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Bildung

Von Tigermüttern, Großkatzen und anderen Eltern

Wer ist für den schulischen Erfolg oder Misserfolg der Kinder maßgeblich? Die Eltern oder doch die Schule? Und wieso stellt sich die diese Frage überhaupt? Diesen Fragen geht Sabine Beppler-Spahl nach - ein Plädoyer an die Vernunft.

Von Donnerstag, 22.03.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 24.01.2014, 7:43 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Es gibt wohl kaum ein Thema, das die Emotionen höher schlagen lässt, als die Frage, wie Kinder zu erziehen und in einen gebildeten Zustand zu versetzen sind. An einem Punkt aber herrscht Konsens: Verantwortlich für den schulischen Erfolg oder Misserfolg sind maßgeblich die Eltern. Dass es Unterschiede bei den schulischen Leistungen der Kinder zwischen den einzelnen Einwanderergruppen gibt, stärkt diesen Konsens. Wir erfahren, nicht erst seit Pisa, dass die Bildungskluft zwischen Schülern mit und ohne ausländischem Hintergrund hoch ist, gleichzeitig aber Kinder aus „asiatischen Familien oder von jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion gegen den Gesamttrend oft sogar bessere Bildungserfolge zeigen, als deutsche Kinder“ 1. So wird die Bildungsdebatte „ethnisiert“ und befördert die Rede von „guter“ und „schlechter“ Einwanderung. Das ist bedauerlich. Nicht nur weil wir einen großen Teil der Einwanderung nach Deutschland zum Problem erklären, sondern auch, weil unsere eindimensionale Fixierung auf die Eltern als Schlüssel für den Bildungserfolg zementiert wird.

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Die Frage, warum z.B. chinesische Einwandererkinder an Schulen besser abschneiden als andere, hat im letzten Jahr durch den Bestseller der amerikanischen Yale Professorin, Amy Chua, mit dem Titel „Battle Hymn of a Tiger Mother“ (Deutsch: „Die Mutter des Erfolgs“) 2 neuen Schwung bekommen. Chua ist Juristin und Tochter eines chinesisch-stämmigen Physikers, der in die USA ausgewandert war. Ihr Buch ist die Geschichte ihrer Familie und im Mittelpunkt steht die Erziehung der beiden Töchter. Ihr Erziehungsstil, den sie chinesisch nennt, zeichnet sich durch äußerste Strenge aus. Sie verlangt von ihren Kindern Perfektion. Die Mädchen müssen in der Schule brillieren und werden auch musikalisch zu Siegern getrimmt.

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Die Unnachgiebigkeit und der kompromisslose Ehrgeiz, der hier zum Ausdruck kommt, wirkt unzeitgemäß und abschreckend. Trotzdem wurde die „Mutter des Erfolgs“ zum meistgekauften Erziehungsratgeber des Jahres 2011 und viel wurde darüber spekuliert, was das Buch so attraktiv macht. Die Antwort ist simpler als wir glauben: Mit ihrem Werk trifft die Autorin den Nerv einer globalen Mittelschicht, die ihre Kinder mehr im Großkatzenstil erzieht, als sie zugeben mag. Das anfängliche Befremden weicht schnell der Identifikation mit der Autorin.

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Auch ich habe die Tigermuttermethode, in (für deutsche Verhältnisse ausreichender) abgeschwächter Form angewandt. Mein Sohn, 11 Jahre alt musste sich im Februar dieses Jahres für ein Berliner Gymnasium oder eine Sekundarschule bewerben. Leider stand er mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß. Seine Diktatnoten waren seit der ersten Klasse durchweg schlechter als die seines türkischen Freundes Atakan. Fortan hieß es, ganz im Stile der Tigermutter, Lernhilfen durchzuarbeiten und zu üben – zur Not auch gegen den Widerstand des Kindes. Wie Amy Chua kann auch ich von Streit, Frust und Erfolg erzählen – mein Sohn verbesserte sich um zwei Notenpunkte.

