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Leos Wochenrückblick

Eine Psychologie und Politik der englischen Krawalle. Dazu ein Vergleich mit Berlin

Zoe Williams zur Psychologie, Polly Toynbee zur Politik der Krawalle in England. In Deutschland sorgt bisher der Sozialstaat dafür, dass es so weit nicht kommt.

Von Leo Brux Montag, 15.08.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.08.2011, 3:16 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Worum geht es politisch bei den Krawallen in England? Ich übersetze einige Absätze aus zwei Kommentaren im Guardian, fasse einiges in eigenen Worten zusammen. Am Ende ein Blick auf Berlin: Sind auch bei uns solche Krawalle möglich?

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Zoe Williams, Guardian:

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Die schockierenden Plünderungen sind vielleicht nicht politisch, aber sie sagen dennoch etwas über das entwertete Leben der Randalierer. …
Auch wenn die Randalierer keinerlei politische Absichten verfolgt haben, so heißt das noch nicht, dass die Antwort nicht in der Politik zu finden ist.

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Auf den ersten Blick scheinen diese Krawalle allerdings „nihilistisch“ zu sein, in keinerlei Hinsicht politisch motiviert, es ist auch keinerlei Sinn für Gemeinschaft oder Solidarität zu erkennen. Was diese Krawalle kennzeichnet und antreibt, ist Abenteuer, Spaß, Teenager-Erregung. Es kommt aber etwas hinzu:

Ich denke, man könnte sich seine Handlungen grade noch zu einer noblen Sache hindrehen, wenn man das Lebensnotwendige stiehlt: Brot, Milch. Das funktioniert nicht, wenn man Markenturnschuhe klaut, oder Laptops. In Clapham Junction war das einzige Geschäft, das unberührt geblieben ist, Waterstone’s (ein Buchladen) … Es sind Einkaufs-Krawalle, charakterisiert durch ihre Konsumentenwahl: Das ist es, was wir noch nie zuvor erlebt haben. Ein Gewaltakt seitens der Autoritäten, der einen Aufschrei und Protest auslöst – das gab es schon immer. Aber Massen von Leuten, die von Einkaufszentrum zu Einkaufszentrum rennen? Die dabei schauen, dass sie die Konfrontation mit der Polizei vermeiden und bei JD Sports rein- und wieder rauszukommen, bevor die Polizei da ist? Der Aspekt ist neu.

So nihilistisch sind diese Krawalle und Plünderungen nicht, stellt Zoe Williams fest. Die Randalierer und Plünderer wissen, was ihnen etwas wert ist: Konsumgüter. 

Man kann die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.

Moralistisch betrachtet:
Es handelt sich um „reine Kriminalität“, ohne Verbindung zu einem höheren Zweck. Lassen wir uns nicht von Haarspaltereien ablenken. Sobald es wieder ruhig ist, gehen diese Kriminellen dahin, wohin sie gehören – ins Gefängnis.

Konservativ betrachtet:
Wo liegen die Ursachen? – Im Anspruchsdenken dieser Generation, in der Kultur des Sich-als-Opfer-Fühlens, in einem allzu nachsichtigen Rechtssystem. Wir haben es mit glorifiziertem Raub zu tun, verübt von Leuten, die nicht fragen, was sie für sich selbst tun können, sondern was andere für sie hätten tun sollen, von Leuten, die vielleicht auch sonst geklaut hätten, die es aber jetzt in größerem Stil tun konnten, weil sie es ohne Gefahr tun konnten.

Mit Zoe Williams sozial gesehen:

Das ist es, was passiert, wenn sich die Leute ihre Nase ständig an dem reiben, was sie sich nicht leisten können und wenn sie keinen Grund haben zu glauben, dass sie es sich je werden leisten können. … Die Konsumentengesellschaft beruht auf unserer Fähigkeit, an ihr teilzuhaben. Der Konsument von heute ist einer mit geringerer Arbeitszeit, höherem Lohn und der Verfügung über Kredit. Wenn eine Menge Leute nun die letzten beiden nicht haben, funktioniert der Vertrag nicht. Sie stürmen die Geschäfte, die die Güter anbieten, die sie normalerweise kaufen würden. Also rebellieren sie vielleicht gegen ein System, das ihnen seine Gaben verweigert, weil sie sie sich nicht leisten können.“

Die Plünderer holen sich also die Luxusgüter, die sie sich nicht leisten können.

