Türkisch und/oder Deutsch
Diskussion um die Rolle der Muttersprache endlich beenden!
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan fordert von seinen Landsleuten das Erlernen der türkischen und der deutschen Sprache - in dieser Reihenfolge. Deutsche Politiker halten dagegen. Die Diskussin führt aber an der Realität vorbei, meint Benedikt Döhla.
Von Benedikt Döhla Dienstag, 14.02.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.02.2012, 8:24 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Alle Jahre wieder findet eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Muttersprache beim Spracherwerb türkischstämmiger Kinder und Jugendlicher in Deutschland statt. Anlässlich seines Besuchs beim Festakt zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei lieferte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan jüngst einen Beitrag dazu. In einem in der Bild-Zeitung abgedruckten Interview bekräftigte er seine Ansicht, dass junge Türken in Deutschland zuerst Türkisch lernen sollten, denn wenn „ein Kind eine neue Sprache erlernen soll, muss es die eigene Sprache gut können“.
Mit dieser Forderung hat Erdoğan die öffentliche Diskussion zwischen deutschen und türkischen Politikern fortgesetzt, zu der zuletzt vor einem halben Jahr Äußerungen von deutscher Seite zu vernehmen gewesen waren: So hatte Hans-Peter Friedrich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als neuer Bundesinnenminister klargestellt, dass für ihn die deutsche Sprache eindeutig vorgeht. Er sei der Auffassung, „dass derjenige, der in diesem Land lebt, in diesem Land integriert sein will, in diesem Land aufwächst, Deutsch können muss, in allererster Linie“. Beim politischen Aschermittwoch der CSU in Passau erhielt er Rückendeckung von seinem Parteivorsitzenden. Horst Seehofer zufolge müsse von Ausländern unter anderem verlangt werden, „als Erstes die deutsche Sprache zu lernen“.
Beide genannten Beiträge richteten sich gegen Aussagen des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan anlässlich seines Auftritts vor mehreren Tausend Zuhörern Ende Februar 2011 in Düsseldorf. In seiner Rede hatte er seine türkischen Landsleute unter anderem gemahnt: „Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst gut Türkisch lernen“. Für diesen Satz wurde er umgehend von verschiedenen Seiten kritisiert. Die aufkommende Diskussion über die Rolle der Muttersprache wurde in den folgenden Tagen aber von der Kritik an seinen Thesen zur Integration von Türkinnen und Türken in Deutschland in den Hintergrund gedrängt. Ähnlich verhielt es sich bei der Äußerung des Bundesinnenministers, die durch seine Aussagen zum Islam als Teil der Bundesrepublik und damit von einer weiteren leidenschaftlichen Debatte überdeckt wurde.
Bei diesen exemplarischen Aussagen aus dem Jahr 2011 handelt es sich nur um die aktuellsten Beiträge zu einer inzwischen mehrere Jahre andauernden Diskussion. Im März 2010 musste sich die Bundeskanzlerin kurz vor einer Türkeireise mit der von Erdoğan in einem „Zeit-Interview“ aufgeworfenen Forderung nach türkischen Gymnasien in der Bundesrepublik auseinandersetzen. Diese Forderung hatte er – bei gleichzeitiger Betonung der Wichtigkeit des Deutschlernens – damit begründet, dass die türkischen Schülerinnen und Schüler in Deutschland doch zunächst die eigene Sprache, also Türkisch, beherrschen müssten, was bei vielen aber „leider selten der Fall“ sei. Erdoğans Forderung und Begründung war wiederum nahezu identisch mit seinen Äußerungen anlässlich eines Deutschland-Besuchs 2008. Türkischstämmige Schülerinnen und Schüler sollten, so die zentrale Forderung des türkischen Ministerpräsidenten, zuerst Türkisch und dann Deutsch lernen. Denn erst dann, wenn sie richtig Türkisch gelernt haben, können sie Deutsch leichter und besser erlernen, so seine Schlussfolgerung. Die Rolle und der Umgang mit der Muttersprache der in Deutschland lebenden Türken scheinen für Erdoğan wohl sehr geeignete Themen zu sein, um sich – viel stärker als seine Vorgänger im Amt – in der Rolle des Fürsprechers der Türken in Deutschland zu profilieren. Seine Äußerungen zielen dabei sicherlich auch darauf ab, die in der Türkei wahlberechtigten türkischen Staatsbürger als Wähler für sich und seine Partei zu gewinnen.
