Hatice Akyün
“Wir stehen wieder bei null”
Jeder dritte Deutschtürke mit Uniabschluss sieht seine Zukunft in der Türkei. Selbst die Schriftstellerin Hatice Akyün steht kurz vor dem Absprung. Gibt es ein Deutschland nach Sarrazin? Warum wird einem die Heimat plötzlich fremd? Und ab wann darf man resignieren? Ein Interview.
Von Dominik Baur Dienstag, 08.02.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 11.02.2011, 11:32 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
MiGAZIN: Frau Akyün, man hört, Sie wollten auswandern. Das ist nicht Ihr Ernst, oder?
Hatice Akyün: Meine Entscheidung habe ich noch nicht endgültig getroffen, aber es sind nicht mehr bloß Gedankenspiele. Ich mache mir ganz konkret Gedanken darüber.
MiG: Warum?
Akyün: Weil ich mich frage, ob es nicht woanders schöner ist. Die derzeitige Stimmung in diesem Land macht mir Angst. Ich habe eine Tochter, die wird jetzt vier. Ich möchte, dass sie in einem Land aufwächst, in dem sie akzeptiert ist. Ich möchte nicht, dass meine Tochter irgendwann aus der Schule nach Hause kommt und erzählt: Mama, die sagen, ich bin dumm, weil ich Türkin bin. Ich will nicht, dass sie das Gefühl bekommt, nicht zu diesem Land zu gehören.
MiG: Kaum ein anderer deutscher Autor Ihrer Generation schreibt mit so viel Liebe über sein Land wie Sie. Woher kommt dieser plötzliche Bruch?
Dieses Interview ist eine Koproduktion mit MAGDA, dem Magazin der Autoren. Lesen Sie dort ein ausführliches Porträt über die Autorin: Wie Hatice Akyün den Humor verlor.
Akyün: Weil man mir verbal ständig ins Gesicht schlägt. Jeden Tag. Wenn ich die Zeitung aufschlage oder den Fernseher anschalte, muss ich mir von irgendwelchen Politikern und Pseudowissenschaftlern anhören, warum Menschen wie ich nicht hierher gehören. Und da soll ich sagen: Hey, das ist doch mein geliebtes Land! Wissen Sie, was mir am meisten Sorgen macht? Dass es schon wieder ganz normal ist, von „Ausländern“ zu sprechen. Neulich wurde ich in einem Radiointerview vom Moderator als Ausländerin bezeichnet. Und das war gar keine Boshaftigkeit. Wir sind einfach mal 30 Jahre zurückgegangen.
MiG: Aber Sie sind Deutsche. Wenn Sie nun in die Türkei auswandern wollen, geben Sie dann nicht gerade denen Recht, die Sie als Ausländerin abstempeln wollen?
Akyün: Das Schlimme ist: Ich fühle inzwischen so viel Türkisches in mir durch diese Debatte. Es ist ein Teil in mir zum Vorschein gekommen, den ich jahrelang gar nicht wahrgenommen habe.
MiG: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Sie sich am Ende in der Türkei noch fremder fühlen als hier?
Akyün: Nein. Ein Teil meiner Familie lebt in Istanbul. Und Menschen wie ich werden dort mit offenen Armen empfangen. Es gibt viele meiner Generation, die bereits in die Türkei abgewandert sind – Wissenschaftler, Juristen, Ärzte. Allein in meinem persönlichen Umfeld gibt es etwa zwanzig Menschen, die entweder schon in die Türkei gegangen sind oder sich konkret nach Jobs dort umsehen. Ich war vor kurzem in Istanbul, da gibt es sogar schon einen Rückkehrerstammtisch. Das sind Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind. Die haben hier studiert, zum Teil mit exzellenten Abschlüssen. Aber in Deutschland finden sie keine Stelle – wegen ihres türkischen Namens. In Istanbul dagegen stehen ihnen alle Türen offen. Aber nicht weil sie türkische Wurzeln haben, sondern weil sie Fachkräfte sind.
MiG: Hat Ihr Stimmungsumschwung auch etwas mit einem Herrn namens Sarrazin zu tun? Hat er dieses Land so sehr geändert, dass Sie sich hier nicht mehr zu Hause fühlen?
