Zwickauer Zelle
Im Untergrund, aber nicht allein
Schon lange vor ihrem Abtauchen war die Radikalisierung der "Zwickauer Zelle“ offensichtlich. Im Untergrund konnte sie auf die Unterstützung eines bundesweiten braunen Netzwerks bauen – weitgehend unbehelligt.
Von Andrea Röpke Freitag, 15.06.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.06.2022, 22:18 Uhr Lesedauer: 17 Minuten |
Bett, Waschbecken und Toilette, rechts von der Tür. Die Zelle ist etwa zehn Quadratmeter groß. Persönliche Gegenstände sind nicht erkennbar. Durch das kleine vergitterte Fenster ist eine Kontaktaufnahme zur Nachbarzelle theoretisch möglich, diese Möglichkeit wird von der Justizvollzugsanstalt Köln toleriert. Denn die Insassin Beate Zschäpe befindet sich in Einzelhaft, aber nicht in Isolationshaft. Ende November 2011 wurde sie von Sachsen nach Nordrhein-Westfalen verlegt. Seitdem verbringt sie täglich 23 Stunden in ihrer Zelle. Sie sei „abgespannt, ermüdet und gereizt“, klagen ihre Anwälte. Zschäpe wird nur hinaus oder hinein gebracht, wenn sich sämtliche anderen Gefangenen in ihren Zellen befinden. Sie gilt als gefährdet, aber auch als „abgeklärt“. Die 37-Jährige redet meistens nur mit ihren beiden Verteidigern. Besuch bekommt sie kaum. Bei ihrer Einlieferung bestand sie sofort auf den Fernseher, der ihr „von Rechtswegen“ zustünde. Auch bemängelte sie, dass die Zelle „recht kalt“ sei, sie bekam eine wärmere zugeteilt. Beate Zschäpe, geborene Apel, hat 13 Jahre lang im Verborgenen gelebt. Im Herbst muss sie sich als mutmaßliche Rechtsterroristin vor dem Bundesgerichtshof verantworten.
Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe wirft ihr vor, gemeinsam mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 1998 die rechtsterroristische Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gegründet zu haben. Dieser werden nach derzeitigem Ermittlungsstand unter anderem neun Morde an Kleinunternehmern türkischer und griechischer Herkunft in mehreren deutschen Städten zwischen 2000 und 2006 sowie der Mord an einer Polizeibeamtin im April 2007 in Heilbronn zugerechnet. Die rassistisch motivierten Terroristen suchten ihre Opfer nach Informationen von „Der Spiegel“ vor allem nach bestimmten Kriterien aus. Sie konzentrierten sich demnach auf „unarische“ Männer im zeugungsfähigen Alter.
Als mutmaßliches Mitglied der „Zwickauer Terrorzelle“ soll Zschäpe für die Bildung einer terroristischen Vereinigung und besonders schwerer Brandstiftung angeklagt werden. Nach dem Tod ihrer beiden Mitstreiter am 4. November 2011 in Eisenach befand sie sich vier Tage lang quer durch die Republik auf der Flucht. Dann stellte sie sich mit den Worten: „Ich bin die, die sie suchen“ auf einer Polizeiwache ihrer Heimatstadt Jena. Seitdem schweigt sie.
