Die Weltwoche
Demokratische Legitimierung von Rassismus? Ohne mich!
Unter der Schlagzeile: „Die Roma kommen: Raubzüge in der Schweiz“ veröffentlichte "Die Weltwoche" ein Foto mit einem verschmutzt wirkenden Jungen, der eine Pistole hält, mit der er direkt auf die Leser zielt. So nicht, schreibt Dirk Stegemann.
Von Dirk Stegemann Dienstag, 17.04.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 20.04.2012, 2:47 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
“Zigeuner ins Gas!”, „Türken unters Messer!”, „Sterbt Zigeuner!“, „Zigeuner zu Suppe“ oder „Zigeuner zu Seife“ brüllten im letzten Jahr Tausende in den Straßen Bulgariens und Tschechiens. Facebook-Gruppen mit Namen wie „Tod Zar Kirov – Auge um Auge, Zahn um Zahn“ mobilisierten zu Anti-Roma-Protesten.
Wie aber u.a. Italien, Frankreich und auch Deutschland zeigen, sind Roma und Sinti nicht nur in den neuen EU-Mitgliedstaaten staatlichen Diskriminierungen und Repressionen ausgesetzt und Pogromen oder Übergriffen ausgeliefert. Ein tief verwurzelter Rassismus gegen Roma ermöglicht es immer wieder, rassistische Stimmung zu schüren und politische Maßnahmen zu rechtfertigen. Auch die Schweizer Weltwoche scheint angesichts der europaweiten Diskriminierung von Roma nicht zurückstehen zu wollen. Unter der Schlagzeile: „Die Roma kommen: Raubzüge in der Schweiz“ war in der Ausgabe 14/2012 ein Foto mit einem verschmutzt wirkenden Jungen zu sehen, der eine Pistole hält, mit der er direkt auf die Leser_innen zielt.
Dass diese Aufnahme aus dem Jahr 2008 und aus dem Kosovo stammt, erfährt man ebenso wenig wie die Tatsache, dass dieses Kind auf einer giftigen Müllkippe aufwachsen muss. Auch, dass nicht nur Kinder von Roma (leider) öfter und gern mit Spielzeugwaffen zu spielen scheinen, bleibt vollkommen ausgeblendet. In diesem Zusammenhang sei auf den anhaltenden Boom von gewaltverherrlichenden PC-Spielen hingewiesen, der bei Kindern allgemein als Ersatz für Spielzeugwaffen um sich greift. Keine Rede auch davon, dass bspw. die meisten kosovarischen Roma vor dem völkerrechtswidrigen NATO-Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 wenn auch nach wie vor diskriminiert in separaten Stadtvierteln, aber zumindest in eigenen Häusern und einem teilweise mäßigen Wohlstand lebten, einen gewissen Bildungsgrad hatten und Berufen aller Bereiche nachgingen.
Nachdem die NATO die UÇK an die Macht gebombt und diese im Zuge ihrer „ethnischen Säuberung“ auch ca. 100.000 Roma vertrieben hatte, machte man wieder einmal aus dem Vorurteil eine faktische Realität. Aus durch Vertreibung und eine rassistische und diskriminierende Politik in vor allem südost- und südeuropäischen Ländern “heimat”- und obdachlos gewordenen und aus Bildungseinrichtungen und vom Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ausgegrenzten Roma wurden erneut „umherziehende“, „arme“, „ungebildete“ und „arbeitsscheue“ „Zigeuner“ gemacht.
Die Wahrheit – nämlich, dass die gegenwärtige soziale Situation mancher Roma durch die sozialen Verhältnisse der sog. Mehrheitsgesellschaften und nicht durch vermeintliche „Eigenschaften“ verursacht ist – wird in populistischer Manier gezielt außen vor gelassen. Ganz zu schweigen von der inzwischen wissenschaftlichen Binsenwahrheit, dass für eine höhere Belastung mit Kriminalität nicht ein wie auch immer gearteter Migrationshintergrund, sondern die soziale Situation maßgeblich ist.