Was Chua beschreibt, ist nicht der chinesische Erziehungsstil, sondern eine ausgeprägte Variante der „intensiven Elternschaft“, wie sie von einer besser gestellten Schicht weltweit praktiziert wird. Wir nehmen das nicht wahr, weil uns die Übereinstimmung, verschlüsselt durch den Umweg eines vermeintlichen chinesischen Erziehungsstils, fremd vorkommt. Das Bild der nachlässigen, türkischen, deutschen oder sonstigen Eltern, die ihre Kinder ganz dem eigenen Schicksal überlassen, ist aber ebenso ein Klischee, wie das der strengen chinesischen Mutter. De Trennlinie verläuft nicht nach ethnischen Prinzipien. Nein, die Gattung Großkatzenmütter steht für ein Erziehungsideal, das uns allen, egal aus welchem Land wir stammen, bekannt ist. Gekennzeichnet ist es vor allem durch eins: den hohen Aufwand, in Form von elterlicher Zeit oder elterlichen Geldes, der in die schulische Förderung der Kinder gesteckt wird.

Im Unterschied zu anderen Ländern ist diese Form der „Intensiv-Elternschaft“ bei uns nicht mehr auf einige, wohlhabende Familien beschränkt, sondern zum Standardmodell geworden, an dem wir uns alle zu messen haben. Ein Zeichen ihrer Verbreitung liefern die Lebensmitteldiscounter, die regelmäßig Lernbücher für alle Klassenstufen im Sortiment führen. Es beginnt früh. Bücher wie „Babys spielerisch fördern“ oder „Von den 10 Sprüngen in der mentalen Entwicklung ihres Kindes während der ersten Monate“ liegen im Amazon Verkaufsranking ganz vorne. Schon die Dreijährigen werden zur musikalischen Früherziehung oder zum „Baby-Englisch“ angemeldet. Später kutschieren wir unsere Schulkinder zu Nachmittagsaktivitäten, um ihnen eine „sinnvolle Freizeitgestaltung“ zu ermöglichen. Zur Not bezahlen wir Hunderte von Euro für Nachhilfe. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2010 ergab, dass deutsche Eltern jährlich zwischen 942 Millionen und knapp 1,5 Milliarden Euro für Nachhilfe ausgeben 3. Darin nicht eingeschlossen ist die Zeit, die Eltern selbst aufopfern, um bei den Hausaufgaben zu helfen.

Im Buch der Tigermutter spiegelt sich dieses Ideal einer durch intensiven Elternförderung gekennzeichneten Erziehung in aufgebläht-verzerrter Form wider. Durch die verblüffende Offenheit, mit der die Autorin schildert, wie sie sich, fast schon pathologisch, mit dem Erfolg ihrer Kinder identifiziert, zeigt sie uns aber auch die Grenzen dieser Erziehung auf. Natürlich wird hierfür vor allem der „chinesische“ Drill verantwortlich gemacht, der zwar manchmal funktioniere, aber bestenfalls kleine Roboter erzeuge, die ohnehin zu selbständigem Denken unfähig seien. Wir erkennen die üblichen Klischees von den asiatischen Massenmenschen.

Wirft man aber den „chinesischen Ballast“ ab, öffnet einem das Buch die Augen für die eigenen Schwächen. Für mich stellt sich nicht die Frage, was am vermeintlich „chinesischen“ Modell falsch ist, sondern ob nicht das System der intensiv-fördernden Elternschaft das eigentliche Problem ist. Seit wann sind Eltern unmittelbar für die formale Bildung und den schulischen Erfolg ihrer Kinder verantwortlich? Natürlich tragen Eltern Verantwortung und selbstverständlich hilft es, wenn gute Rahmenbedingungen fürs Lernen zur Verfügung gestellt werden. Auch dürfen Eltern ihren Kindern durchaus klar machen, was von ihnen erwartet wird, aber sollte das schulische Lernen nicht zuerst und vor allem in der Schule erfolgen?

Keine Debatte über Bildung – ob im positiven oder negativen Sinne – kommt ohne den Verweis auf die zentrale Rolle der Eltern aus und das fordert einen hohen Preis. Wer mag es Eltern verdenken, wenn sie die Trennlinie zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den ihrer Kinder und der Schule nicht mehr erkennen? Reflektieren die Schulnoten des kleinen Tim die Leistungen des Kindes oder die der Eltern? In unserem Zeitalter der intensiv-Elternschaft ist die Antwort alles andere als klar. Schreibt Mahmood eine Fünf, wird nicht nur er, sondern auch Mama und Papa bewertet. Vom ersten Tag der Grundschule an wird Eltern eingebläut, die Leistungen ihrer Kinder seien eng damit verbunden, wie viel Hilfe sie zuhause erhalten. Kein Wunder, dass sich immer mehr Eltern viel zu stark in die schulischen Angelegenheiten ihrer Kinder einbringen, immer häufiger als Anwälte ihrer Kinder auftreten und sogar zunehmend die Gerichte bemühen, um bessere Noten einzuklagen, wie wir aus der Presse erfahren.