Novembertage 2011
Schwer bewaffnet hatten sich die beiden Neonazis Böhnhardt und Mundlos am Vormittag des 4. November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach in einem angemieteten Wohnmobil verschanzt, als die Polizei anrückte. Beide wurden kurze Zeit später mit Kopfschüssen tot aufgefunden, die Ermittler gehen von Selbstmord aus. Beate Zschäpe hörte in ihrer Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße vom Tod der beiden Männer. Gegen 15 Uhr brachte sie dann ihre beiden Katzen Heidi und Lilly in Körben zur Nachbarin und setzte das Obergeschoss des Hauses, in dem das Trio seit vier Jahren lebte, in Brand. Eine 83-jährige Hausbewohnerin fiel den Flammen beinahe zum Opfer. Zschäpe floh zu Fuß in Richtung der Bahngleise nach Osten. Kurz vor halb vier rief sie mit ihrem roten Mobiltelefon einen engen Vertrauten an: Andre E., der als Komplize der „Zwickauer Terrorzelle“ inzwischen auch in Untersuchungshaft sitzt. Gemeinsam mit seiner Ehefrau stellte er der NSU nicht nur Pässe und Ausweise zur Verfügung, sondern besuchte sie auch oft mit seinen beiden kleinen Söhnen. Auf Fotos posieren Susann E. und Beate Zschäpe lachend in AC/DC-Shirts. Im Gegensatz zu anderen Zwickauer Bekannten schien die Freundin Susann E. über die reale Identität Zschäpe sehr wohl aufgeklärt zu sein. Das Ehepaar war Teil eines braunen Unterstützer-Netzwerkes mit dessen Hilfe der NSU operieren konnte. Auf der Flucht entsorgte Zschäpe ihr Handy und machte sich auf den Weg nach Eisenach. Am kommenden Tag wurde sie in der Nähe des Fundortes der Leichen ihrer „Kameraden“ gesehen. Nach jahrelanger Funkstille rief sie die Eltern von Mundlos und Böhnhardt an, um sie kurz und knapp über den Tod ihrer Söhne zu informieren, stellte sich dabei als „Uwes Beate“ vor. Den Eltern von Uwe Böhnhardt sagte sie Recherchen des Norddeutschen Rundfunks zufolge noch, dass sie sich nicht stellen, sondern weggehen wolle. Dann legte sie auf. Die Böhnhardts hatten ihren Sohn und seine Freunde bis 2002 noch heimlich getroffen, dann war auch der letzte familiäre Kontakt des Trios abgerissen. Mit einem Bahnticket, auf dem handschriftlich „Susann E.“ eingetragen war, fuhr Zschäpe über Hannover nach Bremen. Warum sie ausgerechnet den Fluchtweg nach Norddeutschland einschlug, ist unklar. In Bremen war sie am 6. November gegen vier Uhr nachts, am frühen Morgen danach erreichte sie Braunschweig. Dort habe sie sich etwas länger aufgehalten, wird sie später bei ihrer Festnahme sagen. Unklar ist bisher, ob sie jemanden traf. Immerhin wohnen in Niedersachsen einige Bekannte des Trios. Auf dem Rückweg nach Thüringen fuhr Zschäpe über Magdeburg und Halle an der Saale.
Kurze Zeit später fanden Personenspürhunde der Polizei, sogenannte bloodhounds, Spuren von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt unmittelbar in der Nähe des Wohnhauses eines Bundesvorstandsmitgliedes der NPD in Eisenach. Sie kannten sich von früher. Eine Zeugin sagte aus, die flüchtige Frau einen Tag vor dem Banküberfall in der Stadt ebenfalls in der Nähe der Wohnung des NPD-Mannes gesehen zu haben. Vieles ist bisher ungeklärt; so auch die Frage, inwieweit Beate Zschäpe in die Morde, Anschläge und über ein Dutzend Banküberfälle direkt involviert war.
Unauffällige Frau von nebenan
„Es ist durchaus denkbar, dass der Gruppe noch weitere Straftaten zuzurechnen sind“, räumte Generalbundesanwalt Harald Range bei einer Pressekonferenz am 1. Dezember 2011 in Karlsruhe ein. Auch der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, konstatierte: „Noch gibt es zahlreiche Lücken.“ Daran hat sich nicht viel geändert. Vor allem Zschäpe gibt Rätsel auf. Sie gilt als „durchsetzungsfähig“ und betont bei einer ersten Vernehmung, Mundlos und Böhnhardt hätten sie nie zu etwas gezwungen. Den inzwischen fünf weiteren festgenommenen mutmaßlichen Unterstützern der Terrorzelle soll sie sogar angeblich die Order weitergeleitet haben, den Mund zu halten. Während ihrer Zeit im Verborgenen wurden Komplizen von dem Trio immer wieder misstrauisch „gecheckt“, aber auch mit Geld und Urlauben belohnt. Zschäpe soll dabei für die finanziellen Angelegenheiten zuständig gewesen sein. „Sie hatte das Geld“, erinnern sich auch Urlaubsbekanntschaften.
