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Integration 2.0

Staatsbürgerschaft als Nebenprodukt einer pragmatischen und interaktiven Integrationspolitik

Seit einigen Jahren verhärtet die These einer fundamentalen Inkompatibilität zwischen dem Islam und der Art von Zivilgesellschaft, die für das Funktionieren liberaler Demokratie erforderlich ist.

Von Scott S. Gissendanner Freitag, 27.05.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 02.06.2011, 22:50 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Der Kern dieser vorgeblichen Inkompatibilität zwischen Islam und liberaler Demokratie liegt in einer fundamentalen epistemologischen Differenz. Universalistische, auf Bekehrung orientierte Religionen insistieren, dass die einzige Form wahren Wissens die Gnosis ist, die Gotteserkenntnis, zu der man nur durch göttliche Offenbarung und den Glauben an eine heilige Schrift gelangt. Liberale Demokratie basiert dagegen auf der Überzeugung, dass jeder Mensch unabhängig von seinem Glauben authentisches Wissen durch die Betätigung der Vernunft erlangen kann. Insofern die Menschen in einer Demokratie souverän sind, ist ihr Wille, wie er im vernünftigen Diskurs zu Tage tritt, die ultimative Quelle genuinen Wissens. Niemand hat Zugang zu einem speziellen Wissen, das ihn besser als andere dazu qualifiziert, zu wissen, welche die besten Gesetze sind.

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Ob und wie Muslime „richtige“ Staatsbürger werden können ist nun zu einer Leitfrage des politischen Diskurses geworden. Die europäische Antwort auf diese Frage zeichnet sich bereits ab. So haben mehrere europäische Staaten in jüngster Zeit ihre Einbürgerungsregeln verschärft und eine ablehnende Haltung gegenüber islamischen Bekleidungsregeln wie dem Kopftuch oder der Burka gesetzlich verpflichtend gemacht.

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Dieser Essay postuliert aber, dass die Realität der Integrationspolitik an diesen abstrakten ideologischen Debatten vorbeizieht. Im Feld der kommunalen Integrationspolitik sind weittragende Veränderungen in den Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Einwanderern schon längst im Gange, die unterschätzte Auswirkungen auf die Bedeutung von „Staatsbürgerschaft“ haben. Die Zukunft der Integration mag sich in einem nationalstaatlichen Rahmen vollziehen, sie ist aber durch eine pragmatische Arbeit in der kooperativen Herstellung kollektiver Konsumptionsgüter auf lokaler Ebene gekennzeichnet. Die Integration von Musliminnen und Muslimen – aber bei Weitem nicht nur sie – ist davon betroffen.

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Integration 1.0: Unsere konventionellen Institutionen der Integration
Die Spannung zwischen Islam und liberaler Demokratie ist überhaupt nicht neu. Sie ist eine Variation der alten Besorgnis der Gründungsväter der USA ob der Integrierbarkeit von selbstinteressierten, starken politischen Minderheiten – der sogenannten „factions“. Überzeugt davon, dass factions in einer Demokratie immer entstehen, schrieb James Madison in Federalist Nr. 10, dass es nur zwei Methoden gäbe, sie zu neutralisieren: “die eine besteht darin, ihre Ursachen zu beheben, die andere darin, ihre Effekte zu kontrollieren”.

Integrationspolitik in Europa arbeitete traditionell mit ersterer Methode: dem Einsatz von staatlicher Macht, um die Ursachen von Faktionen zu beheben. Das archetypische Beispiel ist Bismarcks Zuckerbrot-und-Peitsche Strategie zur Minimierung des politischen Einflusses der Arbeiterklasse und der Katholiken. Amerikanische Integrationspolitik war dagegen auf die zweite Methode ausgerichtet – die destruktiven Effekte von faction zu begrenzen durch die Fragmentierung des Staates. Allen Gruppen war es freigestellt, nach den gleichen Waffen zu greifen – ob Stimmzettel oder Flinte. Integration kam und kommt dann in den USA durch den zum Glück meist friedlichen politischen Kampf zustande.

Die ursprünglichen Integrationsstrategien in Deutschland und in den USA etablierten Zivilität, beide in ihrer eigenen Art und Weise. Der Preis dafür war in beiden Fällen die Begrenzung der Fähigkeit von Insider- und Outsider-Gruppen, die Vorteile von Diversität durch Kooperation zu realisieren.

