Russland
Merkel verspricht Lockerung der Visapraxis
Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigt Lockerungen der restriktiven Visumspraxis in Russland an. SPD fordert eine rasche Umsetzung, die Linkspartei Erleichterungen auch in ärmeren Ländern; der Verband für binationale Familien startet eine Kampagne.
Donnerstag, 21.07.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.07.2011, 0:27 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland stehen vor einem Rekordhoch. 2010 belief sich der Export nach Russland auf 26,4 Milliarden und machte 2,7 Prozent des Gesamtexports aus. Umgekehrt betrug der Import aus Russland fast 32 Milliarden Euro.
Spürbar entwickelt sich auch der Austausch der Zivilgesellschaften. Das sieht man an den rund 375 000 Visumsanträgen, die 2010 in deutschen Auslandsvertretungen in Russland eingereicht wurden. Damit rangiert Russland allein an der Spitze im internationalen Vergleich. „Und das obwohl die deutschen Behörden bei der Visavergabe bisher sehr zögerlich sind“, teilt die Bundesregierung mit. Dabei liegt Ablehnungsquote in Russland unter dem weltweiten Durchschnitt von über acht Prozent. 2010 wurden rund 12 000 beziehungsweise 3 Prozent aller Anträge abgelehnt.
Visaerleichterungen versprochen
Dennoch bestehe Handlungsbedarf. In einem Stufenplan will die Bundesregierung nun die Schwierigkeiten der komplizierten Visapraxis in Russland beleuchten. Nächstes Jahr werde man einen Schritt weiter sein, versprach Merkel am Dienstag in Hannover, wo sich die Regierungen beider Länder zusammentrafen. Insbesondere für Unternehmer, aber auch für Studierende, Auszubildende und Touristen sei ein intensiverer Austausch wünschenswert.
Das wünscht sich auch die SPD-Bundestagsfraktion. „Dass es notwendig ist, baldigst zu einer Liberalisierung der Visa-Bestimmungen zwischen Deutschland und Russland zu kommen, wurde in nahezu allen Arbeitsgruppen des 11. Petersburger Dialoges unterstrichen“, erklärte Franz Thönnes (SPD). Zuviel Papier, Wartezeiten, Kosten und Bürokratie behinderten sowohl einen regen Austausch der Menschen untereinander wie auch den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen sowie den produktiven Diskurs von Wissenschaft, Forschung und Kultur.
Nachteilige Visapraxis
Erst Anfang Juli hatte der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft mit einer Umfrage deutlich gemacht, welche Kosten durch die bisherige Praxis entstehen und welche Bedeutung eine Abschaffung der Visa-Pflicht mit Russland haben könnte. So wird geschätzt, dass Deutsche und Russen jährlich 162 Millionen Euro für die Beantragung von Visa aufwenden müssen. Die Abschaffung der Visapflicht mit Russland ist bei 83 Prozent der befragten 200 Unternehmen ein wichtiges Thema für ihre weitere Geschäftsentwicklung. Bei vollkommener Visa-Freiheit würden immerhin 56 Prozent mehr in Russland und/oder der EU investieren.
Angesichts dieser Erkenntnisse fordert die SPD von der Bundesregierung eine Erklärung, „inwieweit die jetzigen Visa-Regelungen ein Investitionshemmnis sind und möglicherweise auch zu Wettbewerbsnachteilen beitragen“. SPD-Politiker Thönnes möchte auch geklärt haben, „ob die aufgewendeten Verwaltungskosten und die Bürokratie im Verhältnis zur erwünschten und real erzeugten Sicherheit stehen“. Schließlich müsse man sich auch darüber unterhalten, welchen hindernden Einfluss die restriktive Visavergabe auf den Ausbau der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen hat.
Klärungsbedarf auch in anderen Ländern
Klärungsbedarf sieht auch Linke-Politikerin und Migrationsexpertin Sevim Dağdelen in Bezug auf andere Länder. Sie bemängelt eine sozial selektive Visapraxis. Die „Tore der Festung Deutschland“ würden nur für „die von der deutschen Wirtschaft als nützlich und erwünscht betrachteten ausländischen Fachkräfte einen Spaltbreit geöffnet“.
Ein Blick auf den Ländervergleich belegt Dağdelens Vorwurf. Visumsablehnungen kommen insbesondere in den ärmeren afrikanischen Staaten sehr viel häufiger vor. So betrugen die Ablehnungsquoten im Jahr 2010 in Guinea 50, Kongo 44, Senegal 43, Ghana 30, Kamerun 35 und Nigeria 36 Prozent. Zum Vergleich: Der Export deutscher Ware in diese Länder betrug 2010 insgesamt 1,6 Milliarden.