Ein kleines Detail zum Schluss:
Spät Montagnacht ging über Twitter die Nachricht unter den Randalierern herum, dass türkische Geschäftsleute in Dalson, in der Stoke Newington Road, die Plünderer mittels Baseballschlägern abgewehrt hätten. Einer der Randalierer tweetet: „Bloody immigrants. Coming over here, defending our boroughs & communities.” (Blöde Einwanderer. Kommen hierher und verteidigen unsere Quartiere und Nachbarschaften.)

Polly Toynbee, Guardian:

Sie titelt:

Moralische Empörung über die Randalierer erreicht nichts: Abhilfe bringen nur liberale Maßnahmen.

Es ist leicht, Kriminalität zu denunzieren und auf die Plünderer einzudreschen. Die soziale Reparatur wird langsam, teuer und schwierig – damit muss sich Cameron auseinandersetzen.

Die Krawalle haben England bis ins Mark erschüttert. Ein Abgrund öffnet sich vor unseren Füßen. Die politische Bedeutung muss uns erst noch bewusst werden, schreibt Toynbee.

Im Moment lässt sich sagen: Diejenigen, die den abgespeckten Staat wollen (the small-staters), verlieren. Ein kleiner Staat bedeutet – Cameron ist davor nicht zurückgeschreckt – weniger Polizei, schrumpfende Sozialprogramme – und mehr Potential für Anarchie. Diese Politik wird für die Tory-Regierung gefährlich. …

Die small-staters beklagen den Zusammenbruch der moralischen Werte, der Schuldisziplin und die wilden Biester, die ohne Väter und ohne Gewissen aufgewachsen sind, als ob „weniger Staat“ es der Moralität erlauben würde, wieder zu florieren.

Greif dir, soviel du kannst, der Gewinner kriegt alles, kein Reichtum ist je genug – dieser neoliberale Glaube regiert seit Margret Thatcher unangefochten, schreibt Polly Toynbee, und wenn Politiker der Konservativen das Anspruchsdenken beklagen, dann sollten sie darüber nachdenken, was sie selbst und der Neoliberalismus dazu beigetragen haben.

Was bringt es, die Randalierer mit besonders harten Strafen in die überbelegten Gefängnisse zu sperren? Was lernen sie da von ihren Zellengenossen? Was bringt es, ihnen die Wohlfahrtsleistungen zu sperren und sie aus ihren Sozialwohnungen zu werfen? – Was kommt denn dann? Wie soll das den nächsten Krawall stoppen?

Im Moment ist noch alles Empörung, Entrüstung über die Krawalle. Von Ursachen zu sprechen war in der Parlamentsdebatte tabu. Die Zeit für eine kühlere Betrachtung kommt erst noch. Was dann? Was bleibt dann übrig als zu liberalen und sozialen Maßnahmen zu greifen, um die zerstörten Nachbarschaften wieder aufzubauen? Oder möchte man weitermachen in der Weise, dass die Viertel der Ärmeren noch mehr verwahrlosen – das die Krawallursachen zunehmen?

Alle sozialen Korrekturmaßnahmen sind langsam, schwierig und teuer, sie bringen keine schnellen Lösungen – aber sie sind billiger als Verbrechen und Chaos. Was wir brauchen ist ein beständiger öffentlicher und politischer Wille, über Generationen hinweg voranzukommen, ohne Programme aufzugeben, weil sie nicht auf Wahltermine abgestimmt werden können. Die dummen Moralisierer brauchen nicht unrecht zu haben, aber Moralisieren und Plastikgeschoße werden nicht reichen.

Berlin ist nicht London
Philipp Wittrop vergleicht in einem Artikel bei Spiegel Online die Situation.

