Lamyas Welt
Und ewig schreckt die Scharia…
Wenn das Wort Scharia fällt, ist bei vielen Menschen die Verunsicherung groß. Nicht ohne Grund. Denn Scharia ist eines der am häufigsten missverstandenen Schlagworte im Islam, schreibt Lamya Kaddor.
Von Lamya Kaddor Freitag, 20.04.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.04.2012, 1:18 Uhr Lesedauer: 12 Minuten |
Ein Begriff in der Debatte um den Islam sorgt bei vielen Menschen seit Jahren für Ungewissheit, um nicht zu sagen für Angst: Scharia!
Wenn dieses Stichwort wie jetzt in der Debatte um die Koran-Verteilungen der Salafisten fällt, schweifen die Gedanken sofort zu Schauergeschichten ab: vom Handabhacken, von Steinigungen, Zwangsverheiratungen, Gewalt gegen Frauen, vom Umgang mit „Ungläubigen“ und anderem mehr. „Scharia und Demokratie – das geht mitnichten zusammen“, meinen die einen. Und da können sie durchaus recht haben. Die Einschätzung hängt nämlich davon ab, was man unter Scharia versteht bzw. was man unter Scharia verstehen will.
Scharia ist eines der am häufigsten missverstandenen Schlagworte und Konzepte im Islam. Nähern wir uns der Scharia in ganz anschaulicher Weise aus Sicht einer Muslima. Der Begriff stammt aus dem Arabischen und bezeichnet zunächst einmal – das heißt in vorislamischer Zeit – ganz plastisch einen Weg, der in der Wüste zu einer Tränke führt. Ihn zu kennen, ist also überlebenswichtig.
Davon ausgehend bezeichnet der Begriff im übertragenen, theologischen Sinn einen Weg durch das Diesseits, der durch die Pforte des Todes geradewegs zu Gott ins Paradies führt. Auch diesen Weg zu finden, ist im Grunde „überlebenswichtig“. Damit einem Mensch dies gelingen kann, hat Gott Hinweise hinterlassen. Diese Hinweise sind seine Gebote, und diese Gebote sind im Koran und in der Sunna niedergelegt. Seine Gebote bestehen wiederum darin, wie sich der Mensch zu verhalten hat – einmal in Bezug auf Gott selbst (Stichwort: Schahada, Gebet etc.) und einmal in Bezug auf die Mitmenschen. Da sich der Islam somit in seiner ursprünglichen Theorie sowohl detailliert mit Glaubensfragen als auch sozialen und politischen Belangen der Gemeinschaft aller Muslime, der Umma, befasst, ist die Scharia religiöses und gesellschaftliches „Recht“ zugleich. Soweit die Theorie.
In der Praxis wird dieser Anspruch nirgends eingelöst. Kein islamischer Staat in Geschichte und Gegenwart, keine islamische Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart fußt allein auf dem Fundament der Scharia – mit Ausnahme derjenigen zu Muhammads Lebzeiten. Jedes andere Staatswesen in der islamischen Welt verfügte und verfügt über ein von Menschen aufgestelltes Rechtssystem aus Zivil- und Strafrecht. Vielfach wird die Scharia nur noch als religiöses Recht und höchstens in bestimmten Bereichen wie etwa in Familienangelegenheiten als Ergänzung herangezogen.
Die Ursache dafür hat nicht unbedingt mit säkularen Weltanschauungen der Staatsregierungen oder sonstigen Überzeugungen zu tun, sondern ist ganz einfach pragmatischer Natur. Die Gebote Gottes zu erkennen, ist nicht immer leicht. Zum einen sind sie häufig nicht eindeutig formuliert, zum anderen werden nicht alle Punkte menschlichen Daseins konkret angesprochen. Man denke etwa an rechtliche Bestimmungen in der Stammzellenforschung oder an so genannte hochspekulative Leerverkäufe in der Finanzwirtschaft. Hier lassen sich weder im Koran noch in der Sunna direkte Hinweise auf die göttliche Beurteilung dieses Verhaltens finden. Wie auch, vor 1.400 Jahren? Als kein Mensch über solche Dinge nachdenken konnte. Weil niemand davon Kenntnis hatte.
