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Distanzierung

Der „pawlowsche Muslim-Reflex“

Der NSU-Staatsskandal wurde nahezu vollständig aus der medialen und politischen Öffentlichkeit "plötzlich" weggedrängt. Nach nur wenigen Monaten reden wir fast ausschließlich über sog. "Salafisten" und Muslime reagieren so, wie es von ihnen bevormundend erwartet wird.

Von Freitag, 25.05.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 27.04.2015, 16:49 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Über zehn Jahre morden Naziterroristen frei durch Deutschland. Hohe Behörden hatten sogar – jedenfalls mittelbar – „Geheimdienst“-Ausweise für sie ausgestellt. Ermittlungsbehörden diskreditieren die Opfer und ihre Angehörigen mit falschen Verdächtigungen und nehmen letzteren so das Recht auf menschenwürdiges Trauern. Sie verhöhnen gar die Opfer, die fast allesamt türkischen »Migrationshintergrund« haben, mit dem Unwort des Jahres 2011: „Dönermor-de“.

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Ein Staatsskandal sui generis, wie sich sträflich spät, also erst im Jahre 2011, herausstellte. Die insoweit offensichtlichen und eklatanten Ermittlungsdefizite kosteten bisher keinem Führungsermittler den Posten, geschweige denn einem verantwortlichen Minister. Eine kurze Welle der (authentischen) medialen und politischen Empörung – mit Ausnahme einiger CDU-Funktionäre, die stattdessen in einer für sie zu liberalen Einwanderungspolitik nach Entschuldigungsgründen suchten –, und eine vom Bundespräsidenten a. D. Christian Wulff initiierte offizielle Gedenkfeier für die Opfer sollten reichen, um jedenfalls ideell zu entschädigen. Manche sprachen von „Augenwischerei, immerhin“. Eine emotionale Solidarität mit den Opfern und ihren Angehörigen blieb in breiten Teilen der „urdeutschen“ Mehrheitsgesellschaft aus. Dies korrespondiert schließlich – wie Michel Friedmann in einem Fernsehinterview zutreffend konstatierte – mit der mangelnden Handlungssolidarität der Ermittlungsbehör-den.

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Es dauerte nur wenige Monate bis dieser beispiellose Staatsskandal nahezu vollständig aus der medialen und politischen Öffentlichkeit „weggesprengt“ wurde. Und welches Sprengmittel eignete sich dazu am besten: Zurechtgeschmiedete, das „christliche Abendland“ gefährdende „Salafisten“, die – wer oder was auch immer damit gemeint ist – seit der flayermäßigen Verteilung von Koranübersetzungen auf einigen Fußgängerzonen Deutschlands wie auf Knopfdruck die „Tagesthemen“ beherrschen.

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Nicht wenige Muslime springen dem vorgelegten (Ablenkungs-) Knochen reflexartig hinterher und sind fleißig dabei, sich vom „Salafisten“, dem begrifflich neuen, aber substanziell nicht hinreichend ausdifferenzierten Staatsfeind, möglichst scharf zu distanzieren. Politische und mediale Wortschöpfungs- und Deutungshoheiten sowie bevormundend signalisierte Erwartungshaltungen gegenüber Muslimen werden nicht in Frage gestellt. Dies mündet schließlich im permanenten Gefühl der Muslime, einer Buschrhetorik ausgesetzt zu sein: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“.

Vor dem Hintergrund, dass „hohe Behörden bei den Morden durch Neonazis blind waren auf dem rechten Auge“, findet Gesine Schwan es „makaber, dass jetzt plötzlich die Angst in Deutschland vor den Salafisten grassieren muss“.

Gut, dass sie ausspricht, was ausgesprochen werden muss. Muslime scheinen gegenwärtig nämlich verdammt zu sein, sich unermüdlich selbstkritisch um der bevormundend erwarteten Selbstkritik willen vom sog. „Salafisten“ loszusagen. Und die reflexartige aber unreflektierte Selbstkritik als Selbstzweck oder allenfalls als wertloses Glaubwürdigkeitssiegel erfreut sich unter Muslimen immer mehr an Beliebtheit. Pawlow würde sich in seiner Theorie der klassischen Konditionierung vollends bestätigt fühlen. Aktuell Meinung

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  1. Gast sagt:

    @ Kosmopolitan

    Was für Sie Gesülze ist, ist für andere Bürger die Forderung der Grundrechte, wobei diese eindeutig beschnitten werden! Lesen Sie doch mal die Studien über Deutschland und mangelhafte Bewertung der Menschenrechtskonvention (UN-Berichte) und Studien über die Verlierer und am meisten diskriminierten Gruppen zum Thema Migration. Sicher finden Sie hier genug İnformationen darüber. Ländervergleiche bringen nichts, da man über die Ordnung hier spricht, die Sie nach Ihren Aussagen und Argumentationen schliessend wohl ABLEHNEN! Diese Ablehnungsgesellschaft, die selbst bestimmen möchte, wer dazugehört und wer nicht, macht sich dadurch sicher nicht „Cosmopolitan“ :DD

  2. Autor sagt:

    Ich danke Ihnen allen für Ihr Interesse und Ihre Kommentare, die ich mit Interesse und Gewinn gelesen habe. Abschließend noch Folgendes zur Klarstellung:

    Mir geht es im Kern um Verhältnismäßigkeit und eine selbstbestimmte Selbstkritik bzw. Distanzierung, denn schließlich gibt es die sog. „Salafisten“ nicht erst seit der Verteilung von Koranübersetzungen, wie der plötzliche mediale und (innen)politische Vorstoß suggeriert. I.Ü. gibt es „die Salafisten“ als monolithischen Block nicht, insofern ist zunächst eine „verfassungsethische Ausdifferenzierung“ zwingend erforderlich, bevor es zu etwaigen Distanzierungen kommen kann.