Für mich hat die Hilfe, die viele Eltern ihren Kindern geben, einen faden Beigeschmack. Zum einen wird so die Energie und Zeit unzähliger Erwachsener gebunden, die längst Lesen, Schreiben oder Rechnen gelernt haben. Wer stundenlang mit seinen Kindern Übungen macht, hat weniger Gelegenheit, eigene Bücher zu lesen. Und welche Signale senden wir durch eine übertriebene Zuwendung an unsere Kinder? Wie sollen wir unseren Kindern beibringen, dass nur die eigene Leistung zählt, wenn es selbstverständlich geworden ist, ihnen permanent helfend zur Seite zu stehen? Vor allem: Wo hört die Hilfe auf und wo beginnt das Schummeln? Der englische Soziologe Frank Furedi, der auch den Begriff der „Intensiv-Elternschaft“ (intensive parenting) 4 geprägt hat, vermutete schon vor einigen Jahren hier die Grundlage für die weitverbreitete Praxis des Plagiierens. Wo, fragt er, gibt es deutlichere Zeichen für die Normalisierung des Schummelns, als an unseren Schulen? 5. Selbst Kinder in den ersten Klassen erscheinen zum Unterricht mit fein herausgeputzten Präsentationsmappen oder Hausaufgaben, bei denen die Eltern mehr als nur ein bisschen Hilfe geleistet haben.

Den Eltern ist die Schuld hierfür nicht allein zuzuschieben. Im verzweifelten Versuch, die Ergebnisse an den Schulen zu verbessern, wird die elterliche Sorge um ihre Kinder dahingehend manipuliert, dass diese zu Ersatzlehrern werden. Als mein Sohn zur Schule kam, glaubte ich, gut daran zu tun, seine schulische Bildung den Professionellen zu überlassen. Schon nach drei Monaten wurde ich in die Schule zitiert: Ich müsse unbedingt mit ihm Lesen und Schreiben üben. Ein Großteil des Lernens, so wurde mir gesagt, fände zuhause statt. Doch wenn so viel Lernen zuhause stattfindet, was bleibt dann die besondere Rolle der Schule?

Statt der Frage nachzugehen, wie unsere Schulen gestärkt werden können, damit sie allen eine umfassende Bildung anbieten können, geht die Debatte in die entgegengesetzte Richtung. Kurzerhand wird ein Problem zur Lösung umdefiniert und wir befinden uns im Teufelskreis der Elternaufrüstung und des Dahinschwindens der schulischen Lehrhoheit und Autorität. Die Intensiv-Elternschaft wird mit all ihren Schwächen zum Königsweg erklärt. Eltern, die sich diesem Weg nicht anschließen wollen oder können, werden unumwunden zu „Problemeltern“. Auf der Homepage des deutschen Bildungsservers finden wir einen Artikel des Zeit Redakteurs Martin Spiewak. Warum, so Spiewak, zeige die Statistik, dass der deutsch-türkische Nachwuchs überproportional oft in der Schule scheitert. Seine Erklärung: „Weil viele Migranteneltern ihren Kinder viel mehr als guten Willen nicht bieten können. Weder Vorlesestunden auf Deutsch noch anregende Literatur im Bücherschrank, weder einen eigenen Schreibtisch noch Geld für Nachhilfe, weder Unterstützung bei den Hausarbeiten noch Vorbilder in der Familie“. Es sind, so Spiewak, ganz einfach „die »falschen Eltern« für ihre Kinder“. 6.