Die hiesigen Quartiere der sozial Schwachen sind mit britischen Elendsvierteln schlicht nicht zu vergleichen. Wer schon einmal dort war, wird feststellen, dass Berlin-Wedding oder Neukölln dagegen immer noch einigermaßen funktionierende Stadtteile sind. Bei allen Einsparungen der vergangenen Jahre kümmert sich hier trotzdem eine Schar von Sozialarbeitern um die Benachteiligten und Ausgegrenzten, das Quartiermanagement funktioniert, die Polizei kontrolliert, es gibt keine No-go-Areas.

Auch die Statistik zeigt deutliche Unterschiede: Laut OECD ist der Wohlstand in keinem anderen westlichen Land so ungerecht verteilt wie in Großbritannien. Nirgendwo anders sind die Chancen für ein Kind, aus ärmlichen Verhältnissen aufzusteigen, so schlecht. Man kann nicht sagen, dass Deutschland bei der sozialen Mobilität glänzt, aber immerhin liegen wir im Mittelfeld. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei rund neun Prozent – nur Österreich und die Niederlande stehen besser da. In Berlin ist sie zwar höher als im Bundesdurchschnitt, aber an britische Verhältnisse kommt das nicht heran. In Großbritannien sind laut EU-Statistik fast 20 Prozent der unter 25-Jährigen ohne Job, in manchem Londoner Stadtteil liegt die Quote noch weit darüber.

Es ist also unser Sozialstaat – wie abgespeckt er in den letzten Jahren auch wurde – der es verhindert. Es ist die Sozialarbeit, es ist die soziale Absicherung – der Sozialtransfer, es sind die zahlreichen sozialen Einrichtungen mit den in ihr arbeitenden Sozialarbeitern …
Immerhin ist es in Berlin so weit, dass man schon mal nervös hinschaut, wie sich die Stimmung entwickelt. Regelmäßig am 1. Mai schlagen linksradikale Banden zu, wenn auch heute nicht mehr als früher; das Abfackeln von Luxusautos hat abgenommen, die Gewaltkriminalität insgesamt auch:

Zum einen seien sogenannte Raufunfälle auf Schulhöfen zwischen den Jahren 1997 und 2007 um 44 Prozent zurückgegangen. Zum anderen sei die Zahl der Tötungsdelikte in dieser Altersgruppe zwischen 1993 und 2009 ebenfalls signifikant gesunken, so Pfeiffer … Eine ähnlich rückläufige Entwicklung zeige sich auch bei den Raubdelikten Jugendlicher sowie bei den gefährlichen beziehungsweise schweren Körperverletzungen.
(Quelle: taz)

In Deutschland und in Berlin haben wir Regierungen und Parlamente, die trotz des neoliberalen Trends und einiger sozialer Sünden immer noch daran festhalten, dass man soziale Probleme nicht ignorieren, nicht in Ghettos abschieben, nicht einfach bloß moralisieren und nicht einfach bloß als Polizeiaufgabe betrachten darf.

Vielleicht kommt demnächst eine Delegation aus London nach Berlin und schaut sich an, warum es hier bei uns nicht „explodiert“.

Die Süddeutsche Zeitung berichtet über die Einschätzung der Lage zum einen in der BILD, zum andern durch unseren Innenminister, der BILD indirekt widerspricht:

„Die Ausschreitungen sind das Ergebnis von krimineller Energie, Verachtung gegenüber dem Staat und sozialer Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsschichten“, sagte er (Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft) der Bild-Zeitung. Diese „hoch explosive Mischung“ sei auch in Deutschland vorhanden. Insbesondere in Großstädten wie Hamburg und Berlin könnten „aus nichtigen Anlässen rasch derartige Brennpunkte entstehen, die nur schwer in den Griff zu bekommen sind“.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht derzeit hingegen keine Anzeichen dafür, dass es in deutschen Großstädten zu Jugendkrawallen wie in England kommen kann. Die soziale Integration in Deutschland sei in den vergangenen Jahren sehr gut vorangekommen, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Solche gesellschaftlichen Spannungen wie aktuell in England oder in anderen europäischen Ländern haben wir glücklicherweise derzeit nicht“, sagte der Minister.

