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Ägypten

Umbruch in der arabischen Welt

Ägypten - trotz guter Ausbildung sind junge Ägypter häufig arbeitslos. Mit der Bildung kommt aber der Wunsch nach Arbeit und einer modernen Gesellschaft. Ein Überblick zur Bildungs- und Arbeitsmarktsituation in Ägypten.

Von Mittwoch, 27.07.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 29.07.2011, 1:29 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Den Anfang nahmen die Unruhen in der arabischen Welt in Tunesien, ausgelöst durch die Selbstverbrennung eines jungen Obsthändlers. In seinem eigentlichen Beruf als studierter Informatiker fand der 26-jährige Mohammed Bouazizi keinen Job, er schlug sich mit einem Verkaufsstand durch. Als die Polizei wieder einmal seine Ware beschlagnahmte, weil er keine Genehmigung als Obstverkäufer besaß, verzweifelte er. Viele junge Araber, die trotz oder gerade wegen ihrer guten Bildung besonders häufig arbeitslos sind, konnten offenbar seine Frustration und Wut nachempfinden. Deshalb gilt diese Begebenheit als der Funke, an dem sich die Konflikte in der Region entzündeten.

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Die Geschwindigkeit, mit der sich die Proteste über Ländergrenzen hinweg ausdehnten, überraschte viele. Ganz ohne Vorwarnung kam der politische Umbruch jedoch nicht. Die demografischen Verhältnisse in der Mehrheit der arabischen Länder deuteten auf eine solche Entwicklung hin. Ein großer Jugendanteil, ein steigendes Bildungsniveau und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit sind typisch für die meisten arabischen Länder und erhöhen nach Ansicht von Demografen die Wahrscheinlichkeit, dass Konflikte entstehen.

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Auf den Bildungshunger folgt der Wunsch nach Arbeit – und einer modernen Gesellschaft
Auch in Ägypten leben viele junge, gut ausgebildete Menschen – ohne Jobs. Das Land am Nildelta hat in den letzten 50 Jahren eine rasante Bevölkerungsentwicklung erlebt. Zwischen 1960 und 2010 hat sich die Bevölkerung auf über 85 Millionen Menschen verdreifacht. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau sank in den letzten 50 Jahren zwar deutlich, ist aber mit einem Wert von 2,85 weiterhin auf einem hohen Niveau und prägt die Altersstruktur der ägyptischen Gesellschaft stark. Über die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25, etwa ein Drittel der Bevölkerung ist sogar unter 15 Jahre alt. Der Anteil potenzieller Erwerbstätiger in der Bevölkerung ist ebenfalls hoch: Diejenigen, die im produktiven Alter zwischen 15 und 64 Jahren sind, stellten 2008 rund 62 Prozent der Gesamtbevölkerung – zehn Jahre zuvor lag ihr Anteil noch bei 55 Prozent.

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<strong>Eine echte Pyramide</strong> - Altersstruktur der Bevölkerung Ägyptens 2008

Eine echte Pyramide - Altersstruktur der Bevölkerung Ägyptens 2008

Die Bevölkerungspyramide Ägyptens zeigt einen typischen Verlauf für Länder mit einer relativ hohen Fertilität in jüngster Vergangenheit. Der Anteil der Ägypter, die jünger als 30 Jahre alt sind, liegt bei rund 63 Prozent. Beinahe 62 Prozent der Bevölkerung sind zwischen 15 und 64 Jahre alt, älter als 64 Jahre sind nur gut vier Prozent. Sowohl der Anteil der Erwerbsfähigen als auch der Älteren an der Gesamtbevölkerung ist in den vergangenen zehn Jahren gewachsen (Egypt Demographic and Health Survey 2008).

Nicht nur die Zahl der potenziellen Erwerbstätigen auf dem ägyptischen Arbeitsmarkt ist gestiegen, sondern auch ihre Qualifikation. Je jünger eine Generation ist, desto höher ist ihr Bildungsabschluss. Männliche Ägypter, die der Altersgruppe zwischen 20 und 24 Jahren angehören, sind im Schnitt rund elf Jahre zur Schule gegangen. Der Wert ist damit fast doppelt so hoch wie der ihrer Väter: 50- bis 54-jährige Ägypter haben die Schule nur etwa sechs Jahre lang besucht. Bei den ägyptischen Frauen ist die Verbesserung noch deutlicher sichtbar. So gingen jene, die heute zwischen 40 und 44 Jahre alt sind, im Durchschnitt noch weniger als vier Jahre lang zur Schule. Die 20- bis 24-Jährigen kommen mit fast elf Jahren Schule auf einen nahezu dreimal so hohen Wert. Damit liegen die Ägypterinnen dieser Altersklasse beinahe gleichauf mit ihren gleichaltrigen männlichen Mitbürgern. Der Bildungsunterschied zwischen ägyptischen Männern und Frauen hat von Generation zu Generation enorm abgenommen.

