Arbeitnehmerfreizügigkeit
Deutschland als Ziel von EU-Arbeitsmigranten
Welche Folgen haben die Regelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Zuwanderer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten für den Arbeitsmarkt?
Von Karsch/Kühl Donnerstag, 30.06.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 04.07.2011, 17:32 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Seit dem 1. Mai 2011 sind die Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstrichen. Arbeitnehmer aus den acht ost- und mitteleuropäischen Staaten, die im Jahr 2004 neben Malta und Zypern der EU beigetreten sind, können jetzt, ohne vorher eine Arbeitserlaubnis zu beantragen, eine Beschäftigung in Deutschland antreten. Das gilt also für Jobsuchende aus den sogenannten EU-8-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn – nicht aber aus Rumänien und Bulgarien. Diese beiden Länder sind erst 2007 Mitglieder der EU geworden. Markiert der 1. Mai 2011 eine neue Phase der EU-Binnenmigration? Was schätzen die Fachleute, wie viele Zuwanderer nun nach Deutschland kommen werden?
2004: Sorge vor einem Ansturm von Arbeitnehmern aus Osteuropa
2004 fürchteten Deutschland und Österreich, dass durch die höhere Zahl an Arbeitnehmern die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und die Arbeitslosigkeit steigen und die Löhne sinken würden. Das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) prognostizierte damals, dass innerhalb der ersten zehn Jahre nach der Öffnung des Arbeitsmarktes jährlich 160.000 Personen nach Deutschland kommen würden, wenn man ihnen eine freie Beschäftigungssuche innerhalb der EU zugesichert hätte. Das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) rechnete gar mit 380.000 Zuwanderern pro Jahr.
Während die Regelungen des Gemeinsamen Binnenmarktes für den Kapital- und Warenverkehr sofort in Kraft traten, legte die EU für die Arbeitnehmerfreizügigkeit deshalb Übergangsbestimmungen fest, und zwar das sogenannte „2+3+2-Modell“: Die Arbeitnehmer der EU-8-Länder hatten die ersten sieben Jahre nur einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt der Union. Die Beschränkungen wurden von den Ländern individuell festgelegt. In Deutschland und Österreich war es beispielsweise erforderlich, vor Antritt einer Beschäftigung eine Arbeitserlaubnis zu beantragen, während sich in Großbritannien jeder Arbeitnehmer innerhalb von 30 Tagen nach Aufnahme einer Beschäftigung bei dem nationalen Meldesystem für Arbeitnehmer anmelden musste. Diese Regelungen wurden zunächst nach zwei Jahren auf ihre Notwendigkeit überprüft. Nach weiteren drei Jahren mussten die Beschränkungen begründet werden, und zwar damit, dass es ansonsten zu einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt käme. Nur, wenn dies von der Europäischen Kommission bestätigt wurde, galten die Übergangregelungen für weitere zwei Jahre.
Die EU-Osterweiterung sorgte nicht nur für einen Anstieg der Binnenmigration, sondern lenkte auch die Wanderungsströme um. Während im Jahr 2003 noch 60 Prozent der Migranten aus den EU-8-Ländern nach Deutschland und Österreich gingen, waren es im Jahr 2010 nur noch 44 Prozent. Großbritannien und Irland dagegen konnten einen Anstieg von 14 auf 60 Prozent verzeichnen, weil sie sich schneller geöffnet hatten.