Integration 2.0: Die aufgabenorientierte Staatsbürgerschaft
Parallel zu Veränderungen in der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik haben europäische Regierungen begonnen, die Integrationspolitik auf allen Ebenen zu überdenken. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten definieren Integration jetzt unter Nutzung der Sprache der öffentlichen Aufgabewahrnehmung. Integration geht jetzt auch um die Produktion kollektiver Konsumptionsgüter wie Schulen, öffentliche Sicherheit, öffentliche Verkehrssysteme oder Freizeitangebote. Die von der EU angestrebte Integration entsteht, wenn Insider- und Outsider-Gruppen lernen, zusammen kollektive Konsumptionsgüter effizienter zu erzeugen als jede Gruppe es für sich allein könnte.

Die zunehmend ambitionierten, aufgabenorientierten Integrationsziele der Regierungen stehen jedoch im Kontrast zum Rückgang ihrer politischen Handlungsmöglichkeiten und finanziellen Ressourcen. Vor diesem Hintergrund werden die Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen jeglicher Art zunehmend relevant für Kommunen in ihrer Aufgabe, die örtlichen Konsumptionsgüter bereitzustellen.

Entscheidungsprozesse über die Produktion öffentlicher Konsumptionsgüter in den Politikfeldern, die mit Einwanderung zu tun haben, haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Innovationen erfahren. Die Prozesse werden stärker gesteuert und zivilgesellschaftliche Organisationen werden zunehmend in die Produktion öffentlicher Güter einbezogen.

In Anlehnung am Internetjargon bezeichne ich diese Transformation zur partizipativen Integration als „Integration 2.0“. Im Internet bezeichnet „Web 2.0“ die Transformation von Website-Kommunikation von passiver Konsumption zur aktiven Koproduktion des Inhalts. Durch die Diversifizierung der Beziehungen in der Produktion öffentlicher Güter findet etwas Ähnliches zwischen Einwanderern und Regierungen in dem Bereich der Integrationspolitik statt. Ein Beispiel aus den USA illustriert besonders deutlich diese allgemeine Bewegung, die auch in Deutschland klar – wenn auch kleinteiliger – zu beobachten ist.

Kooperation in der Produktion von öffentlichen Güter in Montgomery County, Maryland
Montgomery County im amerikanischen Bundesstaat Maryland ist eine Subregion im Großraum Washington DC. Obwohl die Einwohnerschaft zu den wohlhabendsten und am besten gebildeten in den USA zählt, hat der Kreis einen hohen Anteil an Armutsbevölkerung. Angesichts der vergleichsweise hohen Lebenshaltungskosten, Sprachenprobleme und kultureller Konflikte wurde die Gewährleistung kostenloser medizinischer Versorgung für die wachsende Zahl unversicherter Einwohner zu einer enormen Herausforderung für die kommunale Regierung. In Reaktion auf diese Herausforderung begannen Beamte der Kreisverwaltung 2005, ein elementares medizinisches Grundversorgungsnetz aufzubauen, das sich auf ein Netzwerk von kleinen privaten und gemeinnützigen Kliniken stützt. Das Netzwerk wird von Kommunalbeamten lose koordiniert und bezuschusst. Heute decken Immigranten- und andere Organisationen einen wachsenden Anteil am Bedarf an medizinischer Grundversorgung im Kreis.

Eine der kleinen gemeinnützigen Kliniken wird übrigens vom Muslim Community Center betrieben, einer Moscheen-Gemeinde in Silver Spring, Maryland. Die Moschee wurde 1981 eröffnet und dient bis heute einer Gemeinde, die mehrheitlich aus Immigranten besteht. 2003 begann sie, in ihrem Keller eine Klinik für nicht versicherte Kranke zu betreiben. Die Moscheen-Gemeinde und ihre Führung sind von karitativen Motiven motiviert. Ganz in der muslimischen Tradition stellen sie ihre Dienste auch bedürftigen Nicht-Muslimen zur Verfügung. Diese machten 2010 etwa ein Viertel der Patienten aus.