Die Verbesserung des ägyptischen Bildungssystems führt nicht nur dazu, dass junge Ägypter immer länger zur Schule gehen, sie schreiben sich auch vermehrt an einer Universität ein. Dabei verstärkte viele Jahre lang besonders die Kombination aus kostenfreiem Studium und der garantierten Anstellung im öffentlichen Sektor nach erfolgreichem Abschluss die Anreize zur universitären Ausbildung. So stieg der Anteil der Studierenden in Ägypten von zwölf Prozent im Jahr 1991 auf 29 Prozent im Jahr 2007. Der öffentliche Dienst gehört allerdings kaum zu jenen Branchen, mit denen sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit Ägyptens verbessern lässt.

<strong>Immer mehr junge Ägypter erreichen einen hohen Bildungsabschluss</strong> - Bildungsabschluss nach Altersgruppen (Männer)

Immer mehr junge Ägypter erreichen einen hohen Bildungsabschluss - Bildungsabschluss nach Altersgruppen (Männer)

Die unterschiedliche Verteilung der Bildungsabschlüsse zwischen den einzelnen Altersgruppen zeigt eine eindeutige Entwicklung: Je jünger eine Bevölkerungsgruppe ist, desto höher ist ihr Bildungsabschluss. In der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren hat eine deutliche Mehrheit von 59,7 Prozent nie eine Schule besucht. Bei den 45- bis 49-Jährigen und den Jüngeren stellen jene ohne Schulbildung nicht mehr die größte Gruppe. Von den 20- bis 24-Jährigen haben 71,5 Prozent mindestens eine weiterführende Schule besucht (Egypt Demographic and Health Survey 2008).

<strong>Junge Ägypterinnen schließen bei den Bildungserfolgen auf</strong> - Bildungsabschluss nach Altersgruppen (Frauen)

Junge Ägypterinnen schließen bei den Bildungserfolgen auf - Bildungsabschluss nach Altersgruppen (Frauen)

Die Verbesserung der Bildungsabschlüsse in den einzelnen Altersgruppen ist bei den ägyptischen Frauen im Vergleich zu den Männern noch stärker ausgeprägt. In der Altersgruppe 65 und älter hat eine überwältigende Mehrheit von 80,3 Prozent nie eine Schule besucht. Auch in der Gruppe 45- bis 49-Jährigen stellt diese Gruppe mit 50,5 Prozent noch eine absolute Mehrheit. Erst bei den Altersgruppen bis 29 Jahren haben sich die Zahlen denen des männlichen Teils der Bevölkerung angeglichen (Egypt Demographic and Health Survey 2008).

Ägypten verpasst die Chance, das Potenzial der Jugend zu nutzen
Aus demografischer Sicht sind die Voraussetzungen für eine wirtschaftlich positive Entwicklung Ägyptens gegeben. Denn zum einen ist der Anteil der Menschen im Erwerbsalter an der Gesellschaft gewachsen, und zum anderen erreichen immer mehr junge Ägypter einen hohen Bildungsabschluss. Beide Entwicklungen zusammen bilden eine gute Ausgangslage, um eine „demografische Dividende“ einzufahren: Wenn die durchschnittliche Kinderzahl je Frau sinkt und sich der Schwerpunkt der Bevölkerung ins erwerbsfähige Alter verschiebt, muss der einzelne Erwerbstätige weniger zur Versorgung wirtschaftlich Abhängiger wie Kindern und älteren Menschen beitragen. Wenn der Staat weiter in die Ausbildung der nachfolgenden Generationen und in Arbeitsplätze mit höherer Wertschöpfung investiert, erhöht das die Wirtschaftskraft des Landes. In den 1990er Jahren trug die demografische Dividende rund ein Drittel zum wirtschaftlichen Wachstum der asiatischen „Tigerstaaten“ bei.

Die demografische Dividende verlangt jedoch eine gezielte Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Nur wenn es gelingt, die volkswirtschaftlichen Strukturen den neuen demografischen Gegebenheiten anzupassen, kann der vorher geschaffen demografische „Bonus“ als Dividende eingestrichen werden. In Ägypten drängen jedoch immer mehr junge und gut ausgebildete Menschen im erwerbsfähigen Alter auf einen Arbeitsmarkt, der ihnen nichts zu bieten hat. Damit sie Beschäftigung fänden, müssten im gleichen Umfang neue und den Qualifikationen entsprechende Jobs geschaffen werden. Dass dies in Ägypten bislang nicht gelungen ist, zeigen die Arbeitslosenzahlen ägyptischer Jugendlicher im Alter zwischen 15 und 29 Jahren.