Das Kind auf dem Titelfoto wird also offensichtlich bewusst vom Opfer zum Täter gemacht. Die nachträgliche Legitimierung des Titelfotos als angeblicher Verweis auf den „Missbrauch“ der Kinder durch die Eltern bzw. Clans ist angesichts des reißerischen Titels wenig glaubwürdig. In der Gesamtschau scheint die Weltwoche eine gezielte Verunglimpfung von Roma mindestens in Kauf zu nehmen. Selbst dann, wenn in „gute“ schweizerische Roma und „schlechte“ südosteuropäische bzw. einwandernde Roma mal am Rande unterschieden wird. Diese Unterscheidung erscheint für mich im Gesamtkontext der Artikel eher wie die Vortäuschung einer vermeintlichen Differenzierung, als Rechtfertigungsstrategie vor zu erwartenden Protesten sowie zur Spaltung der Roma untereinander und zur Erhöhung des Anpassungs- bzw. Distanzierungsdruckes auf die einheimischen Roma. Im Zusammenhang mit der Art und Weise des Artikels werden eben nicht Kriminalität und ihre sozialen Ursachen problematisiert, sondern in z.T. eher hetzerisch wirkender Aufmachung die in die Schweiz kommenden Roma. Deshalb meine Anzeige wegen Volksverhetzung. Denn Roma werden in ihrer Eigenschaft „Roma-zu-sein“ zum kriminellen Problem dämonisiert und somit suggestiv „gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe […] zum Hass aufgestachelt“. Damit wird geistige Brandstiftung begangen, die sehr wohl in dem derzeitigen gesellschaftlichen Klima Gewalt- oder Willkürmaßnahmen nach sich ziehen kann, die genau mit dieser faktisch unausweichlichen „Problemlastigkeit“ legitimiert werden könnten.
Kritiker/innen als demokratisches Feigenblatt
„Wir luden die Kläger ein, ihre Argumente in der aktuellen Ausgabe darzulegen, doch die Kritiker lehnten ab. Stattdessen soll die Weltwoche juristisch belangt werden“, so Köppel. Immer wieder wird versucht, rechtspopulistische und rassistische Positionen durch einen vermeintlich demokratischen Meinungsstreit mit Kritikerinnen und Kritikern bzw. Gegnerinnen und Gegnern zu legitimieren. Doch wozu? Letztlich scheint es doch der Weltwoche genauso wenig um eine argumentative Auseinandersetzung zu gehen wie Herrn Köppel, sondern nur darum, rassistischen Positionen einen Anstrich von Normalität und Seriosität zu verleihen. Wer Ängste und Vorurteile aufgreift und schürt sowie soziale bzw. gesamtgesellschaftliche Probleme einer vermeintlichen Herkunft, einer Religion, einer Lebensweise oder einem sozialen Status zuzuschreiben versucht, mag an der Produktion von Sündenböcken interessiert sein, aber kaum am Austausch von Argumenten.
Die Weltwoche versucht offenkundig in ihrer Propaganda gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Indem die „nichtschweizerischen“ Roma pauschal zum vermeintlichen „Problem“ stigmatisiert werden, werden nicht nur weitverbreitete antiziganistische Vorurteile bedient, sondern wird auch noch Migration in die Schweiz im Sinne einer sozial selektiven Einwanderungspolitik suggestiv eingefordert. Mal mehr, mal weniger wird eine scheinbare Rückständigkeit und Kriminalität von Einwanderern aufgezeigt und eine scheinbare Bedrohung der schweizerischen Rechtsordnung durch Migration herbeigeredet. Nicht nur Migration wird, bewusst verkürzend, sozial entkontextualisiert dargestellt, sondern auch die soziale Wirklichkeit vieler Roma, so als sei diese freiwillig gewählt oder gar biologisch vorbestimmt. Es wäre sicher hilfreich, Kriminalität allgemein und natürlich auch bei Roma im Zusammenhang mit Alltagsrassismus, sozialer Ausgrenzung, justizieller Ungleichbehandlung usw. zu untersuchen und zu thematisieren. Doch genau daran haben Köppel und die Weltwoche offensichtlich kein Interesse.
Denn die Titelgeschichte beweist einmal mehr die politische Umorientierung der Weltwoche von einer 1933 als antifaschistisch gestarteten Zeitschrift, weg vom „linksliberalen Mainstream“, wie Chefredakteur Roger Köppel angewidert zur Kenntnis gibt. Die nicht gerade für eine differenzierte Berichterstattung bekannte Weltwoche, ist wohl nunmehr nur noch durch das Verbreiten und Schüren rechtspopulistischer und rassistischer Vorurteile auffällig. Wie auch bei anderen Themen werden gezielt einzelne Informationen ge- und benutzt, um zu dramatisieren und zu emotionalisieren. Es wird getreu dem Prinzip agiert, Inhalte von Kontexten und Differenzierung zu befreien. In diesem Stil wurde schon der Koran mit Hitlers „Mein Kampf“ gleichgesetzt (42/2009) oder über „Schwarze in der Schweiz. Die dunkle Seite der Zuwanderung aus Afrika“ (Ausgabe 46/2010) geschmiert. Dass der Rassist Christoph Blocher von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Gefallen an der Zeitschrift finden dürfte oder auch mal als Informant gedient haben soll, spricht für sich. Umgekehrt, die Werbung der Weltwoche für die SVP bzw. deren Politik auch.