Und dennoch glauben wir Muslime, dass Gott uns in Koran und Sunna alles, was wir benötigen, mit auf den Weg gegeben hat. Das ist nicht falsch und auch nicht töricht. Es lassen sich selbst auf Fragen des 21. Jahrhunderts Antworten darin finden. Der Schlüssel dazu liegt in der Interpretation!
Die zentrale Eigenschaft von Interpretation lautet nun: Verschiedene Menschen können zu verschiedenen Erkenntnissen kommen. Genau das ist durch alle Jahrhunderte der Existenz des Islam Realität geworden, wie man in unzähligen Büchern nachlesen kann. Und demzufolge ist die Scharia als Konzept vor allem eines: flexibel. Es gibt keine alleinige, universell gültige Version. Die Scharia ist nicht kodifiziert. Sie ist nicht der festgefügte Gesetzestext, für den sie so viele Menschen halten. Es gibt keine Paragrafen, unter denen man allgemeinverbindlich nachschlagen könnte. Die Scharia ist eine Form, die immer wieder neu befüllt werden muss. Manche Muslime vertreten die Auffassung, die Steinigung sei in bestimmten Fällen ein von Gott gebotenes Verhalten. Für sie ist sie Teil der Scharia. Manche Christen vertreten die Auffassung, Auge um Auge, Zahn um Zahn sei ein von Gott gebotenes Verhalten. Für sie ist dies Teil des christlichen Weges zu Gott. Im Folgenden soll es nun im Detail darum gehen, warum man die Scharia nur als ein solches, offenes System, wie hier beschrieben, verstehen kann.
Wege der Urteilsfindung
Wenn ein Muslim ein „Problem“ im theologischen Sinne hat, das heißt, er will wissen, wie Gott zu diesem oder jenem Verhalten steht, um sich an die Scharia zu halten, dann hat er mehrere Möglichkeiten, zu einer Lösung bzw. zu einem Urteil zu gelangen.
Die erste Quelle der Urteilsfindung ist der Koran und im besten Fall findet er hierin bereits die Antwort auf seine Frage.
Nach muslimischem Verständnis stellt der Koran das direkt an Muhammad überlieferte Wort Gottes dar. Man spricht vom Koran als Inliberation, analog dazu von Jesus im Christentum als Inkarnation Gottes auf Erden. Im Islam ist Gott das gesprochene und anschließend niedergeschriebene Wort, das sich nach der kanonisierten Zusammenstellung durch den dritten Kalifen Uthman im heutigen Koran wiederfindet. Muhammad sollte dieses Wort als „Auserwählter“ (so sein Beiname al-Mustafâ) lediglich verkünden. Der Koran ist leider weitgehend zusammenhangslos angeordnet worden und besteht aus einzelnen Versatzstücken. Zudem erfolgen die Aussagen in den einzelnen Versen überwiegend indirekt, selten sind sie präzise und mitunter sogar rätselhaft. Der Koran ist also alles andere als ein Gesetzbuch im modernen juristischen Sinn. In der Regel findet der Muslim im Koran daher keine klare Antwort auf seine Fragen.
Als zweite Instanz zur Urteilsfindung steht dann die Sunna zur Verfügung. Sie bildet ein riesiges Gerüst an Material über die Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad, an dessen Vorbild sich die Menschen gemäß Koran (z.B. 8/20: „Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und Seinem Gesandten“.) orientieren sollen. Dieses Material wird in sogenannten Hadithen einzeln überliefert.
Bereits früh nach dem Tod des Propheten erkannte man, dass eine Reihe von gefälschten Hadithen im Umlauf war. Viele Aussprüche und Handlungen, die der Prophet angeblich so getätigt haben soll, waren frei erfunden. Das geschah deshalb, da von Hadithen eine große Macht ausging, denn wer wollte – vor allem damals – schon widersprechen, wenn sich jemand auf den Propheten höchst selbst berufen konnte.
Die Muslime entwickelten in der Folge die Hadithwissenschaft, die jede Überlieferung überprüft und anschließend in mindestens drei Kategorien der Authentizität unterteilte: Sahîh (echt), Hasan (gut), Da´îf (schwach).