Das Beispiel von Montgomery County ist kein Einzelfall. Jüngeren Studien zufolge leisten im Großraum Washington DC 533 zivilgesellschaftliche Organisationen Dienste für Immigranten. Auch in Deutschland sind Immigrantenorganisationen präsent und Fallstudien zeigen, auf welche unterschiedliche Weise Kommunen in europäischen Ländern ihre Arbeit mit Immigrantenorganisationen koordinieren.

Resümee
Die alten Integrationsmethoden sind überholt – aufgrund der zunehmenden Komplexität von Integrationspolitik und der immerwährenden Finanzknappheit. Um diese Probleme zu überwinden, bemühen sich staatliche Beamten, darunter Kommunalbeamten in Gemeinden mit hohem Einwandereranteil, die Ressourcen von nicht-staatlichen Organisationen im Sinne der Koproduktion zu aktivieren. Der Normalfall in Deutschland mag immer noch der sein, dass staatliche Akteure Immigranten als Steuerungsobjekte behandeln und versuchen, die sie betreffenden Angelegenheiten ohne ihre Teilnahme zu steuern. Dennoch, in jenen Fällen und Gemeinden, in denen Regierungen ihre Ressourcenlücken durch Kooperation mit Immigranten überwinden, entstehen für Immigranten Gelegenheiten, auf die Bedingungen ihrer Transformation vom Mitbürger zum Bürger Einfluss zu nehmen. Bürgersein heißt für sie in diesem Augenblick, dass sie mitbestimmen, welche öffentliche Güter in ihren Gemeinden hergestellt werden und von wem sie konsumiert werden dürfen. Wenn Bürger und andere Einwohner gemeinsam mit Beamten die öffentlichen Güter einer Kommune gemeinsam gestalten oder erzeugen, dann ist der Bürgerstatus weniger eine nationalstaatliche oder gar ideologische Angelegenheit als eine Frage der kommunalpolitischen Praxis. So kann man Seyla Benhabibs Argument, dass sich Kommunen in „new sites of citizenship“ verwandeln, verstehen.

Es gibt viele Gründe für die Annahme, dass pragmatische Zusammenarbeit in der Regulierung örtlicher Angelegenheiten auch im Falle des Islams nicht zum Scheitern verdammt ist. Erstens ist der Islam bestens geeignet für die neuen Strukturen, in denen öffentliche Güter erzeugt werden, nämlich aus denselben Gründen, aus denen er von Manchen so gefürchtet ist. Seine Gemeinden sind dezentral organisiert, lose miteinander verknüpft, und bieten Raum für Gestaltung durch Führung. Das bedeutet, dass es auf jeden Fall unterschiedliche Antworten bzw. Reaktionen auf Angebote zur Mitgestaltung öffentlicher Güterproduktion geben wird, nicht eine monolithische Antwort „des Islam“ als Anweisung von oben. Hierfür sind aber junge Führungskräfte gefragt, die ihre Gemeinden für die Zusammenarbeit mit kommunalen Behörden öffnen. Zweitens sollte man keineswegs übersehen, dass auch im Islam zivile Werte wie Nachbarschaftshilfe und Wohltätigkeit hoch geschätzt werden.

Die örtliche Nähe und die damit verknüpften persönlichen Bekanntschaften, die zwischen den Beteiligten an lokalen politischen Entscheidungen und Konflikten oft zu Stande kommen, erlauben die Hoffnung, dass die Suche nach Lösungen für gemeinschaftliche Probleme kooperative, produktionsbezogene Interaktionen hervorbringen kann, die speziell in Kommunen mit hoher Einwandererzahl Bindungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen erzeugen.

Die gemeinsame Produktion öffentlicher Güter ist banal aber wichtig. Diese ist die Sphäre, in der Staatsbürgerschaft eine Angelegenheit von Aushandlungsprozessen darüber wird, wer was wann und wie bekommt. Die alltägliche Arbeit unterwandert Abstraktionen darüber, was „den Westen“ von „dem Islam“ trennen möge. Muslime und Nicht-Muslime brauchen sauberes Wasser, gute Schulen, sichere Straßen und eine preiswerte Müllabfuhr. Unterhalb der Ebene des Konflikts um die absoluten Wahrheiten kann ein Dialog über die Quellen praktischen Wissens geführt werden, und in der Tat entstehen und entwickeln sich genau diese Art produktiver Beziehungen jeden Tag in Deutschland.

