Buchtipp zum Internationalen Tag der Muttersprache
Kiezdeutsch: ein deutscher Dialekt
Kiezdeutsch ist keine „Kanak Sprak“, kein Anzeichen mangelnder Integration und auch keine Gefahr für das Deutsche. Anlässlich des Internationalen Tages der Muttersprache hat die renommierte Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese Auszüge aus ihrem Buch "Kiezdeutsch: ein deutscher Dialekt" für das MiGAZIN zusammengestellt:
Dienstag, 21.02.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 23.02.2012, 8:06 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Kiezdeutsch ist ein Sprachgebrauch, der sich unter Jugendlichen in Wohnvierteln überall dort in Deutschland entwickelt hat, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Erst- und/oder Zweitsprachen zusammenleben. […] An Kiezdeutsch erleben wir, wie ein neuer Dialekt entsteht – und dass die Welt dabei nicht untergeht. Sondern ganz im Gegenteil: Die sprachliche Landschaft des Deutschen wird durch diesen Zuwachs noch reicher und bunter, als sie es sowieso schon ist. Kiezdeutsch ist ein sprachlich interessanter Neuzugang zum Deutschen, der durch die vielen mehrsprachigen Sprecher/innen, die er auch – aber nicht nur – hat, besonders dynamisch ist. Kiezdeutsch ist eine Art Turbo-Dialekt, der interessante neue Entwicklungen zeigt, die auch in anderen Dialekten vorkommen können, dort aber oft nicht so stark ausgeprägt oder nicht so systematisch entwickelt sind. […]
In der öffentlichen Wahrnehmung tritt der „typische Kiezdeutschsprecher“ oft klischeehaft als männlicher Jugendlicher türkischer Herkunft auf, möglichst in aggressiver Pose. Die Realität ist anders, und sehr viel interessanter: Kiezdeutsch wird ebenso von Mädchen und jungen Frauen gesprochen, und es wird auch nicht nur von Sprecher/inne/n einer bestimmten Herkunft verwendet. Mit anderen Worten: Kiezdeutsch spricht man nicht, weil die eigenen Großeltern irgendwann einmal aus der Türkei eingewandert sind, sondern Kiezdeutsch spricht man mit seinen Freunden, wenn man in einem multiethnischen Viertel groß wird, ganz unabhängig davon, ob die Familie aus der Türkei, aus Deutschland oder aus einem anderen Land stammt. […]
Als Jugendsprache ist Kiezdeutsch Teil der Jugendkultur in einem multiethnischen Viertel. […] Jemand, der Kiezdeutsch spricht, weigert sich damit nicht etwa, Standarddeutsch zu lernen. Kiezdeutsch ist Teil eines sprachlichen Repertoires, in dem das Standarddeutsche ebenso seinen Platz hat. Sprachkompetenz bedeutet auch, aus diesem Repertoire je nach Situation eine angemessene Wahl zu treffen. So erklärte ein Jugendlicher aus Kreuzberg im Interview: „Ich kann nicht mit meinem Vater so reden. Das ist dann so respektlos.“
Kiezdeutsch ist auch kein fehlerhaftes, gebrochenes Deutsch, sondern bildet einen eigenen, in sich stimmigen Dialekt des Deutschen. […] Dialekte haben immer damit zu kämpfen, dass ihre Unterschiede zur Standardsprache als „Fehler“ angesehen werden – und nicht als das erkannt werden, was sie sind, nämlich Eigenheiten des jeweiligen Dialekts, die dort genauso grammatisch richtig und angemessen sind wie die Eigenheiten des Standards in der Standardsprache. Traditionelle Dialekte haben es aber leichter, einer solchen negativen Wahrnehmung einen eigenen regionalen Stolz, eine Art sprachlichen Lokalpatriotismus, entgegenzusetzen. So kann Baden-Württemberg selbstbewusst werben: „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“.
Der Dialektgebrauch wird hier nicht als Makel versteckt, sondern selbstbewusst herausgestellt. Er ist damit nicht stigmatisiert als der gescheiterte Versuch, Standarddeutsch zu sprechen, sondern wird als eigener Sprachgebrauch einer bestimmten Region hochgehalten.
Bestellung: Das Buch „Kiezdeutsch: ein deutscher Dialekt“ von Heike Wiese ist beim Verlag C.H.Beck erschienen (2012) und kann dort für € 12,95 bestellt werden.
