Brückenschläge
Wiener Selbstverständlichkeiten
Man sitzt nebeneinander. Das beste Beispiel sind die öffentlichen Verkehrsmittel, die uns in Wien von den Wiener Linien so großzügig zur Verfügung gestellt werden. Also man sitzt nebeneinander, es fehlen wenige Zentimeter, und man würde sich berühren.
Von Susanne Rieper Dienstag, 16.08.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 29.10.2011, 14:36 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Aber nein, macht man nicht, man verkrampft lieber sein Bein, um ja seinem Nebenan nicht zu nahe zu kommen, und hängt seinen Gedanken nach. Zu allem Überdruss passiert dies alles meist aus purer Höflichkeit. Man will den Anderen nicht bedrängen. Keine Angst, auch der Sitznachbar verhält sich ähnlich. Verkrampft sitzend, den Blickkontakt meidend. Man sieht also zu Boden oder beim Fenster hinaus. Jeder für sich, versunken in seiner Welt. Und das alles nebeneinander.
Eine mehr oder weniger sichtbare soziale, räumliche und wirtschaftliche Grenze trennt häufig das Leben der Migranten vom Leben der Nichtmigranten in Wien und wahrscheinlich auch anderswo. Nicht immer, aber oft bleibt Migranten der Zugang zu Bildung verwehrt und so auch besser qualifizierte Jobs mit hoher Entlohnung. Wohnen ist somit nur mehr in bestimmten Wiener Gemeindebezirken möglich. Beliebte Bezirke sind Favoriten und Ottakring. Nicht immer, aber oft veranlasst die Sehnsucht, aber auch die Notwendigkeit von Identität, Migranten sich in ihre ethnische Gemeinschaften zurückzuziehen. Nicht immer, aber oft trägt das Gefühl, in Österreich als Migrant nicht willkommen zu sein, zu diesem Rückzug bei.
Wagen wir doch den Sprung über die mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte Grenze. So als würde man in der U-Bahn nebeneinander sitzen und vom Sitznachbarn mehr mitbekommen als nur sein Bein, dieses man tunlichst versucht nicht zu berühren. So hätten sich auch die nervig bis sinnentleerten U-Bahn-Zeitungen erübrigt. Und auch die U-Bahn-Fahrt wäre wesentlich unterhaltsamer. Die folgenden Anekdoten haben mir Migranten in Wien erzählt, welche ich im Zuge einer Interviewreihe getroffen habe.
Straßenkämpfe
So traf ich frühmorgendlich Ruth, eine ursprünglich aus Nigeria stammende junge Frau. Sie erzählte aus ihrem Leben in Wien und mit einem Satz holte sie mich aus meiner vormittäglichen Mein-Schlaf-hängt-mir-noch-nach-Benommenheit heraus. Ich war hellwach und pikiert. „Ich lebe sehr gerne in Österreich, denn hier kann ich auf die Straße gehen, ohne Angst haben zu müssen, jeden Moment erschossen zu werden.“ Ich selbst lebe auch in Wien. Ich selbst gehe auch jeden Tag auf die Straße, und die Gedanken, die mich dabei begleiten, sind andere: „So eine verkackte Straße mal wieder“ oder „Das Wetter könnte sich’s auch wieder mal überlegen und schön sein.“ Oder ich bin mit meinen Gedanken bereits dort, wohin ich im Begriff bin, mich zu begeben. Und dann war sie mit ihrer Erzählung wieder bei ihren Kindern.
Wo beginnen Selbstverständlichkeiten? Wo hören sie auf? Sichtlich gibt es hier Unterschiede. Natürlich gibt es diese. Der springende Punkt ist aber, dass mit Selbstverständlichkeit Bewusstsein beziehungsweise Nicht-Bewusstsein einhergeht. Wie würde sich es anfühlen, wenn ich wie so oft kurz vor Ladenschluss zum nächsten Billa gehe, um noch das Nötigste an Lebensmitteln einzukaufen, müsste ich jede Minute mit einem Schuss aus dem Hinterhalt rechnen? Jede rote Ampel würde nervenaufreibende Minuten bedeuten, denn da müsste ich stehen bleiben und als stehender Passant ist man doch die perfekte Zielscheibe. Vorbeifahrende Autos… niemand weiß, wer mit geladener Pistole darin sitzen könnte. Wer geht denn hinter mir? Soll ich mich mal besser umdrehen oder wäre das schon zuviel und ich würde erschossen werden? Endlich im Supermarkt! Der Supermarkt wäre für mich in so einer Situation nicht mehr nur ein Supermarkt, sondern auch beschützender Ort. Obwohl, wer kann mir das garantieren?