Literatur

  • Benhabib, Seyla. 2002. „Political Theory and Political Membership in a Changing World.“ Political Science: The State of the Discipline. Ed. I. Katznelson and H.V. Milner. Washington, DC: W.W.Norton. Pp. 404-432.
  • de Leon, Erwin/ Maronick, Matthew/ De Vita, Carol. 2009. Community-Based Organizations and Immigrant Integration in the Washington, D.C. Metropolitan Area. Washington, DC: The Urban Institute.
  • Hansjörg Schmid/ Akca, Ayse Almila/ Barwig Klaus. 2008. Gesellschaft gemeinsam gestalten. Islamische Vereinigungen als Partner in Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos Verlag.
  • Howard, Marc. 2009. The Politics of Citizenship in Europe. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Kommunaler Qualitätszirkel zur Integrationspolitik. Politische Partizipation von Migrantinnen und Migranten, Stuttgart 2010, online: www.stuttgart.de/img/mdb/item/ 234447/ 52640.pdf (20. 12. 2010).
  • Klusmeyer, Douglas/ Papademetriou, Demetrios. 2009. Immigration Policy in the Federal Republic of Germany. New York: Berghahn Books.
  • March, Andrew. 2006. „Liberal Citizenship and the Search for an Overlapping Consensus: The Case of Muslim Minorities.“ Philosophy and Public Affairs 34(4): 374-421.
  • Stock Gissendanner, Scott. 2011. „Kommunale Integrationspolitik.“ Aus Politik und Zeitgeschichte 7-8/2011: 39-46.
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  1. Sugus sagt:

    „Eine der kleinen gemeinnützigen Kliniken wird übrigens vom Muslim Community Center betrieben, einer Moscheen-Gemeinde in Silver Spring, Maryland. (…) Die Moscheen-Gemeinde und ihre Führung sind von karitativen Motiven motiviert. Ganz in der muslimischen Tradition stellen sie ihre Dienste auch bedürftigen Nicht-Muslimen zur Verfügung.“
    Ich würde gerne mehr über diese mir neue muslimische Tradition erfahren. Wann und wo in der Geschichte haben karitative Organisationen von Muslimen bedürftigen Nicht-Muslimen zur Verfügung gestanden?

  2. Lino Klevesath sagt:

    Die Frage ist etwas schwierig zu beantworten. Der Grund ist, dass es historisch eigentlich keine festen Moscheegemeinden gab, die mit protestantischen Kirchengemeinden vergleichbar wären. Früher diente eine Moschee einer bestimmten Nachbarschaft als Betraum, es gab einen Vorbeter, aber keine verfasste Moscheegemeinde, die über die nachbarschaftlichen Verbindungen hinausging. Die heutigen festen Moscheegemeinden oder Moscheevereine sind in erster Linie ein Phänomen der heutigen modernen muslimischen Präsenz im Westen – man kopiert das Modell von Kirchengemeinden. Die US-Muslime, die im Durchschnitt ja wohlhabender sind als die Muslime in Europa, zeigen, dass Wohltätigkeit funktioniert. In Deutschland sind islamische Wohltätigkeitsorganisationen noch eher klein und meist überregional, also nicht an Moscheegemeinden gebunden.

    Aber Wohltätigkeit ist dennoch im Islam ähnlich wichtig wie im Christentum. „Zakat“ (Almosen / Armensteuer, der Pflichtanteil soll ungefähr 2,5% vom Einkommen ausmachen) ist eine der fünf Säulen des Islam und damit eines der verpflichteten Glaubenspraktiken genauso wie das Glaubensbekenntnis, die Gebete, die Pilgerfahrt und das Ramadan-Fasten.
    Als Institutionen waren für Wohltätigkeit allerdings die „Awqaf“(Singular „waqf“) entscheidend. „Waqf“ wird mit „religious endowment“ übersetzt. Diese Stiftungen dienten dazu, bestimmtes Kapital fest zu binden, so dass es nicht mehr durch Erbteilung oder Besteuerung verkleinert werden konnte. Solche Aqwaf dienten zum Unterhalt von Moscheen, Koranschulen, aber auch ganzen Krankenhäusern (birmaristan, Dar al-Schifa‘). Solche Krankenhäuser waren manchmal Moscheen quasi angegliedert, aber nicht fest an Moscheen gekoppelt. Ihre Dienstleistungen waren nicht grundsätzlich auf Muslime beschränkt.