Kiezdeutsch hat es da schwieriger. Es ist nur schwer vorstellbar, dass etwa Berlin-Kreuzberg mit dem Slogan werben könnte „Wir können alles außer Standarddeutsch“. Kiezdeutsch wird in der öffentlichen Diskussion nicht als eigenständige sprachliche Alternative zum Standarddeutschen angesehen, sondern als sprachliches Defizit, als „gebrochenes Deutsch“ – und die Aussage, nicht Standarddeutsch zu sprechen, würde hier entsprechend nicht als Ausdruck regionaler Identität wahrgenommen, sondern als Eingeständnis eines Scheiterns.
Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Lassen Sie uns den Mythos von Kiezdeutsch als „gebrochenen Deutsch“ einmal genauer unter die Lupe nehmen. Dieser Mythos kursiert schon eine ganze Weile in der öffentlichen Diskussion. Besonders zu Beginn der Debatte um Kiezdeutsch (damals meistens noch „Kanak Sprak“ genannt) Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre fand man diese Ansicht auch in zahlreichen Zeitungsartikeln. Hier zwei Beispiele:
„‘Kanak Sprak’ ignoriert den Duden, und auf eine Notzucht mehr oder weniger an der Grammatik kommt es ihr ebenfalls nicht an.“ 1
„ein eigenartiges nicht Duden-kompatibles Gossen-Stakkato“ 2
Die sprachlichen Beispiele, die dann in solchen Berichten genannt werden, sind meist vom Typ „Brauchst du hart?“ wie in der Überschrift des ersten Artikels: verkürzte Sprachbrocken, in denen es inhaltlich um Drohungen und Gewalt geht. Kiezdeutsch, so der hier vermittelte Eindruck, ist eine stark reduzierte Sprachform ohne Regeln und Grammatik, in der man eigentlich nur aggressiv sein kann. Hier noch ein Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel von 2006, in dem eine solche Ansicht vertreten wird:
„Der Wortschatz dieser Straßensprache gleicht einer Notration […], und auch ihre Schrumpfgrammatik versprüht den herben Charme des Minimalismus. […] Kompliziertere Gedankengänge, abstraktere Sachverhalte für ein Publikum jenseits des eigenen Kreises lassen sich hiermit kaum vermitteln.“ 3
Während solche Ansichten lange dominiert haben, findet sich in den Medien mittlerweile ein sehr viel differenzierteres Bild, einfach auch weil mehr über Kiezdeutsch und seine sprachlichen Möglichkeiten bekannt ist. Der Mythos vom „gebrochenen Deutsch“ ist damit aber nicht ausgestorben. Er taucht in der öffentlichen Diskussion auf, in Talkshows und Internet-Foren und in den zahlreichen Zuschriften, die ich zu meinen Kiezdeutsch-Forschungen bekomme. Der Mythos tritt in drei typischen Formen auf:
- „Kiezdeutsch ist falsches Deutsch.“: Kiezdeutsch wird nach dieser Ansicht als eine Art Standarddeutsch mit grammatischen Fehlern angesehen, als der missglückte Versuch, „richtig“ deutsch zu sprechen.
- „Kiezdeutsch ist ein verarmter Sprachgebrauch.“: Kiezdeutsch wird als verkürzte Form des Deutschen angesehen, mit kurzen Sätzen oder Satzteilen, oft Ausrufen u.ä., und mit einem geringeren Wortschatz, der im Wesentlichen aus Wörtern zum Drohen, Beleidigen usw. besteht.
- „Kiezdeutsch hat keine Grammatik.“: Kiezdeutsch wird als willkürliches, im Wesentlichen regelloses Sprechen angesehen.
Die erste Ansicht setzt Unterschiede zum Standarddeutschen mit Fehlern gleich und spiegelt damit eine klassische Einstellung gegenüber Dialekten wider. Die zweite und dritte Aussage sind zwei weitere Spielarten solcher Einstellungen: Sie sehen Kiezdeutsch als reduzierte Sprachform an. Gemeinsam ist all diesen Ansichten, dass Kiezdeutsch als mangelhafte Version des Standarddeutschen angesehen wird. Die sprachliche Realität von Kiezdeutsch aber ist eine andere: Wenn man die sprachlichen Besonderheiten von Kiezdeutsch unvoreingenommen untersucht, zeigt sich Kiezdeutsch als vollständige, in sich stimmige Varietät, ein neuer Dialekt, der fest im System der deutschen Grammatik verankert ist.