Aufgrund dieser problematischen Genese der Sunna ist es auch schwierig, in diesem Textkorpus eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der göttlichen Bewertung einer Handlung zu finden. Zudem ist selbstverständlich auch in der Sunna nicht jedes Themengebiet abgedeckt.
Die islamische Rechtsordnung kann daher nicht allein auf dem Koran und der Sunna basieren. Sollten beide nicht zu einer Auskunft bzw. Lösung des Problems führen, so kann man den Qiyâs (Analogieschluss) anwenden. Beispielsweise wurde auf diese Weise das koranische Verbot des Weingenusses auf sämtliche alkoholischen Getränke ausgedehnt.
Verkürzt gesagt, ging man dabei wie folgt vor: Warum ist Wein verboten? Weil er berauscht? Warum berauscht er? Weil er Alkohol enthält. Wenn Alkohol der Grund dafür ist, dass Gott Wein verboten hat, dann muss analog dazu auch alles andere verboten sein, das Alkohol enthält oder berauscht.
Falls auch der Qiyâs immer noch nicht zu einem Urteil führt, kommt das Prinzip des Igmâ´ zur Geltung. Damit ist der Konsens der islamischen Gemeinschaft gemeint, der vor allem auf dem berühmten Hadith gründet: „Meine Gemeinde wird sich nie auf einen Irrtum einigen“.
Anders ausgedrückt heißt dies: Stimmen alle in einer Frage überein, dann ist damit Gottes Wille eruiert worden, dann findet diese Übereinkunft Eingang in die Scharia. Nun gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen darüber, wer sich zu dem Konsens zusammenfinden muss: alle bedeutenden Rechtsgelehrten einer Generation, alle Rechtsgelehrten der ersten und zweiten Generation nach Muhammad, alle islamischen Rechtsgelehrten der Menschheitsgeschichte, alle Muslime einer Generation und so weiter. Aktuell Meinung
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Mit dem Analogieschluss zum Alkoholverbot und der Differenzierung die Erstgültigkeit Koran und Sunna betreffend (auf der arabischen Halbinsel) stößt Frau Kaddor eine interessante Debatte an:
Wie ich aus eigener Erfahrung sage hat der Genuss von alkoholischen Getränken in klimatisch extremen Verhältnissen eine ganz andere Wirkung auf den Körper als in den mitteleuropäischen Breiten.
So weit ich weiß bezog Mohammed seine Kritik auch konkret auf Gläubige, die die Gebete im wahrsten Sinne des Wortes „besoffen“ verrichteten.
Vielleicht könnten die liberalen Muslime diese Interpretation fortführen und dem Muslimen hier in Deutschland ein Feierabendbierchen nicht verwehren.
„Manche Christen vertreten die Auffassung, Auge um Auge, Zahn um Zahn sei ein von Gott gebotenes Verhalten. Für sie ist dies Teil des christlichen Weges zu Gott.“
Na, ist das richtig. Dieser Satz wurde doch wohl durch „Recht/linke Backe“ „abrogiert“. Nicht immer versuchen zu relativieren. Die christliche Geschichte ist finster, die derzeitige christliche Theologie ist es jedoch nicht.
Also ich muss sagen, ich hab den Text geradezu verschlungen und ohne Pause bis zum Ende gelesen. Super verständlich geschrieben. Ich glaube, ich habe zum ersten Mal verstanden, was Scharia ist. Großes Lob an Lamya Kaddor und Danke, Migazin, für diesen Beitrag.
@krause, na, dann frag mal die Fundamentalisten im amerikanischen Bible-belt, wie die zum Thema linke und rechte Backe stehen? Oder frag George W. Bush? Nicht immer versuchen, die eigene Meinung absolut zu setzen. :-)
@ Autorin
Ein sehr guter, interessanter Artikel frau Kaddor.
Aber:
„Manche Muslime vertreten die Auffassung, die Steinigung sei in bestimmten Fällen ein von Gott gebotenes Verhalten. Für sie ist sie Teil der Scharia. Manche Christen vertreten die Auffassung, Auge um Auge, Zahn um Zahn sei ein von Gott gebotenes Verhalten.“
Frau Kaddor, zeigen Sie mir im hier und heute auch nur ein christliche Gesellschaft, die das „Auge um Auge-Zahn um Zahn“ (noch) praktiziert.