    Aus meiner Sicht könnte man auch in Deutschland wohltätige Initiativen von Muslimen stärker nutzen. Zwar schreibt sich der Staat die Kooperation mit nicht-staatlichen Akteuren im Wohlfahrtsbereich auf die Fahnen, de facto profitieren davon bisher vor allem caritas und Diakonie, die selbst sehr bürokratisch verfasst sind. Eine Reform der Strukturen, die Verkrustungen aufbricht und die auch kleinen, spontanen und nicht-christlichen Initiativen die Mitarbeit ermöglicht, wäre aus meiner Sicht nötig.

  3. Scott Stock Gissendanner sagt:

    Vielen Dank für diese Frage, die ich zum Anlass nehme, mich zu präzisieren und einen Dialog mit Anderen über Islam und Caritas im Westen anzufangen. Mein Verständnis von Caritas und Islam rührt von dem Gebot des Islams her, Arme mit dem Zakat tatkräftig zu unterstützen. Einige Gelehrten interpretieren dieses Gebot als Imperativ, Geld direkt an Arme zu geben, damit es in ihr Eigentum übergeht. Andere sehen die die Option der Unterstützung durch Programme wie die in meinem Artikel beschriebene Ambulanz in Montgomery County.

    Die Kernfrage ist, ob es eine Tradition gibt, solche Tätigkeiten auch für nicht-Muslime zu öffnen, wie beim Beispiel der Ambulanz in Montgomery County. Die alte Tradition richtet sich doch scheinbar in erster Linie an die Gemeinde der Muslime. Die Hauptzielgruppe sind Muslime und das Ziel des Gebens ist der Erhalt der muslimischen Gemeinde. Aber das war im Christentum nicht groß anders. Der Moment des Gebens wurde in der Vergangenheit als Möglichkeit des Bekehrens, bei den Puritanern gar als Möglichkeit der sozialen Kontrolle gesehen. Diese Strategie der Rekrutierung und Kontrolle wird in deutschen kirchlichen Gemeinden nicht mehr praktiziert, in den USA schon eher, auch wenn in netteren und unverfänglicheren Formen. Man musste oft die Suppe mit dem Zuhören bei einer Predigt „bezahlen.“

    Einen Schlüssel zum Verständnis der künftigen Rolle der karitativen Tätigkeiten von muslimischen Gemeinden hat m.E. Lino Klevasath identifiziert: „Die heutigen festen Moscheegemeinden oder Moscheevereine sind in erster Linie ein Phänomen der heutigen modernen muslimischen Präsenz im Westen – man kopiert das Modell von Kirchengemeinden.“ Diese Beobachtung scheint mir wichtig zu sein, auch wenn ich ergänzen würde, dass die amerikanische Muslime Wohltätigkeit eher nicht von den Kirchen kopiert haben. Die Tradition der Wohltätigkeit in den USA scheint einfach in der Luft zu sein. Alle Organisationen, auch private Firmen, sind karitativ tätig. Es hat sicherlich etwas mit Christentum zu tun, aber die ich denke auch mit der Demokratie und der Aufklärung. Und diese Art von Anpassung an die/Übernahme der neuen kulturellen und sozialen Begebenheiten des Westens ist nicht nur in den USA zu sehen. Siehe den Bericht über karitative Tätigkeiten von muslimischen Gemeinden in England und Wales hier: http://www.charity-commission.gov.uk/about_us/contacting_us/p_brief_mosques.aspx.

    Ich sehe ein Potenzial für muslimische Gemeinden in Deutschland, eine noch größere Rolle als karitative Organisationen entweder im Alleingang oder in Verbindung mit Gemeinden und anderen Wohlfahrtsorganisationen zu spielen. Damit ahmen sie nicht unbedingt Kirchengemeinden nach, sondern eher muslimische Gemeinden der USA und Großbritannien. .