Gleich nach ihrer Festnahme machten viele Medien Beate Zschäpe vor allem als „gefährliche Mitläuferin“ aus, für „Bild“ war sie ein „heißer Feger“. Schnell wurden gängige Klischees von der vermeintlich friedliebenden Weiblichkeit und der unpolitischen Frau vermischt. Lässt sich die Militanz einer Frau wie Beate Zschäpe nicht leugnen, gilt sie in der Öffentlichkeit bald als sexuelles Anhängsel. Die rechtsextreme Täterin wird als „Nazi-Braut“ verharmlost. Einer jungen Frau werden politisch motivierte Verbrechen offenbar kaum zugetraut. Daher war die Tarnung des NSU wohl auch vor allem ihr Verdienst. Sie nannte sich Susann, Liese oder Silvia, nutzte Pässe, Krankenkassenkarten oder Bahnausweise von Unterstützern und ungekannten Frauen, hielt einen netten Plausch am Gartenzaun oder freundete sich mit alleinstehenden Müttern an. Sie trank und feierte, während Mundlos und Böhnhardt abends lieber auch noch am Computer um sich schossen oder fanatisch Sport trieben. Doch als Zschäpe in Sachsen die unauffällige Frau von nebenan spielte, waren bereits acht mittelständische türkischstämmige Unternehmer sowie der griechischstämmige Mitinhaber eines Schlüsseldienstes mit einer Ceska, Kaliber sieben Millimeter, von der Terrorzelle regelrecht hingerichtet worden. Keine Spur führte nach Zwickau. In den Trümmern des Hauses in der Frühlingsstraße wurde später auch die Tatwaffe zum Mord an der jungen Polizistin 2007 in Heilbronn gefunden. Das Trio hortete ein regelrechtes Waffenarsenal. Mit zahlreichen Banküberfällen finanzierten sie offenbar ein luxuriöses Leben, richteten ein Fitnessstudio ein und verbrachten mehrwöchige Urlaube an Nord- und Ostsee. Auch gaben sie engen Komplizen Geld zur Aufbewahrung. So soll nicht nur Holger G. aus Lauenau 10.000 Euro erhalten haben, sondern auch der ehemalige stellvertretende NPD-Landeschef Ralf Wohlleben aus Jena.
Radikalisierung im braunen Netz
Bis 2003 prangte Beate Zschäpes Foto auf Fahndungsplakaten. Als „Bombenbastler von Jena“ wurden sie und ihre beiden „Kameraden“ seit 1998 gesucht. Vier vorbereitete Rohrbomben, 1,4 Kilogramm TNT und diverses Propagandamaterial wurden in einer von Zschäpe angemieteten Garage im Stadtteil Burgau sichergestellt. Bei ihrer Festnahme im November 2011 redete sie nur wenig, doch sie betonte, dass Böhnhardt und Mundlos ihre Familie gewesen seien. Sie sagte auch aus, dass die beiden Uwes im Gegensatz zu ihr aus einem „behüteten Elternhaus“ stammten. Sie selbst wuchs in unsicheren Verhältnissen auf: Ihre alleinerziehende Mutter studierte in Rumänien, war selten beim Kind. Den Vater, einen rumänischen Zahnarzt aus Nordrhein-Westfalen, lernte sie nie kennen. Nach der zehnten Klasse, im Juni 1991, verließ Zschäpe die Staatliche Regelschule Johann Wolfgang von Goethe, arbeitete zunächst als Malergehilfin und absolvierte später eine Ausbildung in einem Gartenbaubetrieb. In der Nachbarschaft ihres Plattenbauviertels Jena-Winzerla schloss sie sich der rechtsextremen Jugendclique „Winzer-Clan“ an und lernte Uwe Mundlos kennen. Ein Foto von 1991 zeigt den damals 17-jährigen Professorensohn in typischer rechter Szenekleidung mit Springerstiefeln, umgekrempelten Jeans und schwarz-rot-goldenen Hosenträgern. Mundlos und seine Freunde dominierten den Jugendtreff des Viertels, schon jetzt kristallisierte sich die Kerntruppe der späteren „Kameradschaft Jena“ heraus: Ralf Wohlleben, Andre Kapke, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und der später ebenfalls inhaftierte NSU-Unterstützer Holger G. Die Kameradschaft fand bald Anschluss an den „Thüringischen Heimatschutz“ und nahm seit 1995 regelmäßig an Treffen der „Anti-Antifa Ostthüringen“ teil, welche sich als ein „Organ der Feindbeobachtung“ verstand.
Dem Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen dürfte die schleichende Radikalisierung innerhalb des Jenaer Kameradschaftsspektrums nicht entgangen sein. Auch Zschäpe galt früh als überzeugte Neonazistin, die auch schon mal zulangte. Gemeinsam hatte das Trio an zahlreichen überregionalen Aufmärschen und Aktionen teilgenommen. Es war wohl auch kein Zufall, dass die beiden Männer 1996 gemeinsam mit den Jenaer Anführern Wohlleben und Kapke zu einem Prozess gegen den Rechtsterroristen Manfred Roeder fuhren, um zu protestierten. Roeders „Deutsche Aktionsgruppen“ wurden seit 1980 für mehrere Sprengstoffanschläge auf Ausstellungen, eine Schule sowie eine Flüchtlingsstelle verantwortlicht gemacht.
