Zwangsverheiratungen
Diese Debatte stärkt die Ausgangsbedingungen für Gewalt!
Die Ergebnisse einer Untersuchung von Prof.in Yasemin Karakaşoğlu und mir über „Ausmaß und Ursachen von Zwangsverheiratungen in europäischer Perspektive“ (2007) lieferte bereits das Ergebnis, dass Religion keine spezifische Rolle bei Zwangsverheiratungen spielt. Ich frage mich: Was genau bezweckt nun diese neue Studie? Was genau bezweckt vor allem die neue Debatte?
Von Sakine Subaşı-Piltz Montag, 14.11.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.11.2011, 1:08 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Prof. Yasemin Karakaşoğlu und ich hatten die genannte Untersuchung damals durchgeführt, mit der Hoffnung und dem Ziel, die öffentliche Debatte auf eine sachliche Ebene zu bringen, auf der das Problem der Zwangsverheiratungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext analysiert werden kann. Diese sollte so zusagen die Grundlage für eine weitere und umfassendere Untersuchung in diesem Bereich darstellen, um daraus schließlich auch Handlungskonzepte für die Praxis herleiten zu können.
„Diese Zahlen kamen der Bundesregierung damals gelegen. Denn schließlich ging es auch um Einreisebestimmungen und restriktive Visaregelungen. Unter anderem wurden mit dem Thema der Zwangsverheiratungen die umstrittenen Sprachtests, im Prozess des Ehegattennachzugs legitimiert. Aktuell droht diese Sprachtestregelung zu kippen.“
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Unsere ersten Untersuchungsergebnisse entsprachen aber nicht den Ansprüchen des Bundesfamilienministeriums. Denn sie haben danach eine weitere Zusammenarbeit mit uns abgelehnt. Heute gibt nun das Ministerium eine neue Studie heraus, die u.a. mit der Frauenorganisation „terre des femmes“ erarbeitet wurde, ausgerechnet der Organisation, die damals ohne Vorbehalte die Fantasiezahlen (Tenor: jede zweite türkische Ehe in Deutschland sei eine Zwangsehe), die Necla Kelek über die Ausmaße der Zwangsverheiratungen in Deutschland in Umlauf gebracht, gestützt hatte. Diese Zahlen kamen der Bundesregierung damals gelegen. Denn schließlich ging es auch um Einreisebestimmungen und restriktive Visaregelungen. Unter anderem wurden mit dem Thema der Zwangsverheiratungen die umstrittenen Sprachtests, im Prozess des Ehegattennachzugs legitimiert. Aktuell droht diese Sprachtestregelung zu kippen. Deswegen dürfte die aktuelle Studie mit der dazugehörigen öffentlichen Debatte über Zwangsverheiratungen – zumindest in der uninformierten Bevölkerung wieder Zustimmung für restriktive Visaregelungen bekommen, um den Ehegattennachzug für EinwanderInnen unter einem Generalverdacht zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.
Es geht offensichtlich um alles, um nationale und geopolitische Interessen, um Kulturhegemonien, aber leider nicht um die Frauen und die Männer, um die Opfer, auf deren Kosten diese Debatte geführt wird. Die Zahlen der Zwangsverheiratungen beziehungsweise derer, die davon bedroht werden, liegt heute nach dieser neuen Studie des Bundesfamilienministeriums (2011) im vierstelligen Bereich, obwohl 2005/2006 in den Beratungsstellen kaum Zahlen darüber vorlagen. Die Sensibilität für das Thema war aber laut einer ersten Studie der Lawaetz-Stiftung aus Hamburg auch damals schon, wahrscheinlich durch die öffentliche Debatte gegeben, allerdings gab es kaum entsprechendes Klientel.
Was ist passiert?
Während einige Leute sich über die „harten Fakten“ in diesem Zusammenhang freuen, finde ich die Situation eher besorgniserregend, dachten wir doch in unseren Communities, dass dieses Phänomen heute nahezu ausgestorben ist. Selbst arrangierte Ehen sind heute eher rar. Doch heute scheinen uns Zwangsverheiratungen wieder einzuholen. Die Debatte über Zwangsverheiratungen dreht sich seit Jahren im Kreis, in dem auch heute noch der Fokus auf die (islamische) Religion gelegt wird. Zu unterschiedlich sind die Religionen (beispielsweise Hinduismus – Christentum), denen die Menschen angehören, die wiederum andere Menschen zwangsverheiraten oder zwangsverheiratet werden. Gläubigkeit stellt sich in diesem Zusammenhang als ein viel zu allgemeiner Wert dar.
