Dreiklassensystem
Integrationspolitisches zu Gemeinschaftsschulen
Früher gab es das Dreiklassenwahlrecht. Die Stimmen der Reichen waren bei Wahlen mehr wert als die der Armen. Heute haben wir ein Dreiklassenschulsystem. Die Kinder reicher Eltern gehen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit aufs Gymnasium als die der Ärmeren.
Von Dr. Zekai Dağaşan Donnerstag, 15.09.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.04.2015, 21:37 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Vor einigen hundert Jahren gab es in Deutschland ein Dreiklassenwahlrecht. Es sah für die Wähler drei unterschiedliche Stimmengewichte vor – je nach dem, wieviele Steuern sie entrichteten. Das bedeutete, dass Wähler mit einer guten gesellschaftlichen Stellung und hohem Einkommen mehr Einfluss auf den Wahlausgang nehmen konnten als weniger gut Verdienende. Heute kennt unsere politische Werteordnung die Gleichheit der Wahl. Sie verhindert eine solche Wahlklassifizierung. Unser Schulsystem – das wie das Dreiklassenwahlrecht zumindest faktisch aus der Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts resultiert – hat im Gegensatz zum Wahlrecht zu keiner Unvereinbarkeit mit der politischen Werteordnung geführt. Noch immer gliedern wir je nach Zielsetzung der Ausbildung in unterschiedliche Schulen auf.
Dabei beginnt die schulische Ausbildung eines jeden Schulkindes in einer Gemeinschaftsschule – der Grundschule, in der alle Kinder – zumindest vier Jahre lang vor Gesetz, Lehrer und Bildungseinrichtungen – gleich sind. Dann aber wird selektiert. Die „guten Schüler/innen“ sollen auf eine weiterführende Schule, die ihnen später den Zugang zu Hochschulen ermöglicht, die „durchschnittlichen Schüler/innen“ auf solche, die ihnen – zumindest dem Plan nach – eine solide Ausbildung ermöglichen und der „Rest“ kommt auf Hauptschulen, die Ausbildungen im handwerklichen Bereich oder produzierenden Gewerbe ermöglichen soll.
So weit, so gut. Wie alle Menschen auf dieser Erde, leben auch wir leider in keinem Land, das blind wäre für gesellschaftliche Stellung, Herkunft und Vorurteile. Eine gerechte Selektion setzt aber voraus, dass Lehrer Leistungen beurteilen und keine Prognosen darüber anstellen, ob die Eltern „sich schon kümmern werden“. Denn legt man letzteren Maßstab an, würden Lehrer solche Kinder bevorzugen, die gebildete oder vermögende Eltern haben. Von ihnen wir man nämlich erwarten können, dass diese sich um die Zukunft des Kindes kümmern. So werden aber die übrigen Kinder benachteiligt, weil sie trotz der Nachteile mehr Leistung erbringen müssen als ihre Freunde mit den „kümmernden Eltern“. Tatsächlich zeigen ältere sowie jüngere Statistiken, dass Kinder „niedriger sozialer Herkunft“ bei gleicher Leistung bzw. Kompetenz sehr viel seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als Kinder mit einer „höheren sozialen Herkunft“.
Die IGLU-Studie aus dem Jahr 2003 zeigt, dass Kinder aus den oberen Schichten eine 2,63fach höhere Chance auf eine Gymnasialempfehlung haben. Die gleiche Studie aus dem Jahre 2007 belegt, dass Lehrer den Kindern un- oder angelernter Arbeiter eine Gymnasialempfehlung nur bei höherem Leistungsniveau aussprechen. Hinzu kommt, dass Eltern aus unteren Schichten auf die Empfehlung der Lehrer hören, während Eltern der oberen Schicht ihre Kinder auch dann auf das Gymnasium schicken, wenn die Lehrer davon abraten. So verwundert nicht das Ergebnis der PISA-Studie aus dem Jahre 2003, nach der in Gymnasien 50% der Schüler/innen aus der obersten Schicht stammen, während weniger als 20% den untersten beiden Schichten und davon 5,6% der untersten Schicht angehören. Die PISA-Sonderstudie zu den Erfolgschancen der Migrantenkinder kritisiert auch deshalb das deutsche Bildungssystem. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die OECD, die uns dieses Jahr bescheinigte, dass es in Deutschland für Kinder aus ärmeren Haushalten schwieriger ist, sozial aufzusteigen, als in anderen Industriestaaten. (Besser schneiden nach wie vor die skandinavischen Staaten ab, in deren Bildungssystemen durch Förderunterrichte sehr früh versucht wird, soziale Nachteile auszugleichen.)
Nun wird von verschiedener Seite gefordert, das dreigliedrige Schulsystem durch eine Gemeinschaftsschule zu ersetzen. Ein Argument für dieses Bildungssystem ist unter anderem der Gedanke, Kinder mit Migrationshintergrund zu fördern. Denn hier kann man durch Förderunterricht angemessen berücksichtigen, dass die Kinder häufig mit einer Reifeverzögerung zu kämpfen haben, die durch das frühe Erlernen zweier Muttersprachen (mit-)bedingt sein mag. Ein schöner Gedanke. Allerdings auch ein gefährliches Label. Denn die Mehrheit wird sich mit einem „Schulsystem für Migranten“ nicht anfreunden wollen. Politiker, die dieses Schulsystem eben mit jener Bezeichnung abstempeln wollen, versuchen aber vor allem darüber hinwegzutäuschen, dass das Konzept Gemeinschaftsschule alle gesellschaftlichen Ungleichheiten auszugleichen in der Lage ist. Eine Idee, die dem Begriff Integration ziemlich nahe kommt; denn dieser ist grundsätzlich gesamtgesellschaftlich aufzufassen. Nun wird es darauf ankommen, ob wir es in Deutschland mit der Integration ernst meinen oder nicht. Aktuell Meinung
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Ich würde das hier angestrebte Schulsystem nicht migrantisch nennen, das wäre diskriminierend für viele Zuwanderer. Es handelt sich wohl eher um ein Schulsystem für Türken – und das wäre ja erst recht diskriminierend. Und das wollen wir nicht.
Das Beispiel Hamburg hat gezeigt, dass die Menschen ihre Kinder nicht als unbezahlte Sozialarbeiter mißbrauchen lassen wollen. Man kann es niemandem verdenken.
Man sieht es ja beispielsweise in Berlin: Sobald die Kinder ins Schulpflichtige Alter kommen, ziehen bildungsbewußte Deutsche und Migranten auch aus dem „coolsten“ Kiez weg, um ihren Kindern die Zustände an entsprechenden Schulen nicht zuzumuten.