearbeitete Fremdenfeindlichkeit offen und laut geäußert werden. Ist es das, was so viele meinen, wenn sie sagen, endlich wird mal darüber gesprochen?
„Was wir verpasst haben ist, über Rassismus, Ängste und Verunsich- erungen in einem sich verändernden Einwan- derungsland Deutsch- land zu sprechen, das nicht weiß, wie es in 20 Jahren aussehen wird.“
Tatsächlich stellt sich die Frage, wann wir endlich auch DARÜBER sprechen? Vier Monate haben wir damit verbracht über „Integration“ zu sprechen und haben wiederholt, was bereits seit fünf Jahren in Gesetze eingeflossen ist. Was wir verpasst haben ist, über Rassismus, Ängste und Verunsicherungen in einem sich verändernden Einwanderungsland Deutschland zu sprechen, das nicht weiß, wie es in 20 Jahren aussehen wird. Die Aggression mit der besonders Personen aus der Mittelschicht reagieren, wenn man sie auf ihre Ressentiments anspricht, lässt erahnen, wie viel hier noch aufbereitet werden müsste. Gerade jene Angehörige der Mittelschicht, die in ihrem Umfeld meist in vollkommener Abgrenzung zu Muslimen leben und als Kronzeugen ihrer Offenheit den türkischen Schneider, Dönerverkäufer oder Taxifahrer benennen, haben ihre Freundeskreise weitestgehend homogen, ohne eine einzige Person muslimischen Hintergrunds strukturiert und erheben aus dieser Trutzburg heraus Vorwürfe der Abschottung.
Wir haben Homophobie, Machismo, Antisemitismus und Islamismus „bei Muslimen“ täglich auf der Agenda. Auch dies führt zu offener Selbstkritik aber auch zu Emanzipationsprozessen. Diese offene Selbstkritik im Umgang mit Jenen, die mal Ausländer waren und nun offensichtlich zu Deutschland gehören sollen und wollen muß hier gesamtgesellschaftlich – also auch von Seiten der deutsch-Deutschen geleistet werden. Es bringt nichts, sich hinter Sarrazin zu verstecken. Aktuell Meinung
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Ich möchte einen weiteren Aspekt anbringen: Vielleicht geht es bei diesem „Konflikt“ gar nicht un die Existenzangst der Mittelschicht, sondern um einen schlichten Generationenkonflikt ähnlich der 1968er-Bewegung. Denn letztenendes geht es in dem sich „neuernden“ Deutschland um Öffnung: Öffnung von starren Strukturen, die nur der bürgerlichen Kleinfamilie ohne Migrationshintergrund „Normalität“ zusprechen und ihr bei der Realisierung ambitionierter Berufswünsche strukturbedingt die größten Chancen einräumen. Um die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensmodelle, von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften (und siehe da: auch hier hinkt die Rechtssprechung der Realität hinterher) bishin zu Mehrgenerationenwohnquartieren (zur Erleichterung betreuungs- und/oder pflegebedürftiger Angehöriger/ Kinder oder einfach Nachbarn). Es geht um die Überwindung von Augenrollen, wenn nach der Zusammensetzung eines Gerichts gefragt wird, weil der/ die Fragende Veganer/in ist, um endlich mehr Frauen in Führungspositionen (ist im internationalen Vergleich wirklich peinlich!), um barrierefreie Gebäude, um das Nicht-Verziehen des Gesichts, wenn jemand erklärt, das er/ sie mit dem gleichgeschlechtlichen Partner und drei aus unterschiedlichen Ländern adoptierten Kindern glücklich zusammenwohnt und um ein bürokratisches und bildungsverstärkendes System, das a l l e m gerecht werden kann.