Die Reaktionen auf seine Vorschläge zu Veränderungen im deutschen Schulsystem wie auch zu seiner Vision zur Reihenfolge des Spracherwerbs waren in allen politischen Lagern immer sehr ablehnend, zum Teil lösten sie bei einigen deutschen Spitzenpolitikern Reaktionen à la Seehofer und Friedrich aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierte zurückhaltender und äußerte wiederholt ihre Ansicht, dass türkische Kinder und Jugendliche in deutsche Schulen und nicht auf türkische Gymnasien gehen und Deutsch lernen sollen. Um in Deutschland erfolgreich zu sein, so wurde ihr von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer, beigepflichtet, müsse die deutsche Sprache wirklich gut beherrscht werden.
Beide Seiten argumentieren aus jeweils verschiedenen Gründen, warum es vorteilhaft beziehungsweise nicht von Vorteil ist, zuerst die eine und dann die andere Sprache zu lernen. Recep Tayyip Erdoğans Forderungen gehen jedoch an der Realität in Deutschland vorbei, wenn er glaubt, türkischstämmigen Kindern und Jugendlichen, die in einer deutschsprachigen Umgebung aufwachsen, die Reihenfolge der zu erlernenden Sprachen vorschreiben und ihre Einhaltung beispielsweise durch Türkisch-Unterricht in türkischen Gymnasien durchsetzen zu können. Spätestens beim Eintritt in die Grundschule findet der Erwerb beider Sprachen auf keinen Fall mehr in zwei voneinander isolierten Prozessen statt. Die lang gehegte Befürchtung, dass der gleichzeitige Erwerb von zwei Sprachen Kinder und Jugendliche in ihrer sprachlichen Entwicklung beeinträchtigt, wurde zwischenzeitlich in wissenschaftlichen Untersuchungen widerlegt, ist aber anscheinend, siehe die Beispiele oben, immer noch weit verbreitet. Gleichwohl ist unbestritten, dass es den Spracherwerb erleichtern kann, wenn ein Kind schon Sprachkenntnisse in einer anderen Sprache besitzt und beispielsweise das Alphabet beherrscht. Über entsprechende Kenntnisse, die über das Sprechen der Muttersprache hinausgehen, verfügt aber bestimmt nicht die Mehrheit der türkischstämmigen Kinder vor ihrer Einschulung.
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, die Gleichzeitigkeit des Spracherwerbs im Deutschen und im Türkischen zu nutzen und beides miteinander zu kombinieren. Hierzu muss dem Türkischen zuerst ein Platz im deutschen Schulsystem eingeräumt und im nächsten Schritt ein Konzept verfolgt werden, das Deutschlernen und das Lernen der Muttersprache aufeinander abstimmt:
Kinder, bei denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird, benötigen eine möglichst frühe Förderung in der Zweitsprache Deutsch. Diese systematische Förderung sollte schon im Kindergarten und Kindertageseinrichtungen mit entsprechend geschultem Personal beginnen und möglichst kontinuierlich, über den Wechsel auf die Grundschule und darauf folgende Schulen hinweg, angeboten werden. Es kann zwischen vier bis acht Jahre dauern, so wurde in wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellt, bis eine Zweitsprache systematisch erlernt worden ist. Bei der Förderung der Zweitsprache Deutsch ist es folglich notwendig, längere Zeiträume ins Auge zu fassen, anstatt nur kurzfristige, auf einzelne Schularten und Altersstufen beschränkte Initiativen zu starten.
In Verbindung mit einer Deutschförderung unter den beschriebenen Vorzeichen könnten die Herkunftssprachen in allen Schularten ebenfalls einen eigenen Stellenwert erhalten. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund benötigen ihre Muttersprache, damit ihnen ein Zugang zu ihrer Herkunftskultur möglich ist und sollten diese deshalb so früh und so systematisch wie möglich lesen und schreiben lernen. Das Erlernen im Kontext der Schule ist hierbei von besonderer Bedeutung: Die Schüler und ihre Eltern erkennen, dass ihrer Sprache – bei gleichzeitiger Förderung des Deutschen – entsprechende Wertschätzung eingeräumt wird und beide Sprachen zur gleichen Zeit erlernt werden können. In einigen Bundesländern besteht bereits die Möglichkeit die Muttersprache an verschiedenen Schularten zu erlernen, in Nordrhein-Westfalen kann Türkisch als sogar als Abiturfach gewählt werden. Das Gegenteil trifft auf Bayern zu. Hier wurde der Unterricht in der Muttersprache in den vergangenen fünf Jahren systematisch zurückgefahren, für das Angebot und die Durchführung sind jetzt die Konsulate der jeweiligen Herkunftsländer verantwortlich.