Ja, meine Wege auf Wiens Straßen sehen jetzt manchmal anders aus. Ich gehe durch die Straßen Wiens und genieße den Frieden.
Schwarz
Mit Es-wird-schon-gut-gehen-Gedanken im Kopf bin ich schwarzgefahren und in der Tat erwischt worden. Müde und etwas angetrunken bin ich erneut schwarzgefahren und erneut erwischt worden. Beides Mal im 13A. Sowas nennt sich wohl Dummheit. Oder naiver Optimismus nach dem Motto „Nie im Leben werde ich zweimal innerhalb einer Woche kontrolliert.“ Oh doch! Das zweite Mal passierte an einem bereits wenig erfreulichen Tag. Die Fahrscheinkontrolle war der krönende Abschluss dieses glorreichen Tages. Die Kontrolle ereignete sich an einem frühen Abend im Sommer. Der Kontrolleur, wie immer eine recht farblose Person, kommt rein: „Ausweiskontrolle. Ihre Fahrscheine, bitte.“ Ich steh so da und denk mir, dass es das jetzt echt nicht sein kann. Wunder mich über den Verbleib von Gerechtigkeit und kann mein Pech kaum fassen. Ich versuche also den Kontrolleur zunächst von meiner Unschuld und dann von einer geringeren Geldstrafe zu überzeugen, aber da der Tag wenig inspirierend war, so war auch dieser Versuch den Kontrolleur zu beeinflussen ein eher verzweifelter als überzeugender.
Um mich herum herrschte eine sommerabendlich beschwingte Stimmung. Die Menschen hätten alle auf dem Weg zu einem Sommerfest sein können. Für die Dauer der Kontrolle aber waren sie von ihrer guten Laune etwas abgelenkt, denn es stand ja ich mitten im Bus ohne Fahrschein und mit läppischen Ausreden. Ich spürte die Genugtuung einiger Fahrgäste und die Erleichterung, nicht selbst an meiner Stelle zu sein. Obwohl es sich nur um eine verdammte Fahrscheinkontrolle handelte, fühlte sich alles recht beschämend an. Hinzu kam dann noch der Nachgeschmack dieses Tages. Der Kontrolleur überreichte mir mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, die Liste seiner Opfer hatte sich Dank mir erweitert, immer wieder gern, den Zahlschein von 70 Euro. Da war auch schon meine Haltestelle. Ich durfte endlich aussteigen. Weg vom Kontrolleur, weg von den sich amüsierenden Leuten. Ich amüsierte mich gerade gar nicht.
Joseph ist 18 Jahre alt. Er stammt ursprünglich aus Nigeria. Er besucht in Wien die Hauptschule. Er erzählte mir von seinem Schulweg und dass er sich jeden Morgen am Weg zur Schule ausweisen muss. Weil er aus Nigeria kommt, sagt Joseph. Oft auch zweimal am selben Tag. In öffentlichen Verkehrsmitteln, auf offener Straße. Immer wird er von Polizisten kontrolliert. Immer inmitten von Leuten. Damit auch jeder weiß, dass man Schwarze kontrollieren muss, weil ja alle unrechtmäßig in Österreich leben und alle Drogendealer sind. Diese Bloßstellung, diese Schmach versaut Joseph meist den Tag. Schlecht gelaunt kommt er in der Schule an, kann sich kaum mehr auf den Unterricht konzentrieren. Mit einer Geldstrafe von 70 Euro kann man diesen Gefühlszustand wohl nicht vergleichen. Und ja, was hat Joseph verbrochen? Ich bin schwarzgefahren. Und er? Er stammt aus Nigeria.
Das ganz persönliche Google Maps
Bei Umzügen stellen sich so manche Fragen. Man sucht sich eine Wohnung, zieht ein, schaut sich im Umkreis der Wohnung nach einem Supermarkt um. Man weiß bald, dass die Verkäufer im Supermarkt Könige sind und nicht der Kunde. Noch immer weiß man aber nicht so ganz, wo man denn nun genau in Wien lebt, wie denn die Gegend so funktioniert, mit wem man es auf der Straße im eigenen Bezirk zu tun hat. Ob mit Schönen und Reichen, Zuwanderern, Hippen, Gutbürgerlichen oder gar Studenten. Meist sind die Begegnungen leicht zuordenbar, denn meist machen Kleider Leute. Man weiß es eben nur noch nicht so ganz genau. Dies lässt sich aber bald herausfinden, auch wo sich gegebenenfalls der nächstgelegene Zigarettenautomat befindet. Mit etwas Glück verfügt man auch bald über ein Stammlokal ganz in der Nähe. Für ein spontanes Bier oder einen schnellen Kaffee. Irgendwann kennt man dann die Gesichter auf der Straße. Man beginnt, sich schüchtern zu grüßen. Irgendwann kennt man auch Herrn und Frau Nachbar, welche sich auch schon beim nächsten Urlaub bereit erklären, eventuell die Pflanzen zu gießen. Besitzt man dann noch dazu ein Fahrrad und fährt damit durch die mittlerweile vereinzelt bekannten Straßen, fühlt man sich ansatzweise heimisch.
