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Türkei in Europa

Erdoğan: „Türkei braucht Europa, Europa braucht die Türkei“

Der türkische Ministerpräsident Erdoğan sprach gestern vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Dabei bedauerte er die Zunahme von Rassismus und Intoleranz in Europa und warf den europäischen Politikern Populismus im Umgang mit dem EU-Beitrittsprozess der Türkei vor.

Von Donnerstag, 14.04.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.04.2011, 0:21 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Recep Tayyip Erdoğan hatte Anfang März in Düsseldorf eine polarisierende Rede vor gleichgesinnten Bürgern mit türkischer Zuwanderungsgeschichte gehalten und in Deutschland eine Welle der Entrüstung hervorgerufen. Man sprach von Einmischungen in die Souveränität Deutschlands und rügte ihn für seinen Vorschlag, dass jedes türkischstämmige Kind erst Türkisch und daraufhin Deutsch lernen solle. Allein beim Rügen blieb es jedoch nicht: Unions-Fraktionschef Volker Kauder empfahl sogar, den sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

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Vorwürfe gegen Europa
In seiner gestrigen Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats schnitt Erdoğan ebenfalls das Thema der Integration an. „Integration ja, Assimilation nein“, sagte Erdoğan und zeigte sich besorgt über die Zunahme von Rassismus und Intoleranz, aber auch über den Populismus in Europa: „Ich bedauere es zu sehen, wie die Polarisierung in Europa zusehends gewalttätiger wird“, sagte Erdoğan und warf den Politikern vor, den Populismus zu nutzen, um Wählerstimmen zu gewinnen.

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EU-Beitritt der Türkei
Die Türkei ist seit 1964 institutionell mit der Europäischen Union durch ein Assoziierungsabkommen verbunden. Seit Oktober 2005 laufen offizielle Beitrittsverhandlungen, die 2014 beendet werden sollen. Immer wieder werden in den Fortschrittsberichten der Kommission die mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit, die zu starke Rolle des türkischen Militärs (TSK) und die diskriminierende Handelspolitik gegen Zypern kritisiert. Dies führte bereits Dezember 2006 zu ersten Aussetzungen von Beitrittskapiteln, die allerdings Erdoğan anderen Beweggründen der EU zuschreibt. „Es ist unverständlich, dass aufgrund von populistischen Motiven und Vorwänden dem Beitrittsprozess der Türkei immer wieder Hürden auferlegt werden“, erklärte Erdoğan.

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Wie ist die politische Situation im eigenen Land ?
Auf die Frage nach der Demokratievereinbarkeit der 10% Hürde bei den Parlamentswahlen in der Türkei, die nach dem Militärputsch (1980) in die Verfassung aufgenommen wurde, antwortete Erdoğan: „wenn wir wollen, senken wir die Hürde“ (übersetzt aus EurActiv.com.tr: 13.04.2011). Bis dato ist jedoch eine solche Gesetzesvorlage von der AKP-Regierung nicht dem parlamentarischen Entscheidungsprozess zugeleitet worden. Eine Entscheidung zugunsten einer wie bspw. von der Oppositionspartei der CHP vorgeschlagenen 7% Hürde gilt vor der Wahl der Großen Nationalversammlung (GNV) im Juni dieses Jahres als äußerst unwahrscheinlich. Denn zu groß ist die Angst vor dem Verlust von Stimmanteilen.

Verhaftungen von Journalisten
Ebenfalls ging Erdoğan auf die jüngsten Verhaftungswellen in der Türkei im Rahmen des Ergenekonprozesses ein und bezifferte die gesamte Zahl der inhaftierten Journalisten in der Türkei auf 26. Diese seien allerdings nicht wegen ihrer journalistischen Tätigkeit inhaftiert worden, bestätigte Erdoğan. Dabei stellte die Europäische Kommission in ihrem Fortschrittsbericht von 2010 fest, dass die Artikel 125 und 301 des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK), die die Beleidigung des Türkischen Volkes unter Strafe stellen,weiterhin zu erheblichen Beschneidungen der Meinungsfreiheit in der Türkei führen.

