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Ismail Ertuğs Meinung

Gelegenheit zur Versöhnung

Der Anschlag in Norwegen richtet sich gegen alle Demokraten, ob Muslime oder Christen. Ismail Ertuğ (SPD), Mitglied des Europäischen Parlaments, plädiert in seiner neuesten MiGAZIN Kolumne für mehr Toleranz und Offenheit.

Von Ismail Ertuğ Mittwoch, 03.08.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2011, 1:31 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

In den Stunden nach dem ersten Anschlag in Norwegen debattierten Journalisten, Intellektuelle, Professoren, Politiker, Islam-Experten, Sicherheitsexperten bereits eifrig Details: wie wird sich die liberale, demokratische Gesellschaft Norwegens verändern, wie geht sie in Zukunft mit Islam und Muslimen um? Wird es schärfere Sicherheitskontrollen geben? Wird Norwegen der ISAF seine Unterstützung entziehen oder umso stärker den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus führen? Bevor man überhaupt wusste, wer den Anschlag verübt hatte, wurde bereits über Konsequenzen diskutiert, weil es ja offensichtlich war, dass diese Anschläge wieder die Handschrift eines islamistischen Terroristen trugen. In Internetforen häuften sich sekündlich islamophobe Kommentare zu einem Haufen intellektuellen Unrats.

Das erschütterte Weltbild
All diese Spekulationen lösten sich auf, als das Bild eines blonden, blauäugigen und sich als christlich bezeichnenden Norwegers in den Medien kursierte. Mit diesem Erscheinungsbild hatte vermutlich keiner gerechnet und niemand konnte seine Tat erklären. Es passte nicht in das Weltbild, das Medien und Politik, zum Teil auch die Wissenschaft, seit dem 11. September 2001 beschwörten. Es waren diesmal keine islamistischen Gotteskrieger, die die Ungläubigen in der westlichen Welt angriffen und dafür selbst ins Paradies kommen sollten. Die Verunsicherung führte von diesem Zeitpunkt an zu einer von Grund auf neuen Suche nach Antworten. Der Umgang mit Vorurteilen wurde dabei vorsichtiger.

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Norwegens Politiker allen voran: sie setzten die Tat des Fundamentalisten nicht mit dem Christentum und der Mehrheit der Christen gleich. Sie suchten keine Passagen in der Bibel, die man interpretieren könnte, um diese Tat zu legitimieren. Die norwegische Antwort auf dieses Verbrechen wird sogar noch mehr Offenheit und mehr Demokratie sein: Der norwegische Premierminister sagte, dass diese grausame Tat die norwegische Demokratie und das Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören könne.

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Besonnenheit und ehrliche Fragen
Selbst der sonst gegen religiös motivierten Terror so offensiv ankämpfende deutsche Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich verhielt sich ruhig und steckte diesen Fall in die Kategorie rechts-extremer Einzeltäter. Hätte er auch so wünschenswert besonnen reagiert, wenn der Täter ein Muslim gewesen wäre? Auf der letzten Islamkonferenz bot Friedrich den muslimischen Verbänden eine Sicherheitskooperation mit den deutschen Behörden an. Dieses Angebot betrachteten viele Teilnehmer empört als Unterstellung, dass Muslime pauschal als potentielle Terroristen eingeschätzt werden. Nun redete Friedrich nicht davon, eine Konferenz der christlichen Gemeinden einzuberufen und ihnen eine Sicherheitskooperation anzubieten.

Damit hat er Recht. Natürlich sollte keine christliche Konferenz einberufen werden, denn Terror und Gewalt haben keine Religion. Gewalt entsteht aus Hass und aus Intoleranz, beides hat mit Religion, die aus der Liebe zum Nächsten lebt, nichts zu tun.

Der norwegische Weg
Deshalb ist es jetzt an der Zeit, festzustellen: Es fehlt an Toleranz in der muslimischen Welt gegenüber dem Westen. Und es fehlt auch an Toleranz im Westen gegenüber dem Islam und den Muslimen. Daran muss und kann jeder einzelne Muslim und Christ arbeiten. Wir müssen gemeinsam, so wie es Norwegen tut, gegen Vorurteile, Paranoia und Populisten vorgehen.