Warum also noch eine Studie, in der festgestellt wird, dass die meisten Opfer von Zwangsverheiratungen aus einem religiösen Milieu kommen, wobei dann auffällt, dass die Mehrheit aus der Türkei kommt und dem Islam angehört. Damit wird der anfängliche Hinweis, dass Zwangsverheiratungen nicht nur in muslimischen Familien vorkommen, natürlich sofort relativiert. In unserer Untersuchung von 2007 hatten wir aber insbesondere durch den Ländervergleich zwischen europäischen Ländern und der Türkei deutlich zu machen versucht, dass die Debatte vor allem in einem Herrschaftsraum geführt wird, in dem die dominante Mehrheitsgesellschaft einer vermeintlichen Minderheit vorwirft, kulturbedingt frauenfeindliche Straftaten zu begehen.
In der Türkei beispielsweise wurden diese Themen eher auf Kurden bezogen diskutiert, wogegen in Deutschland mehrheitlich Türkeistämmige stigmatisiert werden. Schon dadurch ist es offensichtlich, dass das Thema für andere politische Zwecke missbraucht wird, als vorgegeben. In der Türkei war und ist zum Teil noch immer die gesellschaftliche Teilhabe von Kurden umstritten, zumal eine Gruppe von Separatisten dort territoriale Ansprüche stellt. Da kommt ein stigmatisierendes Thema gelegen, um die Teilhabe weiter hinauszuzögern, solange der Konflikt gärt.
In Deutschland dagegen geht es ganz offensichtlich um die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Türkeistämmigen, die zum Teil schon seit 50 Jahren hier leben, mittlerweile besser Deutsch sprechen als Türkisch und volle BürgerInnenrechte genießen wollen. Die Art und Weise, wie über Zwangsverheiratungen öffentlich diskutiert wird, machen sie jedoch wieder zu Fremden, die es der Politik erlaubt restriktive Gesetze gegen sie zu erlassen (zum Beispiel Visapflicht für Angehörige in der Türkei, wobei nur ein kleiner Prozentsatz der Visaanträge angenommen wird), die ihnen ein normales Leben nur unter Vorbehalt gestatten.
Doch wo bleiben feministische Politiken? Wo die internationale feministische Solidarität?
Die Frauenministerin Kristina Schröder pocht aber noch immer auf den religiösen, insbesondere islamischen Hintergrund in Fällen von (versuchten) Zwangsverheiratungen. Warum tut sie das, obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse diesen Faktor als irrelevant zeigen? Zudem gehört sie selbst der Christlich Demokratischen Union an und ist als Mitglied dieser Partei Ministerin. Versucht sie damit fast subversiv ihre eigene Partei zu unterwandern? Welche feministische Strategie, und diese Frage muss erlaubt sein, wenn es um das Frauenministerium geht, welches nicht zuletzt auch die Vereinbarungen der CEDAW (Committee on the Elimination of Discrimination against Women) auf nationaler Ebene implementieren sollte, verfolgt unsere Frauenministerin? Aktuell Meinung
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Ich bin keine Deutsche und ich spreche deutsch nicht so gut, also vielleicht habe ich nicht richtig verstanden. Glaubt ihr wirklich dass alle christliche Gesellschaften patriarchalisch sind und sein muessen? Wie viele christliche Gesellschaften kennt ihr ausser die deutsche und die amerikanische?
Und die ganze Idee dass „das Patriarchat ein fester Begriff und Bestandteil des Christentums“ ist, das leider „auch in muslimischer Gesellschaften Eingang gefunden hat“ finde ich problematisch.
Danke Sakine, super Artikel.
@Menschenrechtsfundamentalist
Das ein Verein der sich um Opfer von Frauen etc kümmert natürlich auch ein Interesse daran hat dass das Thema aufmerksamkeit kriegt sollte jedem klar sein. Es geht hier gar nicht so sehr darum dass das Problem verharmlost wird, sondern in welchen Kontext das ganze gesetzt wird.
Frau Subasi-Piltz spricht das Problem an, gerade weil man die Religion als Faktor auflistet stehen gerade die Opfer und unbeteiligte Muslime unter Druck und entsprechend erschwert dieses eine Lösung des Problems. Also für alle die es nicht verstanden haben, es geht darum das Problem so zu benennen damit auch Opfer weniger Hürden haben die nötige Unterstützung zu kriegen. Ob das nun formale Hürden sind oder auch latente Hürden. Aber gerade darum geht es der Ministerin nicht.
Egal welches Thema sie anpackt es ist der Islam der Schuld daran ist( Gewaltbereite Jugendliche- das müssen Muslime sein, Gewalt in der Ehe, oder Zwangsverheiratungen – das können auch nur Muslime sein . Gerade als studierte Soziologin müsste sie es besser wissen, aber wenn sie die Probleme differenziert und sachlich vermittelt kriegt sie keinen Beifall von PI_News, der Jungen Freiheit oder Altermedia und dann darf es halt nicht sein.
Dass die Autorin unter der Schutzmantelmadonna der Wissenschaft einen Kulturkampf betreibt, lässt sich besonders deutlich an ihrer Behauptung ablesen:
„Das Phänomen der Ehe durch Zwang wird hier schlichtweg exotisiert, obwohl es auch unter weißen, christlichen Deutschen diese Art der Ehen noch gibt, die entstanden sind, weil ungewollte Schwangerschaften aufgetreten sind.“
Hier subsummiert die Autorin willkürlich einen Sachverhalt (man „muss“ heiraten, weil ein Kind unterwegs ist) unter den Begriff der Zwangsheirat, den sie in ihrem Papier bei der Uni Bremen http://www.bremen.de/4448434 (richtiger Weise) keineswegs dort verortet.
Und wo es in dem Papier noch vorsichtig heißt
„Die These, dass Zwangsverheiratungen insbesondere muslimische, gar türkische Phänomene seien, konnte in unserer Untersuchung keineswegs bestätigt werden“
verbiegt sie diesen Sachverhalt hier dreist zu der Behauptung, die Studie habe den Nachweis (!) geliefert,
„dass Religion keine spezifische Rolle bei Zwangsverheiratungen spielt“.
Weder Beweis noch Gegenbeweis sind auf diesem Gebiet einfach zu führen, und schon gar nicht mit Hilfe einer bloßen Metastudie (Auswertung anderer Forschungsarbeiten), zumal unklar bleibt, inwieweit die zugrunde liegenden Arbeiten die Frage überhaupt thematisiert haben.
Was allerdings feststellbar ist, ist die hohe Korrelation von Zwangsheiraten und islamischer Religionszugehörigkeit.
Komisch nur, dass lt. der neuen Studie von den wenigen (Wikipedia: 60 Tsd.) in Deutschland lebenden Jesiden etwa 10% der Ratsuchenden stellen; hier ist also die Korrelation noch weitaus höher.
Einen Zusammenhang zwischen Religion und Zwangsheiraten (der ohnehin sehr indirekter Art sein dürfte) kann man überhaupt erst dann erkennen (oder eben ausschließen), wenn man eine Korrelation festgestellt hat.
Wer aber die Erfassung der Religionszugehörigkeit kritisiert, will von vornherein verhindern, dass solche statistischen Zusammenhänge überhaupt bekannt werden. Das schließt dann aber auch weitere Forschungen in dieser Richtung von vornherein aus.
Mit Wissenschaft, Unvoreingenommenheit gar, ist das unvereinbar; da stecken offenkundig ganz andere Motive dahinter.
Abenteuerlich ist auch die Forderung der Autorin, dass eine „Patriarchatskritik in diesem Kontext … doch wohl auch das Patriarchat in Deutschland mitkritisieren und nicht außen vor lassen“ müsse.
Ganz abgesehen davon, dass man immer nur bestimmte Zusammenhänge thematisieren und ggf. kritisieren kann, und nicht gleich alle Ungerechtigkeiten der Welt auf einmal, sind die Rudimente patriarchalischer Strukturen in der deutsch-kulturellen Gesellschaft in keine Weise vergleichbar mit den sehr ausgeprägt patriarchalischen Strukturen in vielen (oder den meisten?) religiös-islamischen Familien.
Wie oben beim Thema Zwangsheirat versucht die Autorin hier also erneut, eine Gleichheit von tatsächlich völlig unterschiedlichen Sachverhalten vorzutäuschen. Und das ganz sicher nicht aus dem Ethos einer zweckfreien wissenschaftlichen Forschung heraus.
@Cangrande
rudimentär? Ein patriarchale Gesellschaft kennzeichnet sich vorallem durch strukturelle Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – z.B. auf dem Arbeitsmarkt.
Sehen wir uns da doch mal ein paar Zahlen an…
Frauen als Teamleiterinnen:
Deutschland: 20%
Türkei: 30%
Frauen in Führungspositionen
Europa: 11%
Deutschland: 13%
Türkei: 23% (!!)
Weibliche Vorstandsvorsitzende
Europa: 5%
Deutshcland: 1,9%
Türkei: 14% (!!!)
Also überdenken Sie Ihre Aussage nochmal – Ihnen zuliebe!
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um Quoten und Gleichstellung, die wir zurzeit in unseren Medien verfolgen können, wirkt die gutmenschliche Empörung über den Schleier der orientalischen Frau wie ein Ablenkungsmanöver von den eigenen drängenden Fragestellungen. Auch in Zeiten des so genannten Postfeminismus sind die Probleme von Identität und Geschlecht, ihrer medialen Vermittlung und kulturellen bzw. gesellschaftlichen Festschreibung nicht gegenstandslos geworden.
4 von 10 Frauen wird in Deutschland Opfer physischer Gewalt. Wie sehr passt dies in Ihr nichtpatriarchales Deutschlandbild? Vorallem häusliche Gewalt ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein System von Misshandlungen, das auf Macht (!) und Kontrolle (!) abzielt. Eine hohe Assimilation Neudeutscher stellt überdies einen Risikofaktor für häusliche Gewalt dar!
Neben dem Missbrauch für ein Ablenkungsmanöver zeigen sich weitere Interessante Zusammenhänge:
Studierte früher die Mehrzahl der türkischen Studenten Fächer wie Ingenieur- oder Naturwissenschaften, die besonders in der Türkei gute Berufsaussichten boten, so überwiegen heute Fächer wie Jura oder Lehramt, deren Zukunftschancen vor allem in (!) der Bundesrepublik liegen. Frauen sind dabei ehrgeiziger (!) als ihre männliche Neudeutsche.
Die Anzahl der Migrantenvereine und somit ihre Selbstorganisation steigt stetig. Wissenschaftler weisen gehäuft darauf hin, dass Neudeutsche ihre Integration in einer funktional differenzierten Gesellschaft hauptsächlich von selbst vollzogen haben. Ohne altdeutsche institutionelle Unterstützung. Und das in einem beachtlich kurzem Zeitraum!
Dies gilt alles vorallem für türkische Neudeutsche, und all das, obwohl der kulturelle und soziale Abstand zur Aufnahmegesellschaft sehr groß war. Dies ist eine enorme und nicht zu unterschätzende Integrationsleistung – wenn auch nur auf Seiten der Neudeutschen! Altdeutschen ging dieser Prozess dann doch wohl zu schnell.
Für den Großteil der hier geborenen zweiten und dritten Generation ist ein Leben in der Türkei keine Option mehr; die persönliche und berufliche Zukunft wird in Deutschland geplant.
Das Ablenkmanöver der vermeintlichen Nichtintegration wurde erst thematisiert, nachdem sich immer mehr herauskristallisierte, dass die Neudeutschen gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme und ihren sozialen Aufstieg in Angriff genommen haben.
Noch ein kleiner Hinweis bzgl. der eifrigen Medienüberpräsenz offensichtlich Falschdarstellungen bestimmter Gruppen von Neudeutschen:
Eine Studie im Auftrag der Weltbank hat kürzlich gezeigt, dass in ländlichen Gebieten Indiens Kinder aus oberen und niederen Kasten, denen der Unterschiede zwischen den Kasten nicht bewusst war, eine Serie von Rätseln gleich gut lösen konnten. Sobald man ihnen aber den Kastenunterschied bewusst machte, verschlechterte sich die Leistung der Kinder aus niederen Kasten erheblich.
Drei denkenswerte Ansätze für das demokratisch-humanistische Selbstbild des/r Durchschnittsaltdeutschen.