Dennoch beteuerte Erdoğan, dass Europa kaum etwas über die Gründe, weshalb die Journalisten verhaftet worden seien, wisse und lud daher Abgeordnete und Mitarbeiter der Parlamentarischen Versammlung in die Türkei ein. Unmittelbar nach Erdoğans Rede ließ sich hierzu der Generalsekretär des Europarats Thorbjørn Jagland nicht zweimal bitten und stimmte der Entsendung eines Beauftragten zu: „Ich werde so bald wie möglich einen Sonderbeauftragten entsenden. Dieser Beauftragte wird mir Bericht erstatten, so dass wir die Situation bewerten können. Das ist ein konstruktiver Ansatz und ein Schritt vorwärts in der Diskussion über die Medienfreiheit in der Türkei“, erklärte Jagland.

Die EU hat in den letzten 10 Jahren in der Türkei viele Reformen angestoßen, die die Türkei näher an die EU-Standards brachten. Dies gelang der EU allein durch die glaubwürdige Beitrittsperspektive, die sie der Türkei bot. Denn „die Türkei braucht Europa“, sie drängt auf eine Vollmitgliedschaft in der EU hin und ist daher gewillt ihr System anzupassen, solange die Belohnung – die Mitgliedschaft in der EU – ihre Anpassungskosten übersteigt. Es bleibt nun abzuwarten, ob die Türkei ihren Demokratisierungsweg alleine gehen oder die EU ihr angekratztes Versprechen einer EU-Mitgliedschaft erneuert und dadurch in der Türkei neue und notwendige Reformen auslösen wird. Aktuell Ausland

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  1. Gerhard Ochwat sagt:

    BIP pro Person Türkei:8.723 Dollar.
    BIP pro Person Deutschland: 40.875 Dollar
    BIP pro Person Rumänien: 7.542 Dollar.

    Kapiet Ihr Türken nicht das die Türkei ein armes Land ist?
    Wahrscheinlich kennt ihr die Türkei nur vom Hörensagen oder aus Urlaubsprospekten.

  2. posteo sagt:

    Wenn es nach mir und der Mehrheit meiner Bekannten ginge, würden wir der Türkei gerne einen Tausch vorschlagen.
    Türkei rein und Deutschland raus aus der EU. Dann dürfen die Türken sich von Brüssel vorschreiben lassen, ob sie Glühbirnen oder Sparglühbirnen kaufen dürfen, ob sie Mentholzigaretten oder gar keine Zigaretten kaufen dürfen, etc., etc., Und dazu dürfen sie noch für alles mgl. mitzahlen, was sie nicht mitgewählt haben.

  3. Bosporus sagt:

    @posteo
    Ich bin genau so gegen einen türksichen EU-Beitritt wie Sie! Aber man sollte als Türke schon ehrlich sein und nicht glauben, dass der Wirtschaftsboom, allein der Türkei geschuldet ist! Als 2005 die EU die Beitrittverhandlungen mit der Türkei eröffnet hat, haben sich die Auslandsinvestitionen dadurch, dass der Türkei, als zukünftiges EU-Mitglied mehr vertrauen entgegengebracht wurde, mehr als verzwanzigfacht! Und jeder Türke (zumindest diejenigen die in der Türkei wohnen) wissen, dass man in der Türkei extrem von ausländischen Investitionen abhängig ist.
    Erdogan ist absolut gegen einen EU-Beitritt, aber er weiß ganz genau, dass er nicht ohne sie kann, denn wenn sein wirtschaftliches Fundament als Opium für Volk wegfällt, dann steht er da wie ein nackter Kaiser!

    Die Kursrutsche in den letzten Wochen sind ein Resultat dafür, dass das Vertrauen in die Türkei ein Kratzer abgekriegt hat. Erdogans ausraster gegenüber einer angeblichen Zinsmafia, sind auch nicht gerade förderlich! Die 1 Milliarde € aus dem Strukturfonds die der Türkei jährlich zukommen wären natürlich in den Eurokrisenländer besser angelegt!

  4. posteo sagt:

    @Bosporus: Ich habe mich nicht gegen den Türkei-Beitritt ausgesprochen, sondern meine prinzipielle EU-Skepsis zum Ausdruck gebracht.
    Was wir durch Vereinheitlichung, auch der Währung gewinnen, zehren wir durch den bürokratischen Wasserkopf und die langen Verfahrenswege der einheitlichen EU-Gesetze wieder auf.
    Von der linken internationalistischen Denkschule her kommend ist die EU außerdem ein recht imperialistisches Gebilde.
    Die alte europäische Union hat meiner Erfahrung nach vollkommen genügt, den Handel zwischen innerhalb Europas zu erleichtern. Ansonsten gibt es keine nennenswerten Schwierigkeiten zwischen der Schweiz und ihren Nachbarländern, was den Austausch von Waren und Dienstleistungen, sprich Arbeitskräften angeht.