Die umtriebigen Jenaer Neonazis Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hatten sich von den saufenden und grölenden Skinhead-Kameraden aus dem Plattenbauviertel längst entfernt. Auch regionale Anführer wie Wohlleben und Kapke reichten nicht mehr als politische Inputgeber aus: Nach und nach hatte insbesondere Uwe Mundlos Kontakte unter anderem nach Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bayern, in den Norden und vor allem nach Sachsen aufgebaut. Sie waren Überzeugungstäter in einem rechtsextremen Netzwerk. Immer wieder wurde in Jenaer Neonazi-Kreisen auch die Gewaltfrage diskutiert. Während sich Anführer wie der spätere stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Wohlleben zögerlich gegenüber einer Bewaffnung gezeigt haben sollen, tendierte das Trio offen dorthin. Sie befanden sich früh auf der Stufe zu Rechtsterroristen, so ein ehemaliger Weggefährte. Zwischen 1997 und 1998 tauchten mehrere Kofferbomben im Raum Jena auf, abgestellt an öffentlichen Orten. Vor allem Böhnhardt geriet ins Visier der polizeilichen Fahnder.
Als militante Neonazis aus Gera 1997 begannen, mit einer Organisation namens „White Youth“ Nachwuchs für das Netzwerk „Blood & Honour“ (B&H) zu rekrutieren, zählten die drei Jenaer bereits zum Umfeld. Gegründet wurde B&H zehn Jahre zuvor in Großbritannien vom Sänger der Skinband „Skrewdriver“. Rasch breitete sich ein klandestines Netz militanter Neonazis in Europa aus, 1994 wurde die deutsche Sektion gegründet. Mit einschlägiger Musik und konspirativen Konzerten ließ sich viel Geld verdienen. Doch den Anführern ging es um weit mehr: 1998 hieß es auf einem B&H-Deutschlandtreffen, man wolle die „Patrioten“ einen, „nicht nur in der Musik, sondern im Kampf“, denn „Wir sind mehr als eine Musikbewegung!“. Entsprechend war in einem der geheimen Szene-Texte zu lesen: „Die Patrioten von heute müssen auf den größten aller Kriege den Rassenkrieg vorbereiten, und dafür muss man geheime Strukturen schaffen und bereit sein, sein Leben zu opfern.“
Euphorisch verehrt wurde zu dieser Zeit die baden-württembergische Band „Noie Werte“, die als eine der ersten Kontakte zur britischen Szene um „Skrewdriver“ geknüpft hatte. Auf die NSU-Terroristen muss die Gruppe starken Eindruck gemacht haben, denn sie wählten die in der Szene sehr beliebten Songs „Kraft für Deutschland“ und „Am Puls der Zeit“ als Begleitmusik für ihr 2001 entstandenes Bekennervideo zu den ersten vier Morden und einem Sprengstoffanschlag in Köln.
Die Szene, in der sich Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos bewegten, zunächst noch in Thüringen, nach der Flucht 1998 in Sachsen, war durchaus impulsgebend für „die Bewegung“ – sie rüstete auf für den „Krieg gegen das System“. In Großbritannien hatte sich bereits ein terroristischer B&H-Ableger namens „Combat 18“ (C18) gebildet. Konzeptionell strebte C18 danach, Divisionen in diversen europäischen Ländern aufzubauen. Die Organisation galt als bewaffneter Arm von B&H, intern auch als Konkurrenz. Erklärtes Ziel war es, „Furcht und Terror unter den Feinden zu verbreiten“. Kurz bevor der NSU mit dem Morden begann, wurden bereits einige andere europäische Länder von gewalttätigen Aktionen der militanten Szene erschüttert. 1999 verübten neonazistische Attentäter aus dem C18-Umfeld mehrere Bombenanschläge in England mit vielen Opfern; in Schweden gab es eine Reihe von Banküberfällen, zwei Polizisten wurden dabei in der Nähe von Malexander erschossen. Im selben Jahr wurden ein Journalist und dessen achtjähriger Sohn bei einem Bombenanschlag auf ihr Auto schwer verletzt. Im Oktober 1999 starb der Gewerkschafter Björn Söderberg, kaltblütig hingerichtet von Neonazis. Auf dem Ende 2011 im Zwickauer Brandschutt aufgefundenen Rechner der deutschen NSU-Mörder fanden sich auch Videosequenzen von rechten Gedenkaufmärschen in Dänemark und Schweden.
