Viel Lärm um eine Stück Haut
Die Beschneidung ist keine Verstümmelung und sollte nicht verboten werden!
Für Necla Kelek ist die Beschneidung muslimischer Jungen eine ebenso abscheuliche archaische Sitte wie die Genitalverstümmelung bei kleinen Mädchen. Doch dieser Vergleich hinkt. Ob Frau Kelek keine besseren Argumente hat?
Von Sabine Beppler-Spahl Montag, 02.07.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 21.06.2013, 14:35 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Das Landgericht Köln sprach am 7. Mai 2012 in zweiter Instanz ein Urteil, nach dem die Beschneidung von Jungen (Zirkumzision) aus religiösen Motiven eine rechtswidrige Körperverletzung ist. Entscheidend, so das Gericht, sei das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Konkurrierende Rechtsgüter, wie das Recht der Eltern auf Religions- und Erziehungsfreiheit, hätten dagegen zurückzutreten.
Dieses Urteil ist ein Skandal und sollte von allen freiheitsliebenden Eltern abgelehnt werden, ob sie Muslime, Juden oder Atheisten sind. Es hat wenig mit der Praxis der Beschneidung zu tun. Viel dagegen mit dem Elternrecht, ihre Kinder in den eigenen Glauben einzuführen.
Zu viel Unfug ist im Zuge dieses Gerichtsurteils über die Praxis des Beschneidens geschrieben worden, als dass es zur Aufklärung und als Vorbild dienen könnte. Da ist z.B. die Frage der Körperverletzung des Kindes. Hierzu schreibt Necla Kelec „Die Beschneidung muslimischer Jungen ist eine ebenso abscheuliche archaische Sitte wie die Genitalverstümmelung bei kleinen Mädchen. Sie ist ein Unterdrückungsinstrument und gehört geächtet“. Dies ist eine Behauptung, die allen Kenntnissen der menschlichen Anatomie widerspricht.
Bei der Beschneidung von Mädchen (Female Genital Cutting, FGC), auch Genitalverstümmelung genannt, werden die äußeren Geschlechtsorgane teilweise oder ganz entfernt. Es handelt sich hierbei, wie der Name sagt, um eine Verstümmelung mit ernsten Nebenwirkungen wie schwere Blutungen, Entzündungen, Unfruchtbarkeit oder Harnwegsinfektionen. Ein vergleichbarer Eingriff bei einem Mann wäre die Entfernung eines ganzen Stücks des Penis. Die männliche Beschneidung (Zirkumzision), um die es hier geht, ist jedoch nichts anderes, als die Entfernung der Vorhaut. Statistisch gesehen ist es ein sehr sicherer Eingriff, bei dem es selten zu Komplikationen kommt. (Gelegentlich kommt es zu geringen Blutungen oder lokalen Infektionen wie im Falle des Jungen, um den es im Kölner Urteil ging).
Ich bin mir sicher, dass Frau Kelek diesen Unterschied kennt. Doch indem sie den Vergleich zur Genitalverstümmelung bei Mädchen zieht, versucht sie, ihre eigene ablehnende Meinung über Beschneidung und über muslimische Praktiken moralisch zu untermauern. Fiele ihr eine Kritik ohne diesen Vergleich schwer? Warum sagt sie nicht einfach, dass sie diese Praxis ablehnt (was ihr gutes Recht wäre)? Doch statt ehrlich zu sein, versucht sie Hunderttausende von Eltern und ganze Generationen von Familien kurzerhand zu Kindesverstümmlern zu machen.
Der eigentliche Skandal ist, dass offensichtlich auch ein deutsches Gericht die Unterscheidung zwischen einem relativ geringfügigen körperlichen Eingriff und einer Verstümmelung nicht macht. Das ist umso unverständlicher, da hier eine Praxis zur Straftat erklärt wird, die für viele Muslime und Juden von so zentraler, konstitutiver Bedeutung ist. Hat das Recht auf Religionsfreiheit, auch und gerade für Minderheiten, das als Königsrecht aller freiheitlichen Gesellschaften gilt, keinen Bestand mehr? Wo bleibt die Toleranz und der Schutz vor der „Tyrannei der Mehrheit“ (John Stuart Mill)? Nicht nur historisch betrachtet darf der Schutz der Religionsfreiheit für Minderheiten als konstitutives Recht, aus dem alle anderen Freiheitsrechte folgen, betrachtet werden. Deswegen muss ein Gericht bei einem Urteilsspruch auch dessen Folgen bedenken und sich die Frage gefallen lassen, ob diese mit den Grundsätzen einer freiheitlichen Gesellschaft vereinbar sind. In diesem speziellen Falle sind sie es nicht, da die Zirkumzision, anders als die Genitalverstümmelung, die Gesundheit eines anderen nicht beeinträchtigt.