Akyün: Ich sage das sehr ungern, weil ich es manchmal selbst nicht wahrhaben möchte: Aber wahrscheinlich hat die Sarrazin-Debatte nur etwas wieder zum Vorschein gebracht, was die ganze Zeit über da war. Sarrazin selbst ist mir egal. Aber die Massen, die zu ihm rennen und ihn hochleben lassen, machen mich fassungslos. Schauen Sie sich die Auftritte von Sarrazin an, dort herrschen zum Teil mobähnliche Zustände. Wenn ich das sehe, bekomme ich Beklemmungen. Und ich kann absolut nicht verstehen, wie jemand, der ein bisschen Grips hat, sich hinstellen kann und sagt: Ja, es stimmt schon, das mit der Genetik war ein bisschen blöd, aber im Grunde sagt er ja auch viel Wahres.
MiG: Seine Fürsprecher halten Sarrazin zugute, er benenne manches Problem…
Akyün: Ich bitte Sie! Es gab vor ihm schon Politiker und Wissenschaftler, die die Probleme seriös benannt haben. Aber nicht auf spaltende Weise. Müssen wir immer noch über Selbstverständlichkeiten reden? Müssen wir darüber reden, dass jemand, der in Deutschland lebt, verdammt noch mal die deutsche Sprache zu lernen hat? Dass er sich an die hier geltenden Gesetze zu halten hat? Wo ist denn das eigentliche Problem? Dass es Menschen gibt, die sich nicht an die Gesetze halten? Ja, stimmt. Dann müssen wir uns aber anschauen: Warum machen sie das nicht? Tun sie es nicht, weil sie Türken sind oder weil sie asozial sind? Diese Leute würden sich auch in der Türkei und in keinem anderen Land dieser Welt daran halten. Wenn man sich diese Fragen stellt, wird es nämlich schwierig. Dann stößt man auf vielschichtige Gründe – aber einfacher ist es natürlich zu sagen: Das sind Türken, Muslime, alles klar, Schublade zu. Sie können Menschen nicht zwingen, differenziert zu denken. Es ist viel einfacher und griffiger, sich als Politiker hinzustellen und zu verkünden: Multikulti ist tot. Und der Jubel ist einem sicher.
MiG: Worüber sollten wir denn stattdessen reden?
Akyün: Das Problem ist ein soziales. Und dann sind wir wieder da, wo wir schon seit 30 Jahren stehen – bei der Frage: Wie kriegen wir die Menschen aus den Ghettos raus? Das geht nur durch Bildung, Bildung, Bildung. Und wo wird gekürzt? Bei der Bildung! Bei den Integrationskursen! Da beginne ich dann, an den Politikern zu zweifeln, und denke mir: Die meinen es doch alle nicht ernst. Das interessiert die doch überhaupt nicht, ob die Menschen sich integrieren und Deutsch lernen.
MiG: Aber wenn Leute wie Sie abwandern, macht das die Sache auch nicht besser.
Akyün: Es ist auch keine leichte Entscheidung. Manchmal sage ich mir: Du hast als Person, die in der Öffentlichkeit steht, vielleicht die Chance, etwas geradezurücken, das Sprachrohr für viele im Land zu sein. Aber dann ist es immer wieder dasselbe, und wir stehen wieder bei null. Ich rede mir doch nur den Mund fusselig. Dazu kommt: Ich habe mich geändert, ich bin keine Rebellin mehr. Früher hätte ich mich hingestellt und gefragt: Wie können wir die Probleme gemeinsam lösen? Aber heute denke ich einfach nur: Ihr könnt mich alle mal. Ich muss ganz schnell weg hier. Aktuell Interview
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Das Problem hier ist die Interviewführung. Von den Gründen, die Hatice Akyün in die Flucht treiben, will Dominik Baur so wenig wie möglich wissen. Stattdessen schiebt er ihr schnell den Schwarzen Peter zu. (…benenne manches Problem“) Die Perspektive des Gesprächs dreht sich zur kerndeutschen Seite. Ghettos, bildungsferne Schichten. Hier sitzen nicht 2 Menschen mit gemeinsamen Ansichten an einem Tisch. Der letzte Satz („Aber wenn Leute wie Sie abwandern…“) macht deutlich, was Baur denkt: Tausche 10 Kanaken gegen eine Akyün. Mit dieser Denke ist er mit PI vollkommen auf einer Linie. In meinen Augen ist mit diesen Berliner Schickeria-Typen sowieso keine Basis da. Dominik Baur solte nicht für das Migazin tätig sein. Der macht das eh nur, weil er keine vernünftige Stelle findet. Soviel zum Facharbeitermangel. Ich meine, es gibt in Berlin genug Migranten, die gerne für das Migazin arbeiten. Einer von denen sollte die Leitung übernehmen und nicht jemand wie Dominik Baur.