Und ich weiß auch, welche Reaktion ich mit diesem Posting bei bestimmten Personen auslöse: Die rückständigen Muslime seien diejenigen, die eigentlich eine genau entgegen gesetzte Richtung vorgeben. Liebe Diskutant/innen: Distanzieren Sie sich mal mit fünf bis zehn Schritten von Ihrem „Untersuchungsobjekt“ und schauen Sie sich das Gesamtbild an und die Entwicklungen der letzten 30 Jahre: Was ist für die „Mehrheitsgesellschaft“ schlechter geworden? Wo hat man sich zurück entwickelt? Bei der Integration behinderter Menschen? Bei der Teilhabe von Frauen? Gehen binationale Ehen anteilmäßig zurück (auch mit Muslimen!): Nein! Nimmt die Ghettoisierung bestimmter Gruppen zu? Gehen Patentanmeldungen zurück? Wird weniger Geld in Forschung gesteckt? Nimmt das Wirtschaftswachstum ab? Nimmt die Arbeitslosigkeit zu? Alles: Nein! Was soll die Fokussierung auf vier Millionen von 82 Millionen Menschen in diesem Land also?? Es ist deshalb aber natürlich nicht alles toll: Die Politik muss sich überlegen, wie es Langzeitarbeitslosigkeit und prekäre Lebensverhältnisse systembedingt vermeiden kann. Diese beiden Faktoren sind die größten Unruhefaktoren einer Gesellschaft. Oder haben Sie schonmal einen Bankkaufmann oder eine Pharmazeutisch-Kaufmännische Angestellte einen Supermarkt ausrauben gesehen?
Liebe Frau Foroutan,
ich freue mich jetzt schon auf Ihre Habilitationsschrift und wer weiß, vielleicht schreibe ich meine in fünf Jahren bei Ihnen.
Hochachtungsvoll, NDS
@bierbaron
Was genau soll ein „verqueres anything-goes” bedeuten ?
Reden wir doch mal davon, wie dieses Deutschland jahrzehntelang den Eingewanderten ihre sozialen und politischen Rechte vorenthalten hat. Reden wir davon, dass MigrantInnen der Zugang zu Bildung, Wohnraum und Arbeitsplätzen, in öffentliche Institutionen und Ämter ebenso wie in Clubs und Fußballvereine systematisch erschwert wird. Das Problem sind weder die Armen noch die MigrantInnen, das Problem ist eine Politik, die Armut und Rassismus produziert, eine Gesellschaft, die sich auch über Ausgrenzung definiert.
@ bogo 70
„… Was mir besonders auffällt, ist das grade Muslime nicht anfangen in der Vorurteilskiste zu kramen, wenn ihnen etwas an den Kopf geworfen wird, womit sie im Grunde nichts zu tun haben…“
Migranten haben keine Vorurteile? – Klar sie sind ja auch bessere Menschen als wir Autochthondeutsche. Soviel Selbstgerechtigkeit und Realitätsverlust ist schon bemerkenswert. Leider bleibt eine narzisstische Kränkung den Betroffenen ja stets verborgen …
@ arabeska
„… Das Problem sind weder die Armen noch die MigrantInnen, das Problem ist eine Politik, die Armut und Rassismus produziert, eine Gesellschaft, die sich auch über Ausgrenzung definiert…“
Jau, Schuld hat der […] Sarrazin und der Gucci Westerwelle, nicht wahr? – Gehört auch in die Abteilung: Wir basteln uns ein Feindbild das unser eigenes Versagen kaschiert …
Ich hab´s ja schon gesagt: Im Grunde kann man diese ganze Betroffenheitslyrik in 3 Worten zusammenfassen:
Jammern, Fordern, Weiterjammern …
@arabeska
„Das Problem sind weder die Armen noch die MigrantInnen, das Problem ist eine Politik, die Armut und Rassismus produziert“
Da muss ich Ihnen absolut uneingeschränkt Recht geben! Grösster Produktionsfaktor dabei ist die systematische Anwerbung sozialer Problemfälle seit über 50 Jahren.
Ich lege immer wieder Wert auf die Feststellung, dass es den zugewanderten Unterschichten NICHT vorzuwerfen ist von dieser Anwerbung Gebrauch gemacht zu haben!
Die absehbaren Folgen dieser verfehlten Politik haben einzig & allein deutsche Politiker von CDUCSUFDPSPDGRÜNE zu verantworten! Das steht für mich völlig ausser Frage.