Die westliche Gesellschaft ist seit dem 11. September, den Anschlägen in Madrid und London verängstigt. Verantwortungslose mediale und politische Kampagnen führten zu einer Art Paranoia. Populisten wie Geert Wilders in Holland, seine Kollegen in Dänemark, Finnland, Frankreich, Österreich und Ungarn, profitieren von dieser Angst. Sie schüren sie und lassen sich von Verängstigten in die Parlamente wählen. Sie schaffen für Personen wie Thilo Sarrazin, den ich nicht als meinen Genossen betrachte und dessen Parteiausschluss ich nach wie vor befürworte, ein Klima, in dem aus Hassschriften Bestseller werden.

„Man wird doch wohl noch sagen dürfen“
Die Floskel „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“ ist deshalb so inakzeptabel, weil sie erstens ein Redeverbot unterstellt, zweitens aus dem Sprecher eine Art Märtyrer für die gerade von ihm selbst eingeschränkte Redefreiheit macht und drittens, weil ihr meiner Erfahrung nach große Sinnleere folgt.

Während Muslimen erklärt wird, dass sie Demokratie, freie Meinungsäußerung und Menschenrechte achten sollten, wird oftmals vergessen, zu Hause über den Islam aufzuklären, Vorurteile als solche zu enttarnen und für Toleranz zu werben. Wollen wir uns von Profit gesteuerter Presse und Populisten auf einen Wissensstand des Mittelalters und der Kreuzzüge reduzieren lassen?

Der Höhepunkt in diesem Zusammenhang ist vermutlich, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel den umstrittenen dänischen Karikaturisten Westergaard mit dem Medienpreis für Pressefreiheit würdigte. Dies war eine Ohrfeige für Millionen Muslime in Deutschland. Die Kanzlerin hat eine sonderbare Interpretation für Freiheit. Sie hat nicht begriffen, dass die eigene Freiheit dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt. In diesem Fall könnte man meinen, dass die Freiheit und die Gefühle von Muslimen weniger wert sind, als die Karikaturen eines dänischen Künstlers. Westergaard bedauerte es nie, dass aufgrund seiner Karikaturen eine erhebliche Welle der Gewalt ausbrach, bei der Menschen ihr Leben ließen. Es gehört nicht viel Mut dazu, die Gefühle von 1,5 Milliarden Menschen zu verletzen, sondern Bosheit, Arroganz und Dummheit.

Nach aktuellem Wissensstand war der Norweger Anders Breivik Einzeltäter, aber er war gewiss kein Einzeldenker. Seine Tat ist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Islamfeindlichkeit in unserer Gesellschaft hat sich sogar gegen uns selbst gewendet. Anders Breivik erschoss 68 junge Menschen, weil diese explizit keine Islamhasser waren und an eine freie und multikulturelle Gesellschaft glaubten.

Wir dürfen und müssen noch Vieles sagen
Ja, man wird noch vieles sagen dürfen und müssen: Zum Beispiel, dass wir uns das Gut der Aufklärung, die Religionsfreiheit, die Trennung von Glauben und Staat nicht von fundamentalen Muslimen, Christen oder sonstigen Hetzern zerstören lassen sollten. Das dies möglich ist und auf welche Weise, beweisen uns gerade die Norweger.

Liebe Mit-Europäer und Mit-Menschen im hohen Norden, wie tapfer ihr mit dem Schmerz umgeht, der euch angetan wurde, geht uns nahe. Wir trauern mit euch. Wir fühlen uns durch diesen Hass, der sich gegen Menschlichkeit richtet, ebenfalls verwundet. Europas Bürgerinnen und Bürger können von den Norwegern lernen, die sich egal ob christlich oder muslimisch, nicht spalten lassen. Ein Attentäter wollte Hass säen er hat aber dafür gesorgt, dass das Land in seiner Trauer selten so geeint war, wie jetzt in der Verteidigung von Toleranz und einer offenen Gesellschaft. Aktuell Meinung