Das Trio schien bereits zu Jenaer Zeiten, noch bevor es in den Untergrund ging, unzählige Insider-Schriften und Strategiepapiere verschlungen zu haben. Bei den Hausdurchsuchungen 1998 fanden sich zahlreiche Hardcore-Hefte wie etwa „Der weiße Wolf – Rundbrief inhaftierter Kameraden der Justizvollzugsanstalt Brandenburg“ und viele weitere Materialien, die eindeutige Hinweise auf die Radikalisierung und Vernetzung des NSU lieferten. Darunter befand sich zum Beispiel auch die Neonazi-Postille „Hamburger Sturm“, zu deren Machern der heute führende NPD-Drahtzieher Torben Klebe zählte. In den gefundenen Heften wurde zum Teil offen zur Anwendung von Gewalt aufgerufen: „Man darf nicht vergessen, dass wir im Krieg sind mit diesem System und da gehen nun mal einige Bullen oder sonstige Feinde drauf.“
Unbehelligt in den Untergrund
Als Beamte des Landeskriminalamtes in Thüringen Ende Januar 1998 die Wohnungen von Beate Zschäpe und Uwe Mundlos aufbrachen sowie von Uwe Böhnhardts Mutter in das Zimmer ihres Sohnes vorgelassen wurden, offenbarte sich ihnen eine Welt neonazistischer Fanatiker. Eine Reihe von Bombenattrappen in der Region um Jena hatte sie zur Sprengstoffwerkstatt und dem braunen Innenleben des Trios geführt. Schnell war klar: Das waren keine harmlosen Mitläufer. Diese drei waren ideologisch gefestigt und gefährlich kreativ. In Beate Zschäpes Wohnung, im sechsten Stock eines Hochhauses, wunderten sich die Polizisten nicht nur über das Wanddekor über der Wohnzimmercouch (Armbrust, Pistole, Wurfstern, Macheten und ein Gewehr) – neben Bildern, die das „Dritte Reich“ verherrlichen, fanden sie auch ein handgefertigtes Brettspiel mit der Bezeichnung: „Pogromly“, eine Art antisemitisches Monopoly.
Mit dem Anrücken der Polizei verschwanden die Verdächtigen. Erst zwei Tage später, am 28. Januar 1998, wurden Haftbefehle erlassen. Zeit genug zum Abtauchen für Neonazis, die sich längst mit solch einem Szenario beschäftigt hatten. Sie schienen es geradezu darauf angelegt zu haben. Immerhin waren sie Teil einer Neonazi-Szene, die in den 1990er Jahren hochexplosiv war. Die drei hatten sich vor ihrem Verschwinden aus Jena nicht einmal Mühe gegeben, Spuren zu verwischen. So hätten die Beamten bereits 1998 Anzeichen für ein bundesweit gut vernetztes, ideologisch geschultes, überaus radikales Tätertrio erkennen können. Den damals noch sehr jungen Neonazis war es nicht nur gelungen, genug TNT für mehrere Bomben zu besorgen, sie verfügten auch über Kontakte in ein militantes Unterstützerspektrum. Auch die Wahl der Fluchtorte in den folgenden Jahren, Chemnitz und Zwickau, schien kein Zufall zu sein. Sie bezogen Waffen über den wohl bekanntesten thüringischen Neonazi, Ralf Wohlleben, den bekannten Jenaer Szene-Laden „Madley“ und Connections in Sachsen. Immer wieder wurden sie nach ihrer Flucht auch in Thüringen gesehen. Im Mai 1999 erhielt die Polizeiinspektion Eisenberg beispielsweise einen Hinweis, dass Uwe Böhnhardt sich mehrfach bei privaten Partys in Rudolstadt-Schwarza aufhalten sollte. Mehrmals traf er sich in den ersten Jahren mit seinen Eltern. Zudem scheinen viele frühe, wertvolle Hinweise in den Asservatenkammern der Polizei verstaubt zu sein. Allein eine damals beschlagnahmte Telefonliste, die Uwe Mundlos zugeordnet wird, liest sich wie ein Who-is-who der Fluchtunterstützer.