Gegenwärtig mangelt es an deutschen Schulen aber vor allem an Angeboten, bei denen der Erst- und Zweitspracherwerb möglichst früh kombiniert wird. Es gibt zwar Programme wie beispielsweise KOALA (Koordinierte Alphabetisierung im Anfangsunterricht), ein Konzept zur Alphabetisierung von zweisprachigen Kindern. Hier wird im Rahmen des Unterrichts im Primarbereich eine systematische Alphabetisierungsmethode in zwei Sprachen angewandt. Obwohl in solchen Angeboten enormes Potenzial steckt, sind sie aber bei Weitem nicht in jedem Bundesland etabliert beziehungsweise überhaupt hinreichend bekannt. Um solche Konzepte an den Schulen durchzusetzen, werden weitergehende bildungspolitische Programme verbunden mit mehr wissenschaftlicher Forschung und selbstverständlich einer ausreichenden Finanzierung benötigt.
Nur durch eine systematische Förderung beider Sprachen kann verhindert werden, dass eine Sprache nur unzulänglich beherrscht wird, oder es im schlimmsten Fall zu einer doppelten Halbsprachigkeit kommt – in diesem Fall wird weder die Muttersprache noch die Zweitsprache ausreichend in Wort und Schrift beherrscht. Außerdem hätte dieses Vorgehen zwei weitere Vorteile: Einerseits wäre auf diese Weise den oben genannten Forderungen beider Seiten Genüge getan, andererseits bliebe die Öffentlichkeit künftig vor der Fortsetzung der oben genannten Debatte zwischen deutschen und türkischen Spitzenpolitikern verschont. Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
„Migrantin, sind Sie noch Türkin oder schon Amerikanerin?“
Das ist eine ausgezeichnete Frage! Die Migrantin „lebt“ ja in den USA, heißt also, sie hat dort ihren Lebensmittelpunkt. Die Antwort würde mich auch interessieren.
„In DE gibt es aber zu oft ein Entweder Oder“
Genau das ist das Hauptproblem in DE! Es gibt kein beides oder gleichzeitig oder miteinander….sehr schade, wenn man bedenkt, wieviel einem dadurch verloren geht!
Es steht doch jedem frei die Sprache zu lernen und zu sprechen die er gern möchte. Wo das Problem mit dem Türkisch? Jeder der es gern lernen möchte kann es.
Nur muss jeder, der in einer Gemeinschaft lebt, auch die Grundformen der Verständigung beherrschen. Allein darum kann es doch nur gehen! Die Sprache zur Teilhabe in diesem Land hier ist deutsch. Aus und Punkt.
ob jemand diese zuerst, parallel, später, von Vater oder Mutter lernt ist völlig unerheblich.
Es ist ja schön wenn man sich Gedanken macht, ob Einwanderer genügend Zugang zu ihren „Herkunftsländern“ haben. Entschuldigung wenn ich nachfrage, aber ist das nicht das Problem jedes einzelnen wieviel „Zugang“ er zu seinem „Herkunftsland“ (was ist das?) hat? Diese Gesellschaft hier hat sich dafür zu interessieren, wieviel Zugang zu DIESER Gesellschat hier besteht. Und die Eintrittskarte ist weder türkisch noch serbisch noch englisch.
Wenn man seinen Lebensunterhalt mit eigener Hände erarbeiten muß statt allimentiert zu werde, dann stellen sich automatisch einige Fragen nicht mehr -sie wirken so fern wie die Frage nach der Farbe des Klopapiers auf auf Sirius 5. Was die lächerlichen Ausürfe der Wissenschaft hier angeht: Weder im Positiven noch Negativen haben sie auch nur das Geringste beizutragen. Bis auf den Hinweis Kinder nicht mit Bratpfannen auf den Kopf zu schlagen und nicht im Kleiderschrank großzuziehen ist nicht dass Allergeringste zu Didaktischen oder Methodischem Vorgehen von dieser Warte aus zu beizutragen. Dass hier mit Begrifflichkeiten wie „Neuroplastizität“ herumgewurmt wird ist schon lächerlich, genauso statthaft wäre der Verweis auf Grimms Märchen oder anderer „Heiliger Schriften“.
Also, ganz ehrlich…Ich bin mit 3 Sprachen groß geworden..dazu trägt auch ein wenig der Wille der Eltern bei! Ich hatte muttersprachlichen Ergänzungsunterricht immer freitags 4 Std 11 Jahre lang…Alles machbar! Dazu brauchte ich weder KOALA noch sonstwas…Es wird so viel Heckmeck um alles gemacht, dass es schwieriger erscheint als es ist..EIN KIND KANN BIS ZU VIER SPRACHEN PARALLEL LERNEN…und ja das IST wissenschaftlich erwiesen…Schönen Tag noch!