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MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. MoBo sagt:

    „Lesen Sie die BZ, ein Konflikt als Ihr Parteifreund eine Currywurst kauft:
    Die haben mich aufs Übelste beschimpft, weil ich mir als Muslim im Ramadan eine Currywurst bestellt habe“

    „Wenn jetzt ein muslimisch-fanatischer Depp mich in Kreuzberg beschimpfen würde, weil ich öffentlich bei Tageslicht im Freien, für ihn sichtbar, was esse oder trinke, dann muss der Mann aufpassen, dass das nicht ein Fall der Erregung öffentlichen Ärgernisses wird. “

    Ich war gestern um 16 Uhr in Berlin-Kreuzberg am Kotti und da haben in jedem Lokal muslimisch/ türkisch aussehende Leute Kaffee getrunken und Börek gegessen und geraucht und keinen hat’s aufgeregt. So viel dazu… (oder waren das jetzt ALLE Aleviten…?)

  2. Snillisme sagt:

    Solange so viele, auch nicht-militante und nicht-fundamentalistische, Moslems ihren weiblichen Familienangehörigen derart rigide Vorschriften machen wie sie es tun, wirkt deren Aufregung über die angebliche Gängelung der westlichen Gesellschaft ein bißchen unpassend.

    • Leo Brux sagt:

      Ob sich wohl gläubige muslimische Frauen ausgerechnet von jemandem wie
      Snillisme
      „befreien“ lassen wollen?

      Meines Wissens heiraten gläubige Katholiken gläubige Katholikinnen – und umgekehrt.
      Liegt irgendwie nahe.

  3. Snillisme sagt:

    gemeint war natürlich:
    …angebliche Gängelung durch die westliche Gesellschaft…

  4. Ottokar sagt:

    „Leider herrschten dort als Instrument des Regierens jahrzehntelang Angst und Einschüchterung, doch besonders in Tunesien, ein Land in dem ich Kontakte zu Journalisten und Lehrern habe, gibt es gute Voraussetzungen für die Demokratie. Es unterscheidet sich von anderen arabischen Staaten dadurch, dass es in ethnischer wie religiöser Hinsicht homogen ist.“

    Schön, in einem muslimischen Land also ist gut ist, wenn es homogen und einseitig zugeht. Da ist das toll, hoffentlich bleibt das auch so schön homogen, und wird nicht durch zum Beispiel Christen oder Ausländer verwässtert. Multi-kulti ist das aber nicht, gelle? Hier bei uns soll ja nach Meinung Arabeskas alles kunterbunt durchmischt und möglichst vielfältig sein. Doppelmoral, hmmm?

  5. Snillisme sagt:

    @ Leo Brux
    Wer irgendwelche Regeln frweiwillig befolgt, der oder die hat selbstverständlich keine Befreiung nötig. Die Betonung liegt aber auf ‚freiwillig‘ und da gibt’s halt manchmal Probleme.

  6. arabeska sagt:

    @ottokar

    Es geht In Tunesien nicht homogen und einseitig zu. Die große Mehrheit der muslimischen Bevölkerung ist sunnitisch und deshalb findet man dort keine Minderheit, wie.z.B. in Marokko die Berber, die es besonders zu schützen gilt. Damit fällt eine in anderen arabischen Staaten sehr häufig anzutreffende Konfliktursache weg.
    Im übrigen leben dort seit Jahrzehnten Christen, Juden und Nichtgläubige zusammen. Die meisten Tunesier sind tolerant und eher mediterran geprägt. Der seit den 70-er Jahren bestehende Tourismus hat das Land auch für Ausländer geöffnet, mittlerweile verbringen sogar Rentner aus ganz Europa dort ihren Lebensabend.

    „Hier bei uns soll ja nach Meinung Arabeskas alles kunterbunt durchmischt und möglichst vielfältig sein. Doppelmoral, hmmm?“

    Also, von wegen Doppelmoral, ich mag es eben eher bunt als hässlich braun!!!