- Berliner Zeitung, 28.5.1999, „Brauchst du hart? Geb ich dir korrekt“
- Berliner Morgenpost, 2.9.2001, „Voll fett krass“
- Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.2006, „Kiez- und Umgangssprache – Messer machen“
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Toller Bericht, der uns endlich einmal sagt, dass die neu hinzugekommenen Sprachen tatsächlich eine Bereicherung sind! Bevor jetzt wieder von regressiver Seite attackiert wird, sollte man einmal daran denken, wie lange in diesem unseren Deutschland die Dialekte verpönt waren – wer spricht heutzutage noch Plattdütsch?! Leider nur noch die älteren Herrschaften, wenn überhaupt, auch wenn es bei einigen jungen Leuten wieder Mode ist, Platt zu sprechen. Aber noch einmal: Jede Sprache ist per se eine Bereicherung für dieses Land, die Vielfalt macht es halt ;-)
„Jede Sprache ist per se eine Bereicherung für dieses Land, die Vielfalt macht es halt“
So kann man es natürlich auch nennen, wenn ungebildete, ausländische Jugenliche eine Sprache bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln und sich auch meist über diese Sprache hinaus -mit allen Folgen- nicht ausdrücken können. Deswegen hören die auch alle nur diese Gangster-Musik, da wird auch nur gestammelt. Ausnahmen mag es geben.
„Kiezdeutsch“ ist schon deswegen kein Dialekt, weil es nicht auf eine bestimmte Region begrenzt ist. Also ist es ein Jargon, Unterschichtenjargon.
Ich kann dem Artikel nicht ganz zustimmen. Kanak- oder Kiezdeutsch wird i.d.R. eben nicht von Menschen gesprochen, die eigentlich über eine hohe Deutschkompetenz verfügen und diese Form nur aus Spass sprechen, das wird dem Thema einfach nicht gerecht. Kanakendeutsch hat sich aus der mangelnden Deutschkompetenz entwickelt, sicher, es gibt auch einige Jugendliche, die Kanakendeutsch aus purer Freude sprechen, aber es gibt zahlreiche Jugendliche, die nur Kiezdeutsch können. Zum anderen ist Kanakendeutsch auch der bewusste Ausdruck einer neuen Subjektivität, es ist das Bewusstsein, das Teile der Bevölkerung sie nur als „Kanake“ sehen, folglich ist die Sprache Ausdruck diese Wahrnehmung. Kanakendeutsch ja, aber nur, wenn man auch fähig ist Deutsch, wenn es darauf ankommt, vernünftig zu sprechen. Alles andere wäre eine Verniedlichung der Sprachproblematik.
Rechenratz@ „Was Sie verstümmelte Sprache nennen, wird andernorts als Subkultur bezeichnet und alseigenständige Kultur verstanden und mit Preisen ausgezeichnet. Möglicherweise aber ist es so, dass das, was Sie, Rechenratz, nicht verstehen oder begreifen, notwendigerweise als „verstümmelt“ gelten muss?
So, wie Sie, argumentiert jeder regressiv-konservative Geist, was er nicht versteht, dass verdammt er auch! Sie, die Sie gar kein Einblick in diese Welt haben wollen oder haben können, outen sich hier als Kunst- und Kulturbanause der ganz besonderen Art. Schade!
Auch das Jiddische, eine Mischsprache, wurde von den Nationalsozialisten verdammt und samt Sprecher verfolgt. So was darf nie wieder geschehen! Der wunderbare Klang des Jiddischen, in dem der Schmerz und die Lebenslust des jüdischen Volkes zur Sprache kommt, sollte, wie alle Dialekte, Soziolekte und Jargonarten wiederbeleben und gepflegt werden. Und wer sich etwas auf sein Hochdeutsch einbildet, auch dies war einst ein sächisch Dialekt aus dem hinteren Walde, bevor es zur „Hochsprache“ erkoren wurde. Es gibt nicht „die Deutsche“ sprache, das ist schlicht und einfach eine moderne Konstruktion, so wie die KANAKSPRAK!
wat willse ens dänne verzällen, et Shanellsche, entweder dat jibbet oder dat jibbet nit und wat fort es, es esu fort.
@Rechenratz
Kenne mer nit, bruuche mer nit, fott domett.
Bierdurst@ Aha, Sie wollen uns also ausgrenzen, sprechen Sie gefälligst Deutsch ;-))