Tatsächlich geht es bei dieser Debatte vor allem um die Frage, wie viel Freiheit wir muslimischen, jüdischen oder sonstigen Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zugestehen möchten. Deshalb hat dieses Gerichtsurteil weit mehr Bedeutung, als zunächst erscheinen mag.
Natürlich – hier haben die Kritiker recht – bestimmen bei der Beschneidung die Eltern über einen Aspekt des kindlichen Körpers. Doch das Eltern-Kind Verhältnis, setzt nun einmal voraus, dass Väter oder Mütter permanent über das Leben (und auch die Gesundheit) ihrer Kinder Entscheidungen treffen. So hat eine Freundin von mir vor vielen Jahren beschlossen, einen kleinen Auswuchs am Daumen der linken Hand ihrer Tochter operativ entfernen zu lassen. Ein Freund entschied, dass ein Muttermal bei seinem Sohn entfernt werden solle. Wer käme auf den Gedanken, das Ohrlöcherstechen sei eine Misshandlung?
Oft treffen Eltern Entscheidungen, die das Leben eines Kinder deutlich stärker beeinflussen, als ein kleiner, operativer Eingriff. So lassen sich Eltern scheiden oder sie wechseln den Wohnort. Manche Eltern entschließen sich sogar, ihre Kinder nicht impfen zu lassen (was die Gesundheit des Nachwuchses weit mehr beeinträchtigen kann als eine Beschneidung). Warum also wird hier ausgerechnet die Beschneidung geächtet, die meist nur einen kurzen Moment im Leben eines Kindes ausmacht?
Es gibt viele Gründe, warum Eltern ihre Kinder beschneiden lassen. Manche tun dies aus religiösen Gründen, andere, weil es die Tradition so will oder weil die Zirkumzision als gesundheitlich vorteilhaft gilt. Noch in den 60er Jahren wurden in den USA 90% aller Jungen beschnitten, heute ist es ungefähr die Hälfte. Doch plötzlich sollen sie alle Opfer sein, egal, ob sie sich als Opfer fühlen oder nicht, nur weil einigen Kritikern die Praxis nicht gefällt?
Das Urteil gegen die Beschneidung passt haarscharf zu den Vorurteilen unserer Zeit. Weil es sich gegen eine religiöse Tradition richtet, ist ihm die Zustimmung großer Teile der säkularen, deutschen Gesellschaft gewiss. Doch mit Aufklärung hat dieser Kreuzzug gegen die Beschneidung nichts zu tun. Wie der englische Journalist Brendan O`Neill schreibt, erinnert der Versuch, die Zirkumzision als Kindesmisshandlung zu brandmarken, an den hässlichen Antisemitismus des Mittelalters1). Er festigt das Bild des Kindes als Opfer seiner Eltern, das durch den Staat geschützt werden muss. Das gilt besonders, wie es scheint, wenn es sich um muslimische Eltern handelt, aber auch Atheisten sollten dieses Urteil ablehnen. Wer kann, bei so viel Eifer schon wissen, gegen welche Überzeugungen, Praktiken oder Angewohnheiten sich das nächste Gerichtsurteil richten wird? Aktuell Meinung
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@ stoeckli
was für ein argument. wissen sie, ich kann ihnen ebenfalls eine haut nennen, die überflüssig ist aber von gott erschaffen wurde: das jungfernhäutschen. ihrer argumentation zufolge…
Die Untertrennung der Begründung in religiös ODER gesundheitlich ist nicht der Sachlage entsprechend. Im Islam ist die Gesundheit ein schützenswertes Gut und mit ein Grund, warum die Beschneidung ausgeführt werden sollte. Nicht etwas dem Menschen schadendes wird verlangt, sondern etwas nützliches.
Wenn ein muslimisches Elternpaar seinen Sohn also beschneiden lassen will, dann tut es das in dem Wissen, dass es der Religion entsprechend gefordert wird UND gut für seine Gesundheit ist. Dabei gehen religiöse und gesundheitliche Gründe sozusagen „Hand in Hand“, genau wie das religiöse Verbot von Alkohol unter anderem deshalb gilt, weil er gesundheitlich schadet.
@Autark
Aber das Jungfernhäutchen schneidet man doch nicht heraus, also bei uns zumindest nicht und außerdem behaupte ich mal, dass es keine unnützen Organe oder Körperteile gibt, denn wenn dem so wäre, dann wären sie bereits nicht mehr da!
Und schlußendich ist es auch egal wie unnötig ein Körperteil ihnen erscheint, man muss es ja nicht gleich wegschneiden, egal zu welcher Religion man sich selbst zählt!