<strong>Mit einem hohen Bildungsabschluss steigt die Aussicht auf einen Job nicht</strong> - Arbeitslosenquote ägyptischer Männer und Frauen im Alter von 15 bis 29 Jahren in Abhängigkeit von ihrer Ausbildung

Mit einem hohen Bildungsabschluss steigt die Aussicht auf einen Job nicht - Arbeitslosenquote ägyptischer Männer und Frauen im Alter von 15 bis 29 Jahren in Abhängigkeit von ihrer Ausbildung

Über alle Bildungsabschlüsse hinweg liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei den Männern bei 9,2 Prozent und bei den Frauen bei 26,5 Prozent. Die niedrigste Arbeitslosenquote haben Männer und Frauen mit keiner oder nur geringer Bildung. Bei höheren Bildungsabschlüssen liegt die Arbeitslosenquote deutlich über dem Durchschnitt. Bei den Männern haben jene mit einer Fachhochschul- oder universitären Ausbildung die höchste Arbeitslosenquote. Bei den Frauen ist die Arbeitslosenquote im Vergleich zu den Männern um ein Vielfaches höher. Dass die Arbeitslosenquote bei Frauen mit geringer Bildung eher niedriger ausfällt, liegt daran, dass sie mehrheitlich nicht auf Arbeitssuche sind (Population Council 2010).

Bildung allein reicht nicht – Ägyptens Wirtschaft braucht einen Entwicklungssprung
Auch wenn Bildung zu den Voraussetzungen für Entwicklung zählt: Ein höherer Bildungsabschluss vergrößert in Ägypten die Wahrscheinlichkeit, nach Beendigung einer Ausbildung arbeitslos zu sein. In der Altersklasse zwischen 15 bis 29 Jahren sind beinahe 43 Prozent der Frauen und gut 16 Prozent der Männer arbeitslos. Und es ist davon auszugehen, dass die wirklichen Zahlen zur Arbeitslosigkeit noch höher liegen, denn bei der Berechnung der Arbeitslosenzahlen fallen Arbeitslose, die über einen längeren Zeitraum keine Anstellung gefunden haben, aus der Statistik. Würden jene in die Berechnung mit einbezogen, ergäbe sich bei weiblichen Hochschulabgängern eine Arbeitslosenquote von fast 40 Prozent und bei männlichen eine von gut 22 Prozent. Auch die Arbeitslosenzahlen über alle Bildungsabschlüsse hinweg fielen dann deutlich höher aus.

Obwohl der Bildungsunterschied zwischen jungen ägyptischen Frauen und Männern in den letzten Jahren fast vollkommen verschwunden ist, hält die Benachteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt weiterhin an. Die Aufhebung der Garantie, nach dem Abschluss eine öffentliche Stelle angeboten zu bekommen, traf in erster Linie weibliche Absolventen. Sie hatten bis dahin meist Stellen im öffentlichen Sektor erhalten.

Der Eintritt in den ägyptischen Arbeitsmarkt gestaltet sich für die meisten Ägypter also sehr schwierig. Betritt ein junger Absolvent das erste Mal den Arbeitsmarkt, dauert es im Schnitt sieben Jahre, bis er eine feste Anstellung bekommt. In den sogenannten entwickelten Ländern liegt die vergleichbare Zahl bei 1,4 Jahren. Die junge Generation trifft auf dem Arbeitsmarkt auf Strukturen, die der demografischen Entwicklung nicht gerecht werden. Der ägyptische Arbeitsmarkt verfügt weder über eine ausreichende Anzahl von Stellenangeboten, noch verlangen die vorhandenen Jobs so hohe Qualifikationen, wie die jungen Ägypter sie inzwischen besitzen. Das Potenzial, das sich aus der demografischen Entwicklung in Verbindung mit dem steigenden Bildungsgrad ergibt, wird nicht genutzt. Statt zu einer demografischen Dividende führt die Bevölkerungsentwicklung zu einer verbreiteten Frustration der jungen Ägypter. Die geringe wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe steigert bei ihnen das empfundene Ungleichgewicht zwischen ihrem Anspruch und der tatsächlich entgegengebrachten sozialen Wertschätzung. Besonders bei jungen Hochschulabsolventen ist die Enttäuschung groß, wenn die angestrebte erwartete gesellschaftliche Position nicht zu erreichen ist.

Sicherlich sind die Proteste und Unruhen in Ägypten nicht ausschließlich auf die demografische Entwicklung zurückzuführen, auf den gewachsenen Anteil Jugendlicher und Menschen im Erwerbsalter. Der Wunsch nach größerer politischer Teilhabe und nach demokratischeren Verhältnissen spielte ebenfalls eine wichtige Rolle, gerade bei den jungen Hochschulabsolventen. Doch im Gegensatz zu anderen Faktoren, die das Konfliktpotenzial einer Gesellschaft beeinflussen, lässt sich die Altersverteilung einer Gesellschaft über Jahre hinweg im Voraus berechnen. Die Politik hat also die Möglichkeit, sich darauf einzustellen und zu handeln.

Literatur/Links

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