Afra Mertek
„Meine Familie hat mir eine angenehme und lockere Lernatmosphäre ermöglicht“
Afra Mertek hat das Abitur am Märkischen Gymnasium Hamm als Jahrgangsbeste mit einem Notendurchschnitt von 1,0 gemacht. Im Gespräch mit MiGAZIN spricht sie über ihren Bildungserfolg, ihre Erfahrungen, ihre Familie und ihre Zukunft.
Von Musa Bağraç Mittwoch, 27.07.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 29.07.2011, 1:28 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
MiGAZIN: Mit Stolz kannst du auf ein erfolgreiches Abitur zurückschauen. Wie hast du dich auf das Abitur vorbereitet? Welche Mittel neben den Schulbüchern hast du fürs Lernen und für die Abiturvorbereitung benutzt?
Afra Mertek: Jeder Schüler hat für sich ein „Lernsystem“, womit er arbeitet. Meine Vorgehensweise war, dass ich versucht habe, körperlich aber vor allem geistig am Unterricht teilzunehmen; also aufzupassen und im Unterricht aufmerksam zu sein. In der Abiturphase habe ich Zusammenfassungen und Schemata zu allen Themen erstellt, wodurch alle Zusammenhänge noch einmal erarbeitet wurden.
Neben Schulbüchern waren Sekundärliteratur, effektives Nutzen des Internets und Gespräche mit Fachleuten sehr hilfreich. Auch die Zusammenarbeit mit Freunden, wobei man sich die Themen nach und nach gegenseitig erklärt und eine Prüfung simuliert, sorgt für ein harmonisches Miteinander-Lernen und Austauschen.
MiG: Hast du dazu auch Originalklausuren aus Vorjahren (Abiturklausuren) herangezogen. Wenn ja, welche Rolle spielten sie für dein Lernen?
Afra: Ja, denn durch das Erarbeiten früherer Klausuren entsteht eine gewisse Gelassenheit und Ruhe im Menschen, da man immer Angst vor etwas hat, was man nicht kennt. Auf der einen Seite hat man dadurch rein inhaltliche Übung, auf der anderen Seite legt man die Nervosität und Angst beiseite und kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Letztendlich habe ich mein Bestes getan und Gott vertraut.
MiG: Als du nachmittags von Schule nach Hause kamst, wie sah deine Freizeit aus? Hattest du überhaupt eine Freizeit oder war das alles nur noch eine reine Lernzeit?
Afra: Ich hatte nicht nur eine reine Lernzeit – wie viele Menschen vielleicht vermuten. Nach der Schule gab ich oft Nachhilfe, zu Hause habe ich erst immer eine Pause gemacht und meinen Kopf meistens durch ein wenig Schlaf freigekriegt. Manchmal habe ich etwas mit Freunden unternommen oder war einfach nur unterwegs. In der klausurfreien Zeit habe ich kaum gelernt, da die Hausaufgaben meistens schon gereicht haben, um den nötigen Stoff präsent zu halten. In der Klausurphase habe ich für eine Klausur 3-4 Tage gelernt, was eher ein Auswendiglernen war. Unverstandenes habe ich direkt im Unterricht nachgefragt oder habe mit Freunden darüber diskutiert.
MiG: Das alles hört sich ja echt anstrengend an. Wie hast du dich dennoch ständig über Jahre hinweg zu Höchstleistungen motivieren können?
Afra: Natürlich gibt es immer Fächer, die man bevorzugt oder vor ihnen doch eher wegläuft. Aufgrund früherer Erfolge, die mir eine gewisse Freude bereitet haben, habe ich Spaß an Schule gewonnen, wodurch die Motivation aus mir selbst herauskam und das Lernen keine Belastung mehr war. Als Mensch hat man auch gewisse Ziele im Kopf, die man anstrebt. Ich wollte das Potenzial ausbauen, anderen Menschen helfen und somit das Wohlgefallen Gottes erreichen. Wichtig dabei ist, dass man bei Verschlechterungen im Notenspektrum emotional Abstand hält und sich bewusst ist, dass es auf andere Dinge im Leben ankommt – wie das Wohlgefallen Gottes …
MiG: Und welche Rolle spielte dabei deine Familie?