    @“Ihr Reflex-Privileg“
    Zunächst danke ich für die sachlichere Kritik in Ihrem zweiten Kommentar. Wie Gesine Schwan stimmt auch mich dieser „plötzliche“ Schwenk zur „Salafisten-Gefahr“ sehr skeptisch. Schwans Meinung ist übrigens genauso klar wie die Meinung Friedmanns, dass es an einer emotionalen Solidarität in der Mehrheitsgesellschaft und an einer Handlungssolidarität bei den Ermittlungsbehörden gefehlt hat. Hier gibt es nichts zu deuteln oder zu „instrumentalisieren“. Ich schließe mich lediglich ihrem Empfinden an.

    Dass es sich bei meiner fallabhängig scharf geäußerten Kritik (über die man gerne streiten darf) und für manche nicht nachvollziehbar gezogenen Verknüpfung insgesamt um eine subjektive Wahrnehmung der Dinge handelt (die ich jedoch mit anderen –etwa den genannten- teile), sollte selbstverständlich sein.

    Mit Blick auf meine Wahrnehmung der Ermittlungsumstände ist anzumerken, dass sich die Kanzlerin für das defizitäre Verhalten der zuständigen Ermittlungsorgane (und zwar für das mangelhafte Ermittlungsverhalten insgesamt und speziell für die „falschen Verdächtigungen“) explizit entschuldigt hat. Eine „Einsicht“!, die große Anerkennung verdient.

    Halit Yozgat, der seinen Sohn durch den NSU-Terror verlor und in der Gedenkfeier zu meiner tiefsten Bewunderung voller Inbrunst bekundete, dass er -trotz der Ermittlungsdefizite in seinem Fall- nach wie vor großes Vertrauen in den deutschen Staat und seiner Institutionen hat, verdient Anerkennung und Beipflichtung!

  3. Ihr Reflex-Privileg? sagt:

    @“Autor“
    „Mit Blick auf meine Wahrnehmung der Ermittlungsumstände ist anzumerken, dass sich die Kanzlerin für das defizitäre Verhalten der zuständigen Ermittlungsorgane (und zwar für das mangelhafte Ermittlungsverhalten insgesamt und speziell für die „falschen Verdächtigungen“) explizit entschuldigt hat. Eine “Einsicht”!, die große Anerkennung verdient.“

    Nein, wieder eine etwas „zu freie“ Auslegung, diesmal der Kanzlerinnen-Worte.[1]
    Diese hat sich – entgegen der von Ihnen hier beschriebenen „Wahrnehmung“ – zu keinem Zeitpunkt für die fehlerhafte Polizeiarbeit entschuldigt oder gar einen rassistischen oder anti-islamischen Hintergrund des Polizei-Versagens eingeräumt.
    Hier geht es um die zunächst berechtigte Eingrenzung der Täter-Vermutung auf türkische Kreise (da gibt es entsprechendes reichhaltiges Erfahrungswissen bezüglich mafiöser, politischer und terroristischer Morde in Deutschland). Von dieser Ermittlungsrichtung wurde allerdings danach nicht mehr ernsthaft abgewichen, obwohl sich diese Theorie nicht hinreichend erhärten ließ und auch als (einzelne) Profiler bereits auf mögliche rechtsextremistische Hintergründe hinwiesen oder z.B. H. Beckstein Untersuchungen in dieser Richtung anregte. Andererseits gab es für so etwas wie die NSU-Morde bislang keine Muster oder ähnliche Fallkonstellationen – mithin keine hohe Ermittlungs-Plausibilität in dieser Richtung. Ex post wissen wir dies nun allerdings alle besser.

    Daß auch die Familien der Opfer kritisch „beleuchtet“ werden, ist in Mordfällen völlig normal und üblich – allein die hierbei gezeigte Robustheit und (mehrjährige) Hartnäckigkeit der Konfrontation mit „Verdächtigung“, angesichts völliger Abwesenheit entsprechender Hinweise oder Indizien, ist über jedliches angemessene Niveau weit hinaus gegangen.

    In diesem(!) Sinne tat die Kanzlerin recht daran, sich für mangelnde Rücksichtnahme auf Opferbelange und die falschen Verdächtigungen zu entschuldigen.

    „Halit Yozgat, der seinen Sohn durch den NSU-Terror verlor und in der Gedenkfeier zu meiner tiefsten Bewunderung voller Inbrunst bekundete, dass er -trotz der Ermittlungsdefizite in seinem Fall- nach wie vor großes Vertrauen in den deutschen Staat und seiner Institutionen hat, verdient Anerkennung und Beipflichtung!“

    100 % Zustimmung.
    Was zeigt, daß H. Yozgat der versöhnlichen Grundidee des Zusammenlebens näher steht als andere, die auf diesem Fall wie auch immer geartete politische Süppchen kochen wollen.

    [1] http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2012/02/2012-02-23-bkin-gedenkveranstaltung.html;jsessionid=C478C24F0F0A875BE8B7A83DD1A545BC.s3t2