Debatte
Der Kita-Besuch von Kindern mit Migrationshintergrund jenseits von Wollen und Sollen
Kinder mit Migrationshintergrund seltener in Kitas. Dieser Vergleich macht jährlich die Runde. Ilka Sommer geht der Sache nach und stellt sechs Thesen auf, warum uns der Vergleich von Betreuungsquoten nicht weiterbringt!
Von Ilka Sommer Donnerstag, 23.02.2012, 8:29 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 28.02.2012, 7:53 Uhr Lesedauer: 14 Minuten |
„Kinder unter 3 Jahren mit Migrationshintergrund seltener in Kindertagesbetreuung“ meldete das Statistische Bundesamt am 2. Februar 2012 – eine inzwischen alljährliche Nachricht, die stets ein politisches und mediales Echo auslöst. 14% der unter 3jährigen Kinder mit Migrationhintergrund besuchten im März 2011 eine Kindertageseinrichtung oder wurden alternativ von öffentlich geförderten Tagesmüttern/-vätern betreut. Im Jahr 2010 waren es noch 12% und im Jahr 2009 sogar erst 11%. Aber nicht der Entwicklung, sondern dem jährlich erneut festgestellten Unterschied zu den Kindern ohne Migrationshintergrund gilt die Aufmerksamkeit. Mit einer Betreuungsquote von 30% ist sie in dieser Altersgruppe mehr als doppelt so hoch und auch in den letzten Jahren stärker angestiegen. Auch der aktuelle Vergleich in der Altersgruppe der 3-5jährigen Kinder ergibt einen Unterschied der Betreuungsquoten von 85% zu 97%. Warum ist die Quote der institutionell betreuten Kinder mit Migrationshintergrund so viel niedriger als die Quote der betreuten Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund?
„Sie wollen nicht, weil sie kulturelle Vorbehalte gegenüber dem deutschen Bildungs- und Betreuungssystem haben“ ist eine der geläufigsten Interpretationen von vielen PolitikerInnen, JournalistInnen, Erziehungs- und SozialwissenschaftlerInnen sowie anderen MultiplikatorInnen. In der Konsequenz werden Lösungen diskutiert, wie man bei Familien mit Migrationshintergrund stärker für den Kita-Besuch werben und ihnen diese Vorbehalte nehmen könne. „Der Kita-Besuch sei zu teuer“ ist eine weitere gängige Interpretation, die in der Konsequenz zu politischen Forderungen wie der Beitragsfreiheit von Kindertagesstätten führt.
In der Zielrichtung sind sich offenbar alle gesellschaftlichen Kräfte einig: Migrantenkinder sollen so früh wie möglich eine Betreuungseinrichtung besuchen, zugunsten des frühen Erlernens der deutschen Sprache, zugunsten einer frühen Sozialisation im deutschen System und zugunsten eines erfolgreichen Bildungsverlaufs. Die Unterschiede zwischen den Betreuungsquoten von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund werden als Beleg angeführt, dass dieses Ziel bislang nicht zufriedenstellend erreicht wird. Wie lässt sich das beheben? Brauchen wir eine Kindergartenpflicht oder auch schon eine Krippenpflicht?
Bevor die Diskussion an dieser Stelle fortgesetzt wird, möchte ich „Stop“ rufen und lieber noch mal einen Schritt zurückgehen. Können wir wirklich von einer simplen Zahl ableiten, dass die Migranten ihre Kinder nicht in Kitas bringen wollen und man sie des-halb stärker überzeugen oder sogar zwingen muss? Im Folgenden möchte ich sechs alternative Erklärungsansätze für die Unterschiede der Betreuungsquoten und ihre Skandalisierung anführen und damit zum einen dazu aufrufen, genau diese Rückschlüsse nicht zu ziehen und zum anderen der Suche nach politischen Lösungen andere Denkstöße geben.
1. Aufgrund von Erfassungsproblemen wird die Betreuungsquote der Kinder mit Migrationshintergrund unterschätzt!
Das Merkmal „Migrationshintergrund“ ist viel weniger eindeutig zu erfassen als Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit. Methodisch problematisch ist zudem, dass die Erfassung auf zwei unterschiedlichen Datenquellen mit ganz unterschiedlichen Definitionen und Erhebungsmethoden von „Kindern mit Migrationshintergrund“ basiert. Die Kinder- und Jugendhilfestatistik liefert die Daten, wie viele Kinder in institutioneller Betreuung sind. Es ist eine Totalerhebung, bei der alle Kita-Leitungen (oder Einrichtungsträger) jährlich für jedes Kind einzeln auf einem Bogen ankreuzen, ob „mindestens ein Elternteil eine ausländische Herkunft“ hat. Damit ist allerdings nicht die Staatsangehörigkeit gemeint. Was sie konkret unter „ausländischer Herkunft“ verstehen und wie sie die Information erhalten, ob ein solches Merkmal bei den Eltern vorliegt oder nicht, ist ihnen selbst überlassen. Für den Bereich der öffentlich geförderten Kindertagespflege übernehmen die Jugendämter diese Aufgabe.