Reza lebt seit 2001 in Österreich. Mit 16 Jahren kam er aus Afghanistan nach Österreich. Ihn und seine Freunde zog es zum Flex. Vor dem Flex gab es zur damaligen Zeit noch Punks. Sie konsumierten ihre mitgebrachten Getränke oder saßen einfach nur so rum. Schön war die Zeit, als man vor dem Flex noch selbst mitgebrachte Getränke konsumieren durfte. Reza erzählte mir davon, wie er und seine Freunde an den Punks vorbeigingen und wie diese sie immer anstarrten. Er und seine Freunde hatten keine Ahnung, wer denn diese Leute mit ihrer bunten, zerrissenen Kleidung, ihren gefärbten Haaren und ihren Hunden sind. Noch nie zuvor sind Reza solche Leute begegnet. Er und seine Freunde hielten die Punks für die Nazis, die, das wussten Reza und seine Freunde, gegen sie sind. Erst mit der Zeit, meinte Reza, sind er und seine Freunde daraufgekommen, dass die Punks nicht gegen sie sind.
Home sweet home
Im Sommer hat man gefälligst zu verreisen. Ein Diktum der Wohlstandsgesellschaft. Will man im Moment überhaupt verreisen? Oder tu ich’s nur, weil es alle anderen tun und ich nicht die einzige sein will, die im Sommer keine zarte Meeresbräune aufweisen und von keinen irren Begegnungen mit Menschen in entlegenen Gegenden erzählen kann und wie man gemeinsam beispielsweise ein Schaf geschlachtet hat? Ist Verreisen im Sommer nicht sowieso überflüssig, weil es in unseren Breitengraden gerade zu der Zeit wunderschön ist? Kann man sich das Verreisen im Moment überhaupt finanziell leisten? Und schadet man mit der Vielfliegerei nicht letzten Endes ohnehin sich selbst? Die Grenzen zwischen wollen und es tun, weil man das Verreisen im Sommer nicht in Frage stellt, verschwimmen. Aber ja wir tun’s. Auch die nationalen Grenzen verschwimmen dabei.
Das Schengener Abkommen hebt die nationalen Grenzen innerhalb des wohlhabenden Europas auf. Der EU-Pass gilt als Passepartout für die gesamte Welt. Anscheinend sind Bürger der Europäischen Union bessere Menschen. Man heißt sie im eigenen Land gern willkommen. Schlimmsten Falls benötigen wir Besitzer eines EU-Passes ein Visum, jedoch dies ist in unserem Falle schnell ausgestellt. Erneut schwinden nationale Grenzen. Sie sind kein Thema. Man wundert sich höchstens noch, wie schnell man mit dem Flugzeug von A nach B kommt und dass es sich eigentlich schon komisch anfühlt, dass man vom Ortswechsel fliegend so wenig mitbekommt. Geschweige denn die Überwindung von nationalen Grenzen realisiert. Die alljährlich im Sommer anstehenden Reisen erlebt unsereins somit jenseits von nationalen Grenzen. Wir passieren sie einfach und wundern uns darüber.
Jegliche Hoffnungen und Träume werden Asylwerbern in Österreich aufgrund der langen Dauer des Asylverfahrens genommen. Ahmed, ein aus Afghanistan stammender Asylwerber, hat einen Traum. Er erzählte mir von seinem Traum, am Homeless World Cup in Melbourne 2008 und am Homeless World Cup 2009 in Mailand teilzunehmen, der Fußball-WM für Obdachlose, Asylwerber und ehemalige Alkohol- sowie Drogenabhängige. Er hatte an den Vorbereitungstrainings teilgenommen, durfte dann aber nicht zum jeweiligen Fußballturnier mitfahren, denn es fehlte ihm als Asylwerber die gesetzliche Erlaubnis zur Ausreise. Von klein auf war er ans Reisen gewohnt. Er sei bereits in Pakistan, Usbekistan, Kasachstan, Russland und in der Ukraine gewesen. Auch alle neun österreichischen Bundesländer habe er bereits bereist. In Vorarlberg hieß es dann immer umdrehen. Bis dorthin und nicht weiter. Österreich ist für ihn zu einem Käfig mit goldig blitzenden Gitterstäben geworden. Aktuell Meinung
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