Afra: Meine Familie hat mir erst einmal eine angenehme und lockere Lernatmosphäre ermöglicht. Durch viele Gespräche über die Zukunft und über die gegenwärtige gesellschaftliche Lage habe ich die Wichtigkeit einer sozial aktiven Person immer wieder realisiert. Während einiger Phasen, in denen ich keine Lust mehr hatte zu lernen, habe ich mich mit meiner Familie unterhalten und somit wieder Spaß am Ganzen gehabt.
MiG: Ich höre heraus, dass Lernen dir Spaß macht. Hat es dich auch mal beängstigt? Wie sieht es mit Prüfungsangst bei dir aus?
Afra: Das Abitur wird unter den Schülern – aber auch allgemein – sehr hochgeschaukelt, wodurch automatisch Prüfungsangst und Druck entstehen. Ich war vor den Klausuren, vor allem vor den Ersten, immer sehr nervös, weil ich nicht wusste, was für Themen vorkommen werden und ob ich diese gut genug gelernt hatte etc. Doch wenn man weiß, dass man alles getan hat, was möglich war, hat man –auch bei schlechten Ergebnissen am Ende- ein ruhiges Gewissen. Mit der Zeit merkt man doch: Es sind ganz normale Klausuren, die aber noch ein „Abi-“ als Vorsilbe drangehängt haben. Die ganze Angst und der enorme Druck, den man sich selbst macht, ist im Endeffekt völlig überflüssig.
MiG: Ich habe in Erfahrung gebracht, dass du sowohl im schulischen als auch im privaten verschiedene Verantwortungen übernommen hast. Welche waren diese und in wieweit haben diese Einfluss auf deinen schulischen Erfolg gehabt?
Afra: Schulische Verantwortungen waren u.a. Hausaufgaben und Recherche von unterschiedlichsten Dingen, aber auch Formalia wie Pünktlichkeit. Als Schüler muss man Lernbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein etc. ausstrahlen. Die zeitliche Ebene sorgt diesbezüglich für eine gewisse Struktur im Alltagsleben und hat einen positiven Einfluss auf den schulischen Erfolg, da man sich die Zeit genau einteilen kann und organisiert arbeitet. Hausaufgaben unterstützen das Einprägen des Stoffes und beeinflussen somit den Erfolg auch positiv.
Im Privaten hatte ich auch einige Aufgaben. Ich habe neben dem Lernverein auch privat Nachhilfe gegeben und somit Verantwortung für den Erfolg einiger Schüler übernommen. Dies hat mir geholfen, bekannte Themen zu wiederholen. Ich hatte so wie jedes Familienmitglied häusliche Pflichten zu erledigen, von denen ich in der Abiturphase jedoch befreit wurde.
MiG: Nun, jetzt hast du aber einen wichtigen Lebensabschnitt hinter dir. Was kannst du uns über deine persönliche Beziehung zur Schule, zu deinen Mitschülern und Lehrern sagen. Und welche Rolle haben diese für deinen schulischen Erfolg gespielt?
Afra: Die Schule war für mich nichts, was zu meiden wäre. Ich bin gerne zur Schule gegangen und hatte auch sehr viel Spaß. Ich hatte meine Freunde um mich herum und wir haben uns alle gegenseitig unterstützt, um so gemeinschaftlich besser voranzukommen als alleine. Mit Lehrern hatte ich kaum Probleme, alle waren auch sehr freundlich und hilfsbereit, sodass ich bei Schwierigkeiten immer einen Lösungsweg angeboten bekommen habe. Es herrschte ein allgemeines Vertrauen, das auf Gegenseitigkeit beruhte.
So kann ich sagen, dass sich der Erfolg aus dieser warmen und vertrauten „Geben-Nehmen-Atmosphäre“ mit ein wenig Willen Schritt für Schritt von alleine entwickelt hat.
MiG: Wie man sieht, trägst du ein Kopftuch. Wurde dir in deinen Schuljahren je das Gefühl vermittelt, du gehörtest aufgrund deiner kulturellen und religiösen Zugehörigkeit nicht dazu? Wenn ja, wie bist du damit umgegangen?