Dafür hätten alle gesellschaftlichen Kräfte mit sehr viel Herzblut und Engagement gesorgt. Deutschland habe den Konsens erreicht, dass Gewalt gegen unbeteiligte Personen kein Mittel sei, mit dem man seine politischen oder sonstigen Ansichten durchsetze. „Diesen Konsens aufrechtzuerhalten und auf die Jugendlichen zu übertragen, bleibt die Erziehungsaufgabe unserer Gesellschaft, von allen Lehrern, Eltern und Vereinen“, sagte er weiter.

Resümee bei Spiegel Online:

Auch wenn ein Restrisiko bleibt – Panikmache ist völlig unangebracht. Die Ereignisse in Großbritannien sind kein Grund, das Klima für soziale Unruhen in Deutschland herbeizureden. Sie sind aber sehr wohl ein Grund zur Mahnung. Eine Mahnung an die Politik und Gesellschaft jeden Tag dafür zu arbeiten, dass der Nährboden für solche Gewaltausbrüche gar nicht erst bereitet wird.

Wittrops Wort in Politikers und Wählers Ohr! Aktuell Meinung

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  1. Sinan A. sagt:

    Die Krawalle sind auf eine Art schon politisch. Sie sind eine Antwort auf die Entsolidarisierung des Gemeinwesens. Engländer und Franzosen sind von Grund auf solidarische Wesen. Daher reagieren sie tradionell heftig. Die Logik dahinter ist einfach: Wenn ich euch nichts wert bin, dann seid ihr mir auch nichts wert.

    Da Migranten von dieser Entsolidarisierung besonders betroffen sind, stehen sie in vorderster Reihe.

    Man könnte beispielhaft sagen, ein Unternehmen, das viele Bereiche ausgelagert hat, wenig in die Belegschaft investiert, stattdessen in einen frischen Anstrich, Presse- und Rechtsabteilung, bekommt abends Besuch von all den Leuten, die am Tage übers Ohr gehauen wurden.

    Der Deutsche dagegen ist von Grund auf kein solidarisches Wesen. Der Deutsche ist ein kleinkarierter Kuscher vor der Obrigkeit, der immer nach unten tritt. Das ist seine Natur. Migranten passen sich mit den Jahren in diesem Punkt an. Sie übernehmen diese Eigenschaften. Daher sind Krawalle dieser Art in Deutschland undenkbar.

    • Leo Brux sagt:

      Sinan A.,
      Ihrem letzten Absatz möchte ich unbedingt widersprechen. Ich sehe keinen so fundamentalen Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen oder Engländern, aber wenn ich einen markieren soll, dann eher den, dass Deutsche ähnlich wie Franzosen stärker sozialstaatlich und solidarisch denken als Engländer. Drum haben wir auch mehr Sozialstaat. Unser Obrigkeitsdenken ist auch nicht mehr das, was es einmal war – wir werden allmählich ziemlich antiautoritär, nicht immer im konstruktiven Sinne.

  2. OMG sagt:

    „Der Deutsche dagegen ist von Grund auf kein solidarisches Wesen. Der Deutsche ist ein kleinkarierter Kuscher vor der Obrigkeit, der immer nach unten tritt. Das ist seine Natur.“

    Bravo, Ganz das deutschenfeindliche Statement, das hier offenbar gerne gelesen wird.

    • Leo Brux sagt:

      OMG,
      ganz das deutschfeindliche Statement, das hier offenbar NICHT gerne gelesen wird.
      (Wie Sie aus meiner Replik hätten entnehmen können … )

      Vor allem, es ist nicht nur deutschfeindlich – das darf es ja wohl sein, nach all dem türkenfeindlichen und islamfeindlichen Zeug, das hier auch zu Wort kommt. Das von mir kritisierte Statement ist nicht deshalb falsch, weil es deutschfeindich ist, sondern es ist sachlich falsch.