Die Polizei als Teil des Problems, als willkommener Leumund
Der Emotionalisierung des Themas Kriminalität bei Roma und/oder der Bettelei stellen sich auch immer wieder gern Polizeibeamte zur Verfügung, die sich in der Schweiz wie auch in Deutschland bei der Bekämpfung von Rassismus zumeist eher als ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung erweisen. Erinnert sei hier auch an den Mordfall an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Lange Zeit hatte die Polizei Sinti und Roma unter Verdacht. Bei den Rechten wurde nicht ermittelt. Eine Entschuldigung steht bis heute aus.
Nicht nur das faktenfreie Vokabular im Zusammenhang mit Roma wie „kriminelle Banden schwärmen aus“ oder „Blitzkriegern aus dem Ausland gleich fallen sie für ihre Raub- und Beutezüge über die Schweiz her“, sondern auch die historisch völlig unreflektierte Bezeichnung „Zigeuner“, egal ob mit oder ohne Anführungszeichen, zeigt wessen geistigen Kindes die sog. Expertinnen und Experten sowie die Weltwoche sind. Jean-François Cintas, Chef der Abteilung Einbruch bei der Genfer Kantonspolizei, wird in einem Artikel der Ausgabe 14/2012 der Weltwoche (S. 24) unter der pauschalen und kriminalisierenden Überschrift „Sie kommen, klauen und gehen“ zitiert, dass wenn „Sie in Genf zwei junge Zigeuner antreffen, die alleine unterwegs sind, sie zu 99 Prozent -einen Schraubenzieher in der Hosentasche“ haben.
Dass Kriminalhauptkommissar Ludwig vom Betrugsdezernat der Kölner Polizei laut einem weiteren Artikel in der Ausgabe 14/2012 (S. 29) von seinen Kollegen „scherzhaft“ „Zigeuner-Lude“ genannt wird, ist ebenfalls bezeichnend. Seine verkürzte Weltsicht, wonach das eigentliche Problem die kriminellen Banden wie die „Roma-Sippe Lakatosz“ und „Politiker, Richter und Datenschützer sind, […] die das Problem unterschätzen“, wird gern präsentiert. Offenkundig sind für Ludwig genauso wenig die sozialen Verhältnisse das Problem, sondern die Psychologen.
Der Stadtpolizei-Sprecher von Zürich folgt dieser Linie und sieht auch eher in den Bettelnden das Problem als in den Ursachen für das Betteln: „Das Betteln in Zürich soll so unattraktiv wie möglich bleiben, sonst zieht es wohl noch mehr Bettler an.“ Schlimm daran ist, dass Martine Brunschwig Graf, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) in einem Interview, das sie der Weltwoche zu deren inkriminiertem rassistischem Artikel in der Ausgabe 15/2012 (S. 16) gab, auch eher das Betteln und die betroffenen Personen als zu problematisierenden Gegenstand unkommentiert stehen lässt, statt den entsprechenden sozialen Kontext zumindest in die Debatte einzubringen.
Genau diese generelle Trennung des Bettelns vom sozialen Kontext ermöglicht aber nicht nur die pauschale Kriminalisierung der Bettelei sondern auch deren Legitimierung durch Gesetze wie das Bettelverbot, die so wiederum Betroffene von sozialer Ausgrenzung unter Generalverdacht stellen und erst zu „Kriminellen“ abstempeln. Allein sich dann auf die Einhaltung solcher Gesetze zu beziehen, dürfte nichts mit Antidiskriminierung zu tun haben. Deutlich wird daran eins: Ignoranz gegenüber diskriminierten und ausgegrenzten Menschen; Menschen, die gemeinhin als „Unnütze“, „Überflüssige“ oder gar von vielen, in Unkenntnis oder Ignoranz gegenüber der Geschichte, als „Unwerte“ oder „Asoziale“ betrachtet werden. Die eigentlichen Verursacher_innen und Profiteur_innen von Armut und sozialer Ausgrenzung sowie ihren Folgen bleiben dabei wieder einmal außen vor. Aktuell Meinung
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