@konradi
„Gehört auch in die Abteilung: Wir basteln uns ein Feindbild das unser eigenes Versagen kaschiert …“
…und pflegen dieses Feindbild an den Stammtischen wie die Politiker mit allen Parolen, Palaver und Populismus, sozusagen nach dem Motto: Wenn die Wirklichkeit mit unseren Vorstellungen nicht übereinstimmt, um so schlimmer für die Wirklichkeit.
@Konradi,
Wer hat das gesagt? Ich hab grade ziemlich große Vorurteile und würde ihnen gern ein paar Links zu „deutschen Unarten“ posten, ich tu es aber nicht und das ist der Punkt, wer etwas Negatives über sie oder mich finden will, braucht nicht lang suchen. So geht es im übrigen auch mit Westerwelle und Sarrazin, sie werden Negatives und Positives finden und auch diese Herren jammern im großen Stil, besonders Sarrazin wie man grade sehr schön in der FAZ nachlesen kann. Schuld ist die Kanzlerin und die böse Elite, die ihn so garnicht unterstützen will. Im übrigen jammern sie auch grade, und fordern und fordern von Migranten, mit welchem Recht eigentlich? Wer sagt ihnen das der Großteil der Einwanderer nicht mindestens das erfüllt, was sie auch zu leisten haben?
Ich wüßte kein einziges Argument, was Menschen die hierher immigriert sind zu schlechteren Menschen macht, als sie einer sind, autochthon Deutscher hin oder her. Jeder der hier ist hat ein Recht darauf hier zu sein und wenn er dieses Recht nicht hat, mahlen die Mühlen der deutschen Justiz effektiv, dass kann wohl kaum einer bestreiten.
@Karl Willemsen,
Seit fast 40 Jahren gibt es keine Anwerbung mehr! Ihre sogenannte, zugewanderte Unterschicht sind Familienzusammenführungen, die sind rechtlich nicht zu beanstanden, auch wenn es inzwischen für Betroffene eine Tortur ist, bis sie ihre Familie endlich in die Arme schließen können. Das diese nicht ausnahmslos der Unterschicht angehören, dürfte selbst dem größten Kritiker klar sein.
Wer kann es denn besser?
@ arabeska
Exakt: Dröhnendes, populistisches Stammtischpalaver! – Der Unterschied zwischen uns beiden ist nur: mein Stammtisch ist braun, und Deiner ist rot. Schon mal was von Niklas Luhmann „Autopoiesis“ gehört ? Das muß als Stichwort reichen, mein Diskussionsdedarf ist hier nämlich erschöpft!
Sehr geehrte Frau Dr. Foroutan,
wenn Sie als Antwort auf tatsächliche und vermeintliche Diskriminierung nun alle Deutschen beschimpfen und ihnen die Schuld an der gescheiterten Integration vieler Muslime geben – dann zementieren Sie selber genau das, was Sie beklagen.
Mit den besten Wünschen für das Jahr 2011
Hatem
Frau Dr. Foroutan,
Ihre Eltern kamen in dieses Land als Gäste und entschlossen sich, wahrscheinlich weitestgehend ungefragt, dazu zu bleiben. Woher Sie sich also das Recht nehmen, als Tochter von ungeladenen Gästen an Ihre Gastgeber irgendwelche Forderungen zu stellen, will mir nicht einleuchten.
Eben weil Sie bzw. Ihre Eltern und generell die Kulturfremden im Land niemand gezwungen hat in dieses Land zu kommen, sondern dieser Zuzug auf freiwilliger Basis erfolgt ist, finde ich Ihre Haltung absurd. Niemand hat Sie gezwungen hierher zu kommen.
Nach Deutschland einzuwandern und sich dann über Land und Leute zu beschweren erscheint mir in etwa so geistreich, wie ein Haus neben der Autobahn zu bauen und sich dann über Lärm zu beklagen.
@Tim
In welchem Jahrhundert leben Sie eigentlich? Mir scheint, dass Sie sich in die heutige Zeit integrieren müssen, da Sie deutsche Bürger/innen nach der ethnischen Herkunft in „gewollt“ und „ungewollt“ unterscheiden.