Der sogenannte Mikrozensus liefert dagegen die Daten, wie viel Kinder im gleichen Alter in Deutschland leben. Er ist eine jährliche Repräsentativbefragung von 1% der Bevölkerung, die von geschulten InterviewerInnen der Statistischen Landesämter durchgeführt wird und dann auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet wird. Die Definition von „Migrationshintergrund“ beruht hier auf einem sehr differenzierten und mehrere Merkmale umfassenden Raster, das z.B. die Staatsangehörigkeit und Geburt im Ausland der Befragten ebenso wie diese Merkmale ihrer Eltern umfasst. Im Ergebnis erfasst er mitunter Personen als MigrantInnen, die selbst nicht auf den Gedanken kämen, sich einen Migrationshintergrund zuzuschreiben. Beide Erhebungen werden vom Statistischen Bundesamt nach bestem Wissen zu den besagten Betreuungsquoten zusammengeführt. Da der Mikrozensus jedoch besonders viele Personen als „Kinder mit Migrationshintergrund“ zählt, während die Erhebung in den Kindertagesstätten tenden¬ziell darauf ausgerichtet ist, das Merkmal eng zu fassen, ist eine Unterschätzung der Betreuungsquote von Migrantenkindern und eine Überschätzung der Vergleichsquote naheliegend.
Methodische Probleme amtlicher Statistiken wurden z.B. im Hinblick auf die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zur so genannten „Ausländerkriminalität“ seit den 1990er Jahren immer wieder ausführlich diskutiert. Inzwischen ist es zu recht verrufen, aus diesen Zahlen Argumentationen vom „kriminellen Ausländer“ abzuleiten (obwohl sie weiterhin erfasst werden). Da Kita-Betreuungsquoten auf einer ähnlich schwachen und angreifbaren Methodik aufbauen, muss ihnen der Anspruch an Wahrheit und Legitimität in der öffentlichen Debatte ebenso entzogen werden. Der unreflektierte Umgang mit diesen Zahlen diskriminiert Eltern mit Migrationshintergrund, da er pauschal mangelndes Interesse an der Förderung der Kinder sowie mangelnde Integrationsbereitschaft unterstellt. Aktuell Meinung
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Ein hervorragender Artikel! Ich kann aus persönlicher Erfahrung melden, dass es unheimlich schwierig ist, Krippenplätze zu bekommen. Man möchte eigentlich so schnell wie möglich in den Beruf zurück, aber es werden einem Steine ohne Ende in den Weg gelegt: zum einen durch nicht genügend vorhandene Krippenplätze, die man sich hart „erkämpfen“ muss und zum anderen durch familienfeindliche Vorgesetzte, die erwarten, dass man wieder Vollzeit einsteigt!
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Wenn ich Ilka Sommer richtig verstanden habe, ist der Bedarf an Betreuungsplätzen für die Kleinkinder unter drei Jahren NICHT aus deren Bedürfnissen abgeleitet, sondern richtet sich nach den Erfordernissen ihrer Eltern. Eltern haben das Recht sich frei für ein Erziehungsmodell zu entscheiden.
Gut, dass es durch den § 90 des achten Sozialgesetzes eine Möglichkeit gibt, sich ggf. mit finanzieller Unterstützung für eine Kinderbetreuung zu entscheiden, immer vorausgesetzt, dass es genügend Plätze gibt. .
Die Hürden, die jedoch in der unklaren rechtlichen Situation liegen, erscheinen mir aber das größtes Handicap zu sein: Verweise über Verweise von Zuständigkeiten und Ausnahmen. Da nimmt es nicht Wunder, dass Eltern in prekären finanziellen Lagen lieber auf eine frühe Betreuung verzichten.
Damit die gewünschte Unterstützung greift, bedarf es vor Ort einer transparenten Regelung durch die Jugendämter. Doch die sind oft personell so überlastet, dass sie sich nur um Fälle kümmern können, die bereits „angebrannt“ sind. Hier muss m. E. investiert werden, denn die Investitionen in frühe Hilfen sind tausendmal ökonomischer als spätere „Reparatur“ – maßnahmen.
Der Hinweis auf die Methodik ist wichtig. Es ist tatsächlich so, dass Erzieher und Pädagogen den Migrationshintergrund nach Augenschein verteilen. (Faustregel: Je dunkler, desto Migru.) Belegen lässt sich das unter anderem an den Migru-Zahlen, mit denen Schulen werben. Die liegen oft erheblich unter dem wahren Anteil, jedenfalls wenn man die offizielle Definition zugrunde legt, und beziehen sich nur auf die, die gemeint sind.
Noch wichtiger ist die Frage nach der Redlichkeit und der eigenen Haltung der Experten. Punkt 6 reisst das Thema vorsichtig an. Kinder werden nach meiner Beobachtung von Erziehern, Pädagogen, Förderern vor allem für persönliche und kommerzielle Interessen benutzt. Das ist offensichtlich. Grundsätzlich sind die Eltern die einzigen, die wirklich für die Interessen und das Wohl der Kinder stehen.
Nachtrag:
Das „Vierteljahresheft zur Wirtschaftsforschung“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin befasst sich in Heft 3 aus 2010 ausführlich in 11 Beiträgen mit dem Thema der frühkindlichen Bildung – unter anderem auch aus ökonomischer Sicht (vgl. den einleitenden Beitrag von Katharina Spieß). Die Beiträge können kostenlos eingesehen werden.
Rita Zellerhoff
Kita ist eine derartige Selbstverständlichkeit geworden, dass man zwar die Qualität in Kitas kritisiert, aber längst nicht mehr die Einrichtung per se. Kitas wurden eben nicht für Kinder, sondern für arbeitende Eltern geschaffen. Türkische Familien erziehen ihre Kinder lieber selbst, auch in der Türkei besuchen nur wenige Kinder die Kita, ein Aspekt, der bei der Betrachtung bezüglich türkischer Eltern und Kitas völlig ignoriert wird, aber sehr wichtig ist, denn er zeigt, dass Kita für türkische Eltern- sowohl in der Türkei als auch in Deutschland -kein Bedeutung hat,.