Das ist richtig beobachtet. Zweifellos hätten diese Kinder mehr Chancen, wenn sie in einem Haushalt aufwüchsen, der dem Ideal der intensiv-fördernden Elternschaft besser entspräche. Auch der Verweis auf individuelle Verantwortung ist nicht unsympathisch. Trotzdem scheint mir die das Bild der „falschen Eltern“ oder „Problemeltern“ unreflektiert und unbefriedigend. Zum einen, weil sich das Bild der vorlesenden, Hausaufgaben helfen Mutter niemals auf alle Elternhäuser übertragen lassen wird. Vor allem aber, weil hier „gute Elternschaft“ auf ein einziges Kriterium – auf die Frage, ob und in welchem Maße sich Eltern für die Schulkarriere ihrer Kinder einsetzen – reduziert wird. Elterliche Erziehung wird durch die Fixierung auf die schulische Karriere überfrachtet und gerät in eine Schieflage. Wenn in Zusammenhang mit mangelnder „Elternleistung“ von Problemen die Rede ist, wird insinuiert, dass es nicht ausreiche, Mutter oder Vater zu sein, seinen Kindern eine Familie zu bieten, sie zu versorgen, im Sportverein anzumelden und zur Schule zu schicken. Nein, wer nicht dafür sorgt, dass die Kinder erfolgreich sind, die Großschreibung substantivierter Verben und die Regeln der gesunden Ernährung beherrschen, der ist der falsche Papa für das moderne, Kind.

Die Schule hat die Aufgabe alle Kinder zu fördern, unabhängig von ihrer Herkunft. Wer Migration für die Probleme des deutschen Bildungssystems verantwortlich macht, der macht es sich zu einfach.

  1. Vgl. Die Kluft beim Lernen, WAZ, 10.6.2010
  2. Amy Chua, Battle Hymn Of The Tiger Mother, London, Bloomsbury, 2011 (S. 60 ff.)
  3. Bertelmann Stiftung, 28.01.2010
  4. Furedi Frank: Intensive Parenting, vgl. spiked-online.com
  5. Furedi, Frank: What`s wrong with cheats?
  6. Martin Spiewak: Problemeltern
Leitartikel Meinung
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  1. Pepe sagt:

    Ganz klar sind die Eltern maßgebend. Es gibt halt kein Gen, welches für diszipliniertes Verhalten verantwortlich ist. Dass südostasiatische Kulturen durch Ehrgeiz und Zielstrebigkeit in akademischen Kontexten gekennzeichnet sind, sollte nicht als Hinweis für eine genetische Veranlagung von Tugenden wie Selbstdisziplin und Leistungsmotivation, welche ohne Weiteres den Südost-Asiaten zugeschrieben werden.

  2. Sinan A. sagt:

    Der Artikel ist stark, wenn Sabine Beppler-Spahl ihre persönlichen Erfahrungen schildert. Die decken sich mit dem, was wir alle erleben. Dazu stellt sie die richtigen Fragen. Aber dann, nach dem Konsum von akademischen Fachbeiträgen, die komischerweise meistens ein völlig anderes Bild zeichnen, wirkt der Text wie weich gekocht, von Plädoyer keine Spur. Das Schlusswort mit der These „Migration verantwortlich für die Probleme des deutschen Bildungssystem“ ist dann schon keine akzeptable Grundlage mehr.

  3. Migrantin sagt:

    Ein sehr schöner Artikel! Es ist Zeit, mit dem Thema elterliche Förderung offener umzugehen. Mehr und mehr bekommt man den Eindruck, dass bildungsbürgerliche Eltern „heimlich“ zu Hause ihre Kinder nach dem neuesten Stand zur Hirnforschung fördern und nach außen hin so tun, als ob ihre Kinder zufällig „Wunderkinder“ seien.

    Wie in allen Dingen gilt es aber auch hier Maß zu halten. Wir leben in den USA und hier gibt es Kindertagesstätten, in denen 2-Jährige angehalten werden, den ganzen Tag an Tischen zu sitzen und Worte, Buchstaben und Zahlen zu lernen. 45 min am Tag gibt es „freies Spiel“. Das ist in dieser extremen Form entwicklungspsychologisch natürlich fragwürdig. Allerdings gibt es hier auch alle möglichen anderen Konzepte und Mischformen – man kann es sich aussuchen.
    So kann man hier eigentlich wieder einen Schwung „zurück“ beobachten: Gerade die wohlhabenden Eltern entscheiden sich wieder bewusst für Montessoripädagogik und Waldorfschulen, während es eher die Neueinwanderer sind, die ihre Kinder in stark leistungsorientierte Schulen schicken. Das ist dann genau dieser Kampf nach oben, den Amy Chua bezüglich der neu Eingewanderten beschreibt. Ich denke, dass ein stärker diversifiziertes Angebot, wie es hier existiert, auch in Deutschland Sinn machen würde. Dann können Eltern, die wissen, dass sie zu Hause keine Ressourcen zum fördern haben, diesen Part stärker in die Schule verlagern.