  4. Sternenblau sagt:

    „Der Kern dieser vorgeblichen Inkompatibilität zwischen Islam und liberaler Demokratie liegt in einer fundamentalen epistemologischen Differenz. Universalistische, auf Bekehrung orientierte Religionen insistieren, dass die einzige Form wahren Wissens die Gnosis ist, die Gotteserkenntnis, zu der man nur durch göttliche Offenbarung und den Glauben an eine heilige Schrift gelangt.“

    Im Islam geht es um den Gehorsam gegenüber Gottes Willen. Die Bedeutung von Gnosis ist hier zum Einstieg erklärt:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Gnosis
    Wenn überhaupt noch heute anzuwenden ist der Begriff Gnosis (der früher von der christlichen Kirche zur Abwertung und Abgrenzung gegenüber christlichen Strömungen als Sammelbegriff gebraucht wurde) nur auf die mystische Richtung des Islam, beispielsweise Sufismus.
    „Die Spannung zwischen Islam und liberaler Demokratie ist überhaupt nicht neu. Sie ist eine Variation der alten Besorgnis der Gründungsväter der USA ob der Integrierbarkeit von selbstinteressierten, starken politischen Minderheiten – der sogenannten “factions”. “

    Also ich verstehe unter „factions“ innerparteiliche Gruppierungen, die anders als Parteiflügel organisierter und strukturierter sowie ausgerichteter agieren. Islam ist kein faction. Der herrschende Diskurs im „Islam“ trennt anders als der christliche nicht zwischen religiöser und politischer Macht, wie es zum Beispiel in der Funktion der Moschee im Gegensatz zur Kirche zum Ausdruck kommt. Aber warum setze ich den „Islam“ in Anführungszeichen? Ich bin überzeugt davon, dass der Gedanke der Trennung zwischen Staat und Kirche (wie sie die christlichen Kulturen ja im Mittelalter auch nicht praktizierten) im Islam ein fremder ist. Das wiederum ist ein starkes Argument, warum liberale Demokratie und Islam inkompatibel erscheinen (aber nicht sind). Also quasi wird die Gottherrschaft vs. Menschenherrschaft in islamischen Ländern (noch) stärker zugunsten der ersteren betont.
    Das heißt aber nicht, dass das so bleiben muss, insofern bin ich auch der Meinung, dass der Diskurs zwischen Menschen (egal ob Christen, Muslimen oder Atheisten) natürlich stärker dezentral geführt werden sollte. Dazu können kommunale Weichenstellungen richtigerweise nützlicher sein als bundespolitische, aber ist die Stärkung der Kommunen überhaupt gewünscht? Und wenn die kommunalen Entscheidungsträger kein Interesse daran haben, zu integrieren? Ist es nicht gerade das kommunale Besitzstandswahren, welches einer stärkeren Integration im Wege steht, umso mehr in Zeiten der Finanzknappheit?
    „Vor diesem Hintergrund werden die Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen jeglicher Art zunehmend relevant für Kommunen in ihrer Aufgabe, die örtlichen Konsumptionsgüter bereitzustellen.“

    Welche Konsumptionsgüter meinst du?

    Also dein Fazit liest sich nachvollziehbarer. Ich entnehme daraus:

    Leute, macht aus der Not eine Tugend. Die Kommunen haben kein Geld mehr? Dann müsst ihr es eben mit den Migranten selbst in die Hand nehmen. „Muslime und Nicht-Muslime brauchen sauberes Wasser, gute Schulen, sichere Straßen und eine preiswerte Müllabfuhr.“ Da der Staat das in Zukunft nicht mehr gewährleisten kann, müssen wir in Deutschland uns an Amerika, wie beispielsweise Montgomery County ein Beispiel nehmen:
    „Obwohl die Einwohnerschaft zu den wohlhabendsten und am besten gebildeten in den USA zählt“ (oder gerade weil?) sind die ärmeren Bewohner nicht mal mit dem Notwendigsten ausgestattet. Da dort nicht nur Muslime von der Schande fehlender Gesundheitssysteme betroffen sind, gehen sogar die Nicht Muslime in den Keller einer Moschee, um sich dort mit den lebensnotwendigen Dingen versorgen zu lassen.

    Das ist doch mal ein Vorbild, Not schweißt zusammen.

    Also wirklich, da fällt mir gleich „Sicko“ von Michael Moore ein, wo die Amis nach Kuba schippern, um sich die Zähne (kostenlos) machen zu lassen.