Afra: Zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen ist nicht immer einfach. Es gibt natürlich Differenzen, sonst gäbe es ja auch keine derartige Vielzahl an verschiedenen Kulturen. Mit der Zeit spielen nicht mehr/nur kulturelle und religiöse Wertvorstellungen eine Rolle, sondern es ist die Persönlichkeit und die Charakterstärke, die in den Vordergrund gerückt werden. Ich persönlich wurde mit derartigen Problemen kaum konfrontiert, da ich wahre Freunde und herzhafte Lehrer um mich herum hatte, die mich in all meinem Tun unterstützt haben.
Als ich angefangen hatte, Kopftuch zu tragen, war der eine oder die andere Lehrperson misstrauisch, ob dies widerwillig sei. Doch das, was in so einer Situation hervorkommt, ist die Persönlichkeit, die man sich Schritt für Schritt aufgebaut hat. So konnte ich die Menschen vom Gegenteil überzeugen.
Also gab es – und wird in Zukunft auch geben – immer irgendwo Differenzen, doch sobald jeder die eigene Position vertritt und sich beide Seiten mit Verständnis gegenübertreten, ist das Ganze mit einem Lächeln zu betrachten.
MiG: Du kannst auf eine bilinguale Biografie zurückblicken. Türkisch ist deine Muttersprache und Deutsch war dein Leistungskurs. Wie sieht dein persönlicher Zugang zu diesen Sprachen aus? Liest du eher türkische oder deutsche Literatur? In welcher Sprache sprichst du zuhause?
Afra: In sehr jungen Jahren haben meine Eltern immer versucht, beide Sprachen – so gut es ging – zu lehren. Mit meiner Mutter habe ich überwiegend Deutsch, mit meinem Vater mehr Türkisch geredet – was heute immer noch so ist. Doch da der Schwerpunkt im Alltagsleben, also im Kindergarten, in der Schule etc., mehr auf Deutsch lag, habe ich mein Deutsch besser ausbauen können als mein Türkisch. Darauf basierend kann ich sagen, dass mein Deutsch um Einiges besser ist als mein Türkisch. Da ich in der Sekundarstufe 2 Deutsch-LK hatte, haben wir auch viele Lektüren gelesen. Türkische Bücher habe ich während der Schulzeit nicht ganz wahrgenommen, was ich nun ändern möchte, da ich das Ziel verfolge, meinen Wortschatz zu erweitern.
Oft ist es bei Schülern mit Migrationshintergrund immer so, dass sie Deutsch und die eigentliche Muttersprache vermischen, sodass eine völlig neue Sprache entsteht, was nicht so ganz Sinn der Sache ist.
MiG: Die nächste Staffel von Abiturienten ist im kommenden Jahr an der Reihe. Darunter wiederum viele mit Migrationshintergrund. Welchen Tipp möchtest du ihnen mit auf den Weg geben, damit sie sich optimal auf die Prüfung, aber auch auf das Leben vorbereiten können?
Afra: Das Allerwichtigste hierbei ist der Wille, denn „wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, wie man so schön sagt. Die Schüler müssen sehen können, wie wichtig es ist, eine gewisse Struktur und Ordnung im Leben zu haben, wodurch sie im Endeffekt zur inneren Ruhe, Zufriedenheit und zum Erfolg kommen können. Jeder muss sich erst einmal selbst gut kennen, um zu wissen, wie man am effektivsten lernen kann – manche durch Hören, manche durch Sehen, wiederum manche durch Lesen. So wendet man ein so genanntes „Mini-Max-System“ an, d.h. sehr viel in sehr wenig Zeit zu lernen; also müssen wir erst das Lernen lernen. Dabei muss man einen gewissen Grad an Konsequenz und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber entwickeln, denn einige neigen manchmal dazu, sich selbst zu ‚veräppeln‘.
MiG: In deiner Familie gelte das Motto „Wichtiger als Erfolg im Leben, ist das Leben selbst erfolgreich zu meistern“. Was heißt das und welchen Stellenwert besitzt diese Familienweisheit für dich persönlich?