Und ich zeige Ihnen dann einige islamische Gesellschaften, wo die Sharia-Strafen wie Handabhacken und Steinigung HEUTE noch sehr wohl praktiziert werden.
Denn dieser (Ihr) Vergleich hinkt gewaltig.
@Anmerkung
Bezüglich klimatische Verhältnisse. Das schwirrt mir auch schon sehr lange im Köpfchen. Alkohol in der Hitze der Wüste zu sich genommen. Absolute Katastrophe! Anfälligkeit von Tierkrankheiten auf engem Raum im Stall in dieser Hitze. Katastrophal höher als in Europa! Selbst in Südeuropa ist es mit dem Metzgerhandwerk nicht weit her. Stichwort: Schweinefleischverbot
Die Menschen in der Wüste konnten jegliches Fleisch nur direkt und frisch zubereiten bzw. verzehren. Stichwort: Schächten und ausbluten lassen. Keine Wälder, keine Möglichkeit Fleisch zu räuchern oder sonst irgendwie haltbar zu machen.
Wann essen die meisten Menschen in südlichen Ländern zu Abend? Im Sommer oftmals erst ab 23 Uhr! Weil es ist im allgemeinen jedem denke ich schon aufgefallen das man in hoher Hitze wenig Apettit hat vor allem auf warme Speisen. Deswegen finde ich auch dieses Fasten – Essensgebot bei den Muslimen im Ramadan so extrem auffällig. Nur wer in hoher Hitze bzw. in der Wüste ohne zu trinken aushalten will wird wohl nicht viel Arbeiten bzw. in dieser Zeit mehr ruhen als sonst etwas tun. Deswegen halte ich es auch nicht für gesund das Muslime in einer Leistungsgesellschaft trotzdem versuchen nichts zu essen und vor allem nichts zu trinken. Bei Sportlern ist das ein schon lange bekanntes Problem.
@Markus Müller
Na so ganz klar ist die Sache doch noch nicht. Manche Dinge sind erklärt bei manchen machen sich aber auch wieder neue Fragen auf.
Auch bei der Wahrheitsfindung mit zuletzt „igma“ sehe ich Probleme weil, was ist wenn sich die Gemeinde irrt?
Es wäre besser die muslimischen Geistlichen würden so ähnliche Zusammenkünfte wie es die Christen gemacht haben abhalten, also Konzile auf denen sie über schwere und leichte strittige Fragen entscheiden was richtig und falsch ist. Ansonsten interpretiert wieder jeder nach seiner Nase. Und wo uns das hinführen kann sieht man ja.
@Krause
Leider ist es mit dem Koran scheinbar umgekehrt. Da folgten die weniger friedlichen Verse auf die friedlichen. Das bedauere ich zutiefst. Und richtig. Was zählt ist die Gegenwart.
@durchdacht
Siehe Irak, Afghanistan, Israel, Somalia, Bosnien, Tschetschenien und und und soll ich noch paar aufzählen. Alles von CHRISTLICHEN MÄCHTEN bekriegte Länder.
Massenmörder der letzten Jahrhunderte: Deutschland, Frankreich, Spanien, ENGLAND, AMERIKA, China, Russland und und und.
Bevor man ahnungslos hier los schreibt erst mal die geschlossenen Augen öffnen. Und bisschen Geschichte lesen. Den Geschichtsunterricht in BRD kannst du vergessen. Zu lückenhaft
Respekt Lamya! Du bist einfach einzigartig klasse!
@AHA
„Es wäre besser die muslimischen Geistlichen würden so ähnliche Zusammenkünfte wie es die Christen gemacht haben abhalten, “ – Also ich halte es für bedenklich, wenn man die Organisationsformen des Katholizismus als vorbildhaft für die ganze Welt betrachtet. Die Katholische Kirche weist aufgrund ihrer Strukturen unfassbare Gräueltaten in ihrer 2000-jährigen Geschichte auf. Und nur weil sie seit ein paar Jahrzehnten vor den weltlichen Herrschern kuscht, ist das System des Vatikan nun wahrlich nicht besser.
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