MiG-Dossier: Rechtsprechung, Einzelheiten, Hintergründe und die Politik der Bundesregierung zur Thematik im MiG-Dossier „Visumsfreiheit für Türken„.
Türkei: Rechtswidrige Visapraxis
„Bemerkenswert ist auch die hohe Ablehnungsquote in der Türkei (15 Prozent)“, so Dağdelen weiter. Das entspricht rund 23 000 Visumsablehnungen bei 162 000 Anträgen im selben Zeitraum. Die Linkspolitikerin weiter: „Hier ist die hohe Ablehnungsquote schon allein deshalb fragwürdig, weil nicht nur in der juristischen Fachliteratur mehrheitlich davon ausgegangen wird, dass infolge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs türkische Staatsangehörige jedenfalls zu touristischen Zwecken wegen der EU-Assoziierungsabkommen gar kein Visum benötigen und visumfrei einreisen können müssten.“
Diese Rechtsauffassung teilt auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages. Danach verstößt die seit 1980 geltende Visumpflicht für türkische Staatsangehörige – etwa für touristische Besuche – gegen verbindliches EU-Recht. „Das Festhalten an der Visapflicht für türkische Staatsangehörige ist europarechtswidrig und damit Unrecht. Die Bundesregierung muss dieses Unrecht beenden und nicht weiter aus rechtspopulistischen Gründen fortsetzen“, so Dağdelen abschließend.
Kein Visum für die Oma
Auf einen bisher kaum beachteten aber wichtigen Aspekt macht der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf) aufmerksam. „Eltern verreisen mit ihren Kindern, die Enkel besuchen die Großeltern, die Großeltern die Kinder – eine Selbstverständlichkeit. Doch leider gilt das nicht für alle. Wer Angehörige in visumspflichtigen Drittstaaten hat, kann nicht davon ausgehen, dass Vater, Großmutter oder Bruder tatsächlich ein Besuchervisum bekommen“, so Hiltrud Stöcker-Zafari, Geschäftsführerin des iaf.
Info: Gastgebende und einreisende Familien können auf der Homepage des Verbandes www.verband-binationaler.de über ihre Erfahrungen berichten. Dazu steht ein Fragebogen bereit.
Dabei sei der gesetzliche Rahmen für eine mehrmalige Einreise mit den familienfreundlichen Regelungen des EU – Visakodex bereits seit April 2010 gegeben und warten auf die Umsetzung. Damit wären mehrmalige Besuche von Angehörigen in Deutschland möglich. So aber werde aus dem Recht auf Familienleben „ein behördlicher Gnadenakt – es fehlt der Wille, den gesetzlichen Rahmen familienfreundlich zu nutzen“, fasst Stöcker-Zafari den Tenor bisheriger Erfahrungen des iaf zusammen.
Um das zu ändern, möchte die iaf weitere Erfahrungen von Antragstellern sammeln und auswerten. Dazu hat der Verband eine Umfrageaktion gestartet. Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse wolle man bewirken, die oft langwierigen und frustrierenden Verfahren zu verändern. (bk)
Leitartikel Politik
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- Nach Budget-Halbierung Regierungsbeauftragter für Reform der Integrationskurse
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- „Hölle“ nach Trump-Sieg Massenabschiebungen in den USA sollen Realität werden
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
Allein der Flug z.B. aus dem Fernen Osten Russlands nach Nowosibirsk und die Warterei am Konsulat, die Notwendigkeit einer Einladung im Original UND all der Papiere, die man dann auch nicht nachreichen kann – es wird gemeinhin als Schikane empfunden und trägt nicht zu einem guten Bild Deutschlands und zur positiven Bewertung seiner Demokratischen Haltung bei. Allerdings sollte man bei Visaverhandlungen darauf achten, dass Russland bei einer Zusage von Visafreiheit die Registrierungspflicht für Ausländer in jeder Stadt bei Aufenthalt von mehr als drei Tagen abschafft. Dies ist für Individualtouristen, Familienbesuche und dergleichen das eigentliche Hindernis und Übel. Dies sollte man immer wieder betonen.
Ein elektronisches Visum wie nach Australien wäre doch auch schon was. Aber, wie gesagt, die Registration ist (wenn man nicht in internationalen Hotels übernachtet) eine Zumutung und ein Relikt aus der Sowjetzeit das anachronistischer nicht sein könnte