@ Tupac:
„Auswandern tun doch ehe nur diejenigen, die hier keine beruflichen Chancen sehen, weil sie einfach die Qualifikationen nicht mitbringen, die nötig wären.“
Haben Sie dafür Belege? Die zwei Fälle die ich kenne sind ein Doktorand im Bereich Bauwesen und eine Diplommathematikerin mit Spezialisierung Informatik. Beide sprechen akzentfrei aber dialektvoll Deutsch. Ganz schöne Bildungsunterschicht würde ich sagen…
Man könnte meinen Sarrazin spaltet die Nation,das ist allerdings ein Trugschluß! Er spaltet nur solange das Land wie sich die für intelligent haltenden Menschen sich einer ergebnisoffenen Diskussion verweigern !
Natürlich wird Herr Sarrazin auch mißverstanden und natürlich auch wohl von der rechten Szene.
Dies ändert aber nichts daran das man sich nicht mit seinen Themen auseinandersetzen muß und stattdessen seitens der Migranten in die ach so geliebte Opferrolle verfallen darf !!!
Zu meiner Person kann ich nur sagen vor dem Lettre International habe ich Sarrazin kaum wargenommen. Erst dadurch hab ich mich mit den Themen beschäftigt .
Hier sollte man auch insbesondere nennen : Necla Kelek ,Hamed Abdel Samad,Monika Maron,Henryk M. Broder,Seyran Ates, usw. !!!
Habe nicht den Eindruck das man sich mit der ganzen Thematik objektiv auseinandersetzt . Vielmehr kommt es zunehmend zu einer einseitigen Meinungsbildung !
Ich würde eine vorbehaltslose Diskussion als Chance für alle sehen !!
In diesem Sinne .
@ MoBo
Schön, dass Sie zwei kennen, die aus „Überzeugung“ und nicht aufgrund der Unzufriedenheit am Arbeitsmarkt in Deutschland, die aus der härteren Konkurrenz resultiert, in die Türkei gehen. Wenn man sich in Deutschland nicht durchsetzt, geht man in die Türkei, dass ist auch legitim und okay, aber so zu tun, als würden die meisten dorthin gehen, weil hier die Stimmung mies ist, ist lächerlich, es gibt nahezu 3 Mio Menschen mit türkischen Migrationshintergrund in Deutschland, die hier ihr Ding -der eine besser, der andere schlechter- machen.
Zu den Belegen:
Warum gibt es in Istanbul diesen berühmten deutschen Stammtisch der „Ex-Deutschen“? Weil sie dort auch nicht klar kommen, obwohl sie vielleicht nun eine besser bezahlte Stelle haben. Interviews mit Ausgewanderten in der Presse belegen meine These, denn die würden am liebsten wieder zurückkommen.
wieder dasselbe und wieder, nur gejammer von moslems !!
jemand was hier von vietnamesen, spaniern oder amerikanern gehört, ich nicht
jedesmal dasselbe gewinsel, selber schuld, 80% der gefängnisse mit moslems gefüllt, sozialbetrug von über 90%, verbrechen schwerer art von über 60% moslems und und und
dann jedesmal dasselbe geheule, sie soll gehen und ihre verwandschaft doch einfach mitnehmen, als alleinerziehender vater bleibt mir dann doch wesentlich mehr geld über anstatt das diesen leuten in rachen zu werfen
Hatica Akyün, die türkische Hera Lindt, gibt hier ein bemerkenswert objektives Interview über die Befindlichkeiten der türkischen Oberschicht in Deutschland. Sie fühlt sich nicht anerkannt von der deutschen Bevölkerung – das ist Fakt. Wie wenig ist dann erst der Teil der türkischen Einwohner der Bundesrepublik geachtet, der sein Auskommen durch staatliche Alimentierung erzielt? Die Antwort gibt Akyün und sie hat Recht. In 30 Jahren hat sich nichts geändert- und in den nächsten 30 Jahren wird sich auch nichts ändern! Das ist ganz einfach kulturell bedingt, die türkisch-muslimische Kultur und die europäische Kultur sind ambivalent. Nicht seit 30 Jahren, sondern seit weit mehr als 300 Jahren. Das müssen alle Beteiligten akzeptieren, die deutsche Bevölkerung, die eine muslimische Kulturisierung nicht dulden wird und die türkischen Menschen, die sich, wie Akyun deutlich hervorhebt, im eigenen Kulturkreis angenommen und wohl fühlen und, so sie es sich leisten können, in diesen zurückkehren. Die Deutschen müssen wohl hier bleiben, wo sie immer schon waren.