Afra: Dieser Spruch hört sich zu Beginn erst einmal etwas primitiv an, doch ist er sehr tiefsinnig. Hier spielen Werte eine sehr wichtige Rolle: Was möchte man im Leben? Geld, aber kein Glück? Glück, aber kein Geld? Geld und Glück? …
Viele Menschen streben nach Karriere und Reichtum, doch werden sie dadurch auch glücklich? Aus dieser Fragestellung lässt sich schließen, dass jeder für sich klären muss, was wichtiger ist. Doch mein Ziel ist, das Leben selbst mit dem Wohlgefallen Gottes erfolgreich zu meistern, dieses Wohlgefallen auch anzustreben. Wenn man sich dessen bewusst wird, werden bestimmte – vor allem materielle – Dinge sekundär und der Erfolg wird in seiner Gesamtheit betrachtet wichtig. Worauf es ankommt, sind im Endeffekt andere Werte. An der Stelle ein kleines Zitat aus dem Koran, das mir persönlich sehr am Herzen liegt: „Der Mensch bekommt nur das, wofür er sich anstrengt.“
MiG: Steht schon fest, welcher Studiengang dir dabei helfen wird, „das Leben erfolgreich zu meistern“?
Afra: Seit Jahren kamen für mich immer nur zwei Studiengänge in Frage: Psychologie und Medizin. Ein Praktikum im Krankenhaus hat mir geholfen, meinen Einblick in die Medizin etwas zu erweitern. Doch da beide Richtungen sowohl negative als auch positive Seiten haben, möchte ich einen Mix daraus machen: Medizin mit einem Fachstudium in Psychiatrie – falls ich meine Meinung nicht ändern sollte. Dadurch möchte ich den Menschen sowohl auf psychologischer Ebene als auch auf medizinischer Ebene behilflich sein, zumal Medizin etwas Unentbehrliches ist und immer aktuell bleibt.
MiG: Liebe Afra besten Dank für die sehr interessante Unterhaltung. Ich höre heraus, dass du mit deiner Aufgeschlossenheit Brücken zwischen den Menschen bauen möchtest. Ich wünsche dir dabei alles Gute und viel Erfolg im Studium. Aktuell Interview
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@ Herbert G.
Sie schreiben:
„Überall Revolutionen, der arabische Frühling! Die Feinde der offenen Gesellschaften müssen sich in Acht nehmen vor dem Potential, was da auf uns zu kommt!“
Der Text müßte nach den neuesten Entwicklungen in Tunesien und Ägypten (lesen Sie Zeitung?) heißen:
„Überall Revolution, der arabische Frühling und das durch ihn entstandene Machtvakuum wird zunehmen von den Islamisten in Besitz genommen. Die offene Gesellschaft dort (es gibt Reste und Ansätze) und hier muß sich vor DEM Potential, was da auf sie zukommt, MEHR als in Acht nehmen.
Aber ich habe für DA wenig Hoffnung.
Bisschen Lesestoff:
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_postrevolutionaere_depression_1.11685764.html
Hannibal, können Sie auch was anderes, außer hetzen? Wir von der Freigruppe freuen uns über die erfreulichen Ereignisse in Nordafrika und hoffen auf die Demokratie. In Ägypten feiern die Menschen auf der Straße, auch dort geht es bergauf!
Mir ist aufgefallen, wie in dieser Diskussion die Leistung der erfolgreichen Schülerin fortlaufend in den Hintergrund tritt. Im Gegensatz dazu werden irgendwelche gesellschaftliche Probleme in den Vordergrund gebracht.
Leider werden noch immer Bürger mit Migrationshintergrund ,,abgestempelt´´ und können sich nicht integrieren. Wobei Integration ganz oben steht und auch erwartet wird, werden Bürger mit Migrationshintergrund oft an ihrer Integration durch Deutsche Bürger gebremst – warum es auch sei.
Ich möchte zurück zu den Leistungen dieser türkischstämmigen lencken, denn es waren dieses Jahr 2 türkische Schüler, die am MGH das Abitur mit dem Notendurchschnitt 1,0 absolviert haben.
Ích gratuliere vom ganzen Herzen