Und doch konnte es Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gelingen, unterzutauchen und in nur hundert Kilometer Entfernung die radikale Ideologie zu einer beispiellosen Mord- und Anschlagsserie auszubauen. Dabei hätten Alarmsignale wahrgenommen werden können. Nicht nur, dass neben den thüringischen Geheimdienstinformanten auch ein V-Mann aus Brandenburg behördenintern vor dem Fluchtziel „Raum Chemnitz“ warnte, sondern tatsächlich sozialisierten bzw. radikalisierten sich die drei Neonazis mitten unter „Kameraden“ und „Kameradinnen“ in einer Zeit, die von zahlreichen Anschlägen auf „Ausländer“ und „Fremde“ geprägt war. Die 1990er Jahre waren gekennzeichnet von einer Aufrüstung der Szene: Sprengstoff- und Waffenfunde gab es bei diversen Gruppen. Auch im Jahr 2000 hatten sich die Funde von Waffen, Munition und Sprengstoff im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Mindestens 15 Homepages mit Bombenbauanleitungen wurden entdeckt, und zwischen 1999 und 2002 gab es 178 Funde von hochexplosivem Material und Brandvorrichtungen bei Neonazis. Und doch schien die wachsende Militanz von den beobachtenden Geheimdiensten nicht allzu ernst genommen zu werden. Immer wieder wurden bewaffnete Neonazis auch von der Polizei als subkulturell geprägte Einzeltäter abgetan. In einem 2004 gefertigten geheimen Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtextremisten“ wurde nur vor einem möglichen „Feierabendterrorismus“ gewarnt.
Gleich nach der Flucht erhielten die „Bombenbastler“ Hilfe von der B&H-Sektion Sachsen, obwohl ausgerechnet diese wegen illegaler Musikproduktionen und zunehmender Militanz seit 1998 bis zum Verbot der Blut-und-Ehre-Strukturen unter besonderer Beobachtung stand. Dennoch gelang es, das Trio bei „Kameraden“ unterzubringen. Sogar Waffen sollten besorgt werden. Wie von unsichtbaren ideologischen Fäden dirigiert, handelte der NSU ab 1999 nach der Szene-Parole „Taten statt Worte“. Indizien weisen heute darauf hin, dass auch die eigene politische Szene verstärkt mobilisiert werden sollte. So heißt es zum Beispiel im Asservat „NSU Brief.cdr“ vom März 2002, das auf einem Computer in den Resten des Zwickauer Hauses sichergestellt werden konnte: „Jeder Kamerad ist gefragt! Auch du!! Gib dein bestes – Worte sind genug gewechselt, nur mit Taten kann ihnen Nachdruck verliehen werden.“ Weiter wird darin betont, dass der NSU „keine abstrakte Sache“ sei, denn „jeder Kamerad gehört dazu, sofern er den Mut findet zu handeln und seinen Beitrag zu leisten“. Schließlich wird noch darauf hingewiesen, dass der „Erfolg“ in Zukunft „auch von deinem Verhalten“ abhänge, eine Verbreitung des Schreibens sei erwünscht.
Das frühe, intensive Studium konspirativer Schriften spricht für die These, dass der NSU nicht autark handelte. Ob über das Netzwerk des „Thüringischen Heimatschutzes“, das von „Blood & Honour“ oder über die internationalen Strukturen der elitären „Hammerskins“ – es ist durchaus denkbar, dass sich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bemühten, langfristig die größtmöglichste Anerkennung innerhalb eines konspirativen Milieus zu sichern. Immerhin hieß es schon in einem der B&H-Papiere wohlweislich: „Diese einsamen weißen Wölfe müssen respektiert und allein gelassen werden, um die schlimmsten Feinde unserer Rasse zu verfolgen. Sie erwarten keine Unterstützung und Hilfe, aber sie verdienen Anerkennung und Verständnis“.
Beate Zschäpe, Untersuchungsgefangene 4876/11/3 in Köln-Ossendorf, schweigt zu den Vorwürfen gegen sie. Doch bei Haftvorführungen erzählt sie schon mal davon, dass echte Freundschaften im Untergrund nicht möglich gewesen seien und dass sie zuletzt gar nicht mehr auf ihren richtigen Namen gehört habe. Berechnend klingt dagegen die Ankündigung, sie habe sich nicht gestellt, um nicht auszusagen. Leitartikel Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- AfD beschließt „Remigration“ Abschiebung von „Personengruppen mit schwach…
- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Spurwechsel ermöglichen Migrationsexperte fordert Bleiberecht für arbeitende…
- Bundesverwaltungsgericht Geflüchtete dürfen nach Italien abgeschoben werden
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln