Vorgestellt: MiBoCap
Jugendliche Migranten mit Handicap an der Schnittstelle Schule und Arbeit/Beruf
Migration und Berufsorientierung mit Handicap (MiBoCap) - das Projekt stellt Donja Amirpur im Gespräch mit den Initiatoren vor. Dabei geht es um viel mehr! - Teil 4/6 des MiGAZIN Dossiers: Inklusion.
Von Donja Amirpur Donnerstag, 15.12.2011, 8:57 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 22.12.2011, 14:15 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
In Köln Holweide befindet sich die größte Gesamtschule der Rheinmetropole. 1 800 Kinder unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft lernen hier gemeinsam. Ein Viertel von ihnen hat einen Migrationshintergrund, zumeist aus der Türkei.
180 Kinder mit besonderem Förderbedarf werden im gemeinsamen Unterricht beschult. Vor drei Jahren startete die Schule gemeinsam mit dem freien Träger Interkultureller Sozialer Service (ISS Netzwerk) das Projekt MiBoCap, Migration und Berufsorientierung mit Handicap.
Donja Amirpur sprach mit Annette Kellinghaus-Klingenberg und dem ISS-Projektbegleiter David Gentner.
Donja Amirpur: Wie kamen Sie auf die Idee, das Projekt ins Leben zu rufen?
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Kellinghaus-Klingenberg: Wir hatten Probleme, bei unserer Arbeit Migrantenfamilien zu erreichen. Damals machte Ibrahim Turhan nach seinem sozialpädagogischen Studium das Anerkennungsjahr an unserer Schule. Wir machten uns dann gemeinsam auf den Weg, rollten die alten Fälle auf und landeten sofort einen Volltreffer: Die Eltern einer junge Dame haben allen verheimlicht, dass ihre Tochter eine Lernbehinderung hat. Sie erzählten, ihr Kind ginge auf die Gesamtschule, ohne zu erwähnen, dass es ein Förderkind ist. Für uns war es daher schwierig, individuelle Perspektiven für sie zu erarbeiten, schließlich durfte niemand von der Lernbehinderung wissen. Alle zusätzlichen Angebote waren für die Eltern nicht diskutabel. Erst durch Ibrahim Turhan, der heute an der Schule als Sozialpädagoge arbeitet, durch die gemeinsame Sprache als Basis, fassten sie Vertrauen. Mittlerweile macht die junge Dame eine reduzierte Ausbildung als Verkaufshelferin.
Was glauben Sie sind die Gründe für die Geheimhaltung der Behinderung des Kindes?
Kellinghaus-Klingenberg: Es ist immer ganz unterschiedlich. Bei dieser Familie, so erzählten sie uns später, wollten sie die Heiratschancen für die Tochter nicht schmälern. Zum anderen hatten sie auch nicht das Vertrauen in uns und unsere Arbeit. Erst durch Herrn Turhan gelang dies.
Wie funktioniert die Betreuung durch MiBoCap?
Kellinghaus-Klingenberg: Die Berufsorientierung fängt im 8. Jahrgang an. Bei unseren Erstgesprächen arbeiten wir nach einem festen Methodenkatalog. Bestimmte Fragen werden abgeklärt. Wo gehst du zur Schule? Wann bist du geboren? Deinen Namen? Welche Behinderung hast du? Hast du einen Behindertenausweis? Was machen die Eltern von Beruf? Wir möchten den jungen Mann, die junge Dame kennenlernen und außerdem feststellen, was er oder sie eigentlich weiß. Beim Arbeitgeber muss man schließlich auch seine Behinderung erklären können. Dann machen wir weiter mit dem Berufe-ABC. Die Schüler sollen überlegen, welche Berufe sie eigentlich kennen, denn viele Kinder kennen einfach nicht genügend. Wenn man gar nicht weiß, was man tun kann, keine Wahlmöglichkeiten hat, dann wissen wir, dass wir da noch ganz viel Input geben sollten.
Was ist, wenn die Schülerinnen und Schüler keine Vorstellung davon haben, was sie später machen möchten?