  5. posteo sagt:

    Für die Beitrittsfrage der Türkei wäre für mich von prinzipiellem Interesse, in welchem Kontinent die anatolische Türkei sich selbst verordnet.
    In jedem Geografiebuch sind die Grenzen zwischen Europa und Asien auf dem Gebiet der Türkei entlang des Bosporus definiert. Wird diese Definition auch in der Türkei verwendet, oder gibt es da eine andere Grenzziehung und wenn ja, welche? Über eine Antwort würde ich mich freuen.

  6. Bosporus sagt:

    @posteo
    Ich weiß nicht wie die Grenzziehung innerhalb der Türkei gesehen wird. Aber Istanbul ist ja bekannt als einzige Stadt die auf zwei Kontinenten liegt. Und würde Europa nicht am Bosporus enden, dann wäre dieser Titel hinfällig.

    Je nach dem ob man sich jetzt die kulturellen, wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnisse betrachtet würden die Grenzen unterschiedlich gezogen werden. Anatolien ist meiner Meinung kulturell, wirtschaftlich und sozial gesehen kein Teil von Europa.

    Ich glaube, wenn die Türkei auch weiterhin eine Brückenfunktion in dieser Region erfüllen will, dann darf es der EU nicht beitreten, sonst ist man keine Brücke mehr sondern ein Teil eines bestimmten Ufers.

  7. Pippi sagt:

    Ich kann eines nicht verstehen. Warum will die Türkei unbedingt in die EU? Es geht ihr wirtschaftlich gut. Sieht sie nicht was mit den anderen Ländern passiert ist, sobald diese in die EU eingetreten sind? Was ist so toll an dieser EU? Ich habe gesehen, dass die Menschen auf Zypern enteignet wurden. Haben wir das alle schon vergessen? Das ist doch keine Demokratie. Hat jemand an die Menschen gedacht, die damals ihr hart Erspartes verloren haben, weil sich Banken verzockt haben? Die Reichen wurden vorher gewarnt und haben sich gerettet. Die Armen haben die Bank gerettet. Ich sehe die große Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Was für eine Schande. Ich sehe, dass Menschen aus Osteuropa zu Sklaven gemacht wurden. Das versteht Frau Merkel unter qualifizierte Einwanderung, nämlich billige Arbeitskräfte, vor allem im Pflegebereich. Ich sehe Menschen, die arbeiten und am Ende des Monats Hartz IV beziehen müssen, obwohl die deutsche Wirtschaft boomt. Warum will die Türkei also in diese EU rein? Was ist daran so attraktiv?

  8. fritz! sagt:

    @Pippi
    Der Wirtschaftsboom in der Türkei ist nur darauf zurückzuführen, weil ein Betritt zur EU im Raum steht! Würde die Türkei oder die EU ein für alle mal dem Beitritt eine Absage erteilen, dann würde die Wirtschaft in der Türkei arg einbrechen! Das weiß Erdogan und deshalb muß er auch weiterhin so tun, als ob er es mit einem Beitritt ernst meinen würde.

    Außerdem sind die finanziellen Vorteile, wenn man so tut als würde man der EU beitreten wollen, enorm und steigen sogar noch von Jahr zu Jahr. Die Türkei hängt also am Tropf der EU, auch wenn Erdogan immer so tut, als wäre er für die besseren Verhältnisse in der Türkei verantwortlich.

    Momentan heißt es sowieso abwarten bis die FED den Zins wieder anhebt, dann zeigt sich nämlich welche Schwellenländer gut gewirtschaftet haben und welche sich nur künstlich aufgeblasen haben. Und wenn es in der Türkei wirtschaftlich den Bach runter geht, dann wird die Regierung ihr wahres Gesicht zeigen und ich bin schon darauf gespannt wer dafür von der AKP schuldig gesprochen wird.

    Und ja die EU steckt in einer Wirtschaftskrise und trotzdem geht es Europa immer noch besser als der Türkei. Ich glaube die meisten haben keine Ahnung, wie arm und heruntergewirtschaftet die Türkei eigentlich ist. Die Türkei wird mindestens noch 50 Jahre brauchen bis sie auf Deutschland oder Frankreich aufschließen kann.