Zuwanderungspolitik macht einen Unterschied – auch bei der Binnenwanderung
In ausgewählten Ländern lebende Zuwanderer aus den EU-8-Ländern, 2000 bis 2010
Prognosen für Deutschland: Zuwanderung nach dem 1. Mai 2011
Da für die Entwicklung der Zuwanderungszahlen viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, die sich nicht immer voraussagen lassen, sind die Annahmen mit Vorsicht zu genießen. Zudem hängt die Entwicklung der Zuwanderung aus den östlichen Mitgliedsstaaten zunehmend von anderen EU-Mitgliedstaaten wie Großbritannien oder Irland ab, die bislang viele Arbeitskräfte aus Mittel-Ost-Europa angeworben haben.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat dennoch Szenarien für die Zuwanderung nach Deutschland aus den EU-8-Ländern ab dem Jahr 2010 entwickelt: ein hohes, ein mittleres und ein niedriges Migrationsszenario. Die hohen Zuwanderungszahlen gründen in der Annahme schlechter Arbeitsmarktbedingungen in Großbritannien und Irland. In deren Folge würde ein wirtschaftlich stabiles Deutschland für Zuwanderer, die aus den EU-8-Ländern stammen, an Attraktivität gewinnen. Das mittlere Migrationsszenario geht davon aus, dass sich in Großbritannien und Irland die Wirtschaft nach und nach erholt. Deshalb, und auch weil die Zuwanderer bereits über Kontakte dorthin verfügen und Netzwerke aufgebaut haben, zieht ein Großteil von ihnen weiterhin auf die Inseln im Nordatlantik. Das niedrige Migrationsszenario geht zwar davon aus, dass Deutschland weiterhin in steigendem Maße Arbeitnehmer aus den EU-8-Länder anziehen wird, aber im Vergleich zu den beiden anderen Szenarien in geringerem Umfang, da es an einer wirksamen Integrationspolitik mangelt.
Migranten aus den EU-8-Ländern in Deutschland
Prognosen für die Zahl der in Deutschland lebenden Zuwanderer aus den EU-8-Staaten
Fortschritte bei der Öffnung des Arbeitsmarktes und der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse
Ebenso wenig wie die Zahl der Zuwanderer lassen sich deren Alter und Qualifikation vorhersagen. Letztere wird die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt aber auch beeinflussen. Zum Ausbildungsstand der 25- bis 35-Jährigen in den EU-8-Staaten liegen immerhin Daten vor. Da Angehörige dieser Altersgruppe besonders mobil sind, ist ihre Qualifikation besonders interessant: Gut drei Fünftel der jungen Menschen aus den EU-Neustaaten können immerhin einen Abschluss der Sekundarstufe II, einer Berufsausbildung oder einer Weiterbildungsschule vorweisen, nur weniger als ein Zehntel hat einen kürzeren Bildungsweg hinter sich.
Höhere Bildungsabschlüsse: EU-8 übertreffen Deutschland
Bildungsabschlüsse der 25- bis 35-jährigen EU-Bürger im Vergleich (2010)
Deutschland tat sich bisher schwer mit der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse. Den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zufolge verfügen 36 Prozent der in Deutschland lebenden Migranten aus den EU-8-Ländern über einen „unbekannten Bildungsabschluss“. Die Bundesregierung hat das Problem jedoch erkannt und im März 2011 ein Gesetz zur Verbesserung der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse erlassen. Das ist eine gute Nachricht für viele der rund 2,9 Millionen Menschen in Deutschland, die laut Mikrozensus 2008 ihren höchsten Berufsabschluss im Ausland erworben haben. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung geht davon aus, dass sich die Zahl der Personen, die aufgrund der gesetzlichen Neuregelung ein Anerkennungsverfahren anstreben, zurzeit auf rund 300.000 Personen beläuft. Die Schätzung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung stützt sich auf die Annahme, dass vor allem für Personen, welche unter ihrer Qualifikation beschäftigt sind, die Neuregelungen interessant sind.
Für den deutschen Arbeitsmarkt und die Integration der Zuwanderer aus den EU-Nachbarländern spielt jedenfalls nicht nur die Zahl der Migranten eine Rolle, sondern auch deren Qualifikation – und die Anerkennung derselben. Ob es zu einer Zuwanderungswelle nicht erwerbstätiger Personen und gering qualifizierter Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedsstaaten nach Deutschland kommen wird, wie etwa Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut befürchtet, bleibt abzuwarten.
Literatur/Links
- Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011): Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Berlin.
- Deutscher Bundestag (2011): Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Osterweiterung der Europäischen Union – Chancen und Risiken für den Arbeitsmarkt. Berlin.
- Europäische Kommission (2011): Freizügigkeit – EU-Bürger. Brüssel.
- Europäische Kommission (2011): EU-Erweiterung: Übergangsbestimmungen. Brüssel.
- Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2011): Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1.Mai 2011 – Mehr Chancen als Risiken für Deutschland. Nürnberg.
- Institut für Wirtschaftsforschung (2011): Der Migrationssturm. München.
- Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (2001): Die EU-Osterweiterung und der deutsche Arbeitsmarkt: Testfall für die deutsch-polnische Interessengemeinschaft. Sankt Augustin.
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