„Es fehlt auch die Selbstverständlichkeit und das Selbstvertrauen, als Mitglied der Gesellschaft staatliche Hilfeleistungen einzufordern. Einige Familien haben uns von ihrer Sorge berichtet, mit der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen benachteiligt zu werden. Einige Familien haben auch schlechte Erfahrungen gemacht, Diskriminierungen erlebt und sind so stark verunsichert.“
Kellinghaus-Klingenberg: Sollten die Schüler gar keine Ideen zu einem Praktikum haben, machen wir ein Fähigkeitsprofil. In Form von einer MindMap versuchen wir dann festzustellen, was das Kind gerne macht: Ich mache gerne Haare, ich arbeite gerne im Garten, ich gehe gerne zur Schule oder koche und backe gerne. Schüler, die das nicht können, z. B. autistische Schüler, die nicht sprechen oder Schüler mit geistiger Behinderung, bei ihnen müssen wir ein bisschen nachhelfen. Wir hatten zum Beispiel einen autistischen Schüler, der außer der Schauspielerei keine Ideen hatte. Wir arbeiten dann mit so genannten Fähigkeitskärtchen, legen sie dem Schüler vor und schauen, ob er damit etwas anfangen kann. Wir hatten einen jungen Mann, der putzte zu Hause leidenschaftlich gerne die Fenster. Der hat ein Praktikum in einer Gebäudereinigungsfirma gemacht.
Wenn der oder die Schülerin eine eigene Idee hat, dann soll er oder sie es zunächst einmal selbst versuchen, einen Vorstellungstermin zu vereinbaren. Sobald jemand Unterstützung braucht, sind wir da. Wir möchten nicht, dass das die Eltern tun, weil die Kinder selbstständiger werden sollen. Dazu gehört auch ein Fahrtraining zum Betrieb: Sie sollen lernen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstelle zu kommen. Durch eine Kooperation mit der Lebenshilfe haben wir die Möglichkeit, Praktikassistenzen einzusetzen. Das heißt, wenn wir Kinder haben mit autistischen Zügen, einer Körperbehinderung, wo auch Ängste da sind vor dem Praktikum, da können wir dann eine Assistenz einsetzen.
Im Nationalen Integrationsplan wurde die interkulturelle Öffnung der Behindertenhilfe ganz explizit gefordert, weil viel zu wenig MigrantInnen die Angebote nutzen. Was glauben Sie, woran das liegt?
Kellinghaus-Klingenberg: Ich denke, dass zum einen sicherlich die mangelnden Kenntnisse über das Schulsystem und das Behindertenhilfesystem sowie die Sprachbarrieren eine Rolle spielen. Wir hatten zum Beispiel einen autistischen Jungen mit Migrationshintergrund, bei dem die Familie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass ein Praktikum für den Jungen möglich wäre. Der junge Mann ist zu hundert Prozent schwerbehindert, hat aber keinen Behindertenausweis. Schulbegleitung, Pflegegeld, Freizeitbegleitung, sämtliche Hilfen waren nicht bekannt und mussten erst beantragt werden. Sie hatten keine Ahnung davon, was ihnen zu steht. Wir benötigen dafür mehrsprachiges Personal und Informationsmaterial.
Es fehlt auch die Selbstverständlichkeit und das Selbstvertrauen, als Mitglied der Gesellschaft staatliche Hilfeleistungen einzufordern. Einige Familien haben uns von ihrer Sorge berichtet, mit der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen benachteiligt zu werden. Sie fürchten sich vor der Stigmatisierung als Sondergruppe mit spezifischem Bedarf. Einige Familien haben auch schlechte Erfahrungen gemacht, Diskriminierungen erlebt und sind so stark verunsichert. Eine Vertrauensbasis zu schaffen ist das Wichtigste.
Gentner: Die Elternarbeit ist für uns das A und O. Wir müssen die Eltern überzeugen, dass wir die Kinder unterstützen. Wir möchten auch die Eltern unterstützen, dass sie selbstbewusst und ohne Moderation und Hilfen klar kommen. Aktuell Interview
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