@thomas pfeiffer
können sie ihre zahlen auch mit einer oder gar mehreren quelle/n belegen?
Liebe Hatice,vielleicht erinnerst Du Dich an mich?Ich bin es Cem Gülay.Am Anfang haben viele türkische Prominente wie Du gegen mich gewettert oder mich ignoriert.Jetzt kritisierst Du die Zustände in Deutschland nach Sarrazin.Trotzdem bin ich nicht nachtragend und wünsche Dir und Deiner Tochter alles Gute.Ich wollte genau das,das Deine Tochter und alle Kinder egal welcher Herkunft ,ohne gegenseitigen Hass aufwachsen.Die Deutschen haben mich nicht enttäuscht,von Ihnen erwarte ich nicht viel.Aber die türkisch-kurdische community hat mich zu 99.9999% im stich gelassen.Hätten wir zusammengehalten und all die Anderen Migranten und auch Deutsche die gegen Sarrazin sind,Na ja,es sollte nicht so sein.Dann sollen sie auch leiden!Dein Glück das Du abhauen kannst.Liebe Grüsse Cem
Ehrlich gesagt: Das, was mich an diesem Interview stört, ist die Tatsache, dass das S-Wort gesagt wurde. Und das Problem ist hierbei nicht Graf Zahl selbst, sondern der verängstigte Mainstream, dem durch Hysterie weisgemacht wurde, es stehe so etwas wie ein Bürgerkrieg oder ein kleiner Weltuntergang vor der Tür. Die Germanen sterben ja angeblich aus. Selten so gelacht. Allein die Haltung, die der hinter solchen Ängsten steckt, macht im Gegenzug Angst, denn sie ist etwa 100 Jahre alt und sein Kern ist in den „Fourteen Words“ von David E. Lane zusammengefasst.
„Mr. S“ ist da nur einer von leider relativ vielen, jedoch mit stark autoritärem Charakter, starkem Sendungsbewusstsein und unheimlicher Dreistigkeit und Borniertheit ausgestattet, was in dieser Kombination zum mehrfachen Missbrauch seiner beruflichen Position führte.
Ich bin überhaupt nicht dafür, auch nur eine einzige seiner wirren Behauptungen durch Erwähnung oder Erwägung zu adeln. Stattdessen sollte man sich endlich wieder um das kümmern, was wichtig ist: Bildung voranbringen, bildungsfeindliche, (sub-)kulturelle Ideologeme benennen und wo möglich neutralisieren, und Armutsviertel ebenso wie Wohlstandsviertel konsequent auflösen.
Ich bin auch nicht dafür, dass alle möglichen Menschen, die es sich finanziell leisten können, nun einfach abhauen, weil eine verrückt gewordene teutonische Masse ihren seit Kriegsende verloren geglaubten völkischen Kollektivismus wiederentdeckt hat, und auf all jene, die es nicht bei drei aus dem Land sind, (verbal) eindrischt. Ich kann es verstehen, auch und gerade wenn es um das Kindeswohl geht. Ich bin aber nicht dafür, dem Mob dieses Erfolgserlebnis zu geben, und zugleich die anderen im Stich zu lassen.
@Jos. Blatter
„Sie fühlt sich nicht anerkannt von der deutschen Bevölkerung…“
Wenn nicht in D wo dann? Ich glaube nicht dass ausserhalb Deutschlands ein nennenswerter Markt für ihre Bücher erschlossen werden könnte… vielleicht ist aber auch ihr Problem, dass dieser Markt für ihre Themen in letzter Zeit ziemlich inflationär abgegrast wurde.
Mir fällt gerade ein, dass in meiner Buchhandlung, auf dem Tisch, auf welchem das Sarrazinbuch präsentiert wurde, direkt daneben Werke von Lale Akgün (die SPD-Tante) und Nazan Eckes (die hübsche RTL-Moderatorin) feilgeboten wurden, die auch „Meine schrecklich nette türkische Familie“ oder so ä. zu Inhalt hatten… desweiteren tigelte durch div. Talkshows so eine 19-jährige türkische Abiturientin (nein, nicht Lena) als Vorzeige-Integrationspüppchen, die gleich gar mit einer Autobiographie (mit 19!) „Mein erster Kuss“ oder so, aufwartete… ;-)
Ich befürchte der Markt für derartige deutsch-türkische Migrantenprosa dürfte allmählich Sättigungstendenzen aufweisen.