Und vorallem würde ich doch gerne mal von ihnen wissen, wie die Religionsfreiheit, des Kindes gewahrt werden soll, wenn man einfach schon von vornherein, durch die Beschneidung festlegt zu welcher Religion das Kind sich zu entscheiden hat. Den Eltern des Kindes gehört das Gehirn des Kindes und dem Staat, der Rest, gewöhnen sie sich dran und damit gibt man den Eltern genug Macht über ihre Kinder, denn ich bin mir sicher, dass die meisten Kinder (und vorallem bei Juden und Muslimen)überhaupt nicht entscheiden dürfen, was sie wirklich wollen.
Man muss sich selbst mal fragen ob man eine Religion lebt oder eine Diktatur für die ganze Familie.
Religionsfreiheit bedeutet nicht automatisch das man Rituale, die das deutsche Recht verletzen, auch ausüben darf. Religionsfreiheit ist nur einer Glaubensfreiheit oder freiheit an einen Gott nicht zu glauben, gleichsetzbar.
Ich denke auch, dass Beschneidung nicht zu verbieten ist. Aber obwohl in Deutschland das Bild von der Selbstbestimmung und das der aufgeklärten Menschen besteht, lässt sich dieses nur selten in den Handlungen der Menschen wiedererkennen. Eine gute Seite um dies zu ändern wäre zb http://harri-wettstein.de/
Das Urteil ist kein Skandal. Der Skandal ist vielmehr, dass viele Journalisten nicht genug von Menschenrechten zu verstehen scheinen.
Die körperliche Unversehrtheit ist zweifellos ein Gut, dass nicht ungefragt verletzt werden darf, außer im Falle einer Nothilfe und Notwehr, aber in diesen Fällen ist auch das Recht auf Leben verletzbar.
Hingegen stellt ein religiöser Grund keine hinreichende Erlaubnis dar, die körperliche Unversehrtheit andere zu verletzen, es sei denn diese Personen sind alt genug und willigen ausdrücklich ein.
„Zu viel Unfug ist im Zuge dieses Gerichtsurteils über die Praxis des Beschneidens geschrieben worden, als dass es zur Aufklärung und als Vorbild dienen könnte.“
Die Autorin ist also im Besitz der alleinigen Wahrheit. Herzlichen Glückwunsch.
Zur Kenntnis: Selbst eine vom Arzt ohne Einwilligung verabreichte Spritze, ja selbst das Ausreissen eines Haares gegen den Willen des Betroffenen (etwa bei einer Drogenprobe) erfüllt schon den Straftatbestand der Körperverletzung.
Damit hat sich die ganze lächerliche (ideologiegeladene) Debatte schon erledigt. Die Körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht (auch eines Kindes), das eben das Recht auf Religionsausübung (hier der Eltern) überwiegt. Das Urteil des BVErfG ist ganz einfach zu akzeptieren.
Ich wette, die Autorin hat es nicht mal gelesen.
Es geht mir nicht mehr nur um die Beschneidung, so wichtig die Frage nach Kinderschutz und Elternrech auch sein mag, sondern um die Verfassungswidrigkeit des Beschneidungsgesetzes:
1.: „Das Landgericht Köln sprach am 7. Mai 2012 in zweiter Instanz ein Urteil, nach dem die Beschneidung von Jungen (Zirkumzision) aus religiösen Motiven eine rechtswidrige Körperverletzung ist. “
Diese Behauptung ist falsch! Das Landgericht Köln bezeichnete eine Beschneidung ohne medizinische Indikation für eine unzulässige Körperverletzung. Auch die Religionsfreiheit der Eltern würde durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes begrenzt. Das LG Köln beurteilte „jede Beschneidung“ ohne medizinischen Grund für eine unzulässige Körperverletzung, diese beinhaltet auch die religiöse Beschneidung!
Dieser Unterschied ist juristisch bedeutsam. Denn gemäß der gängigen Rechtsauffassung enden Freiheitsrechte dort, wo die Rechte anderer verletzt werden. Das gilt für Erziehungsrecht ebenso, wie für das Recht auf Religionsfreiheit oder irgend ein anderes Grundrecht.
Ausnahmen bestätigen diese Regel. In „begründeten Fällen“ kann eine Körperverletzung zulässig sein.
Abweichend von der Auslegung des LG Köln könnte man möglicherweise auch eine religiöse Motivation, analog zur medizinischen Indikation für einen guten Grund für diese Körperverletzung ansehen, der Erziehungsrecht über Kinderrecht stellt bzw. als dem Wohl des Kindes dienend ansieht.
Das neue Gesetz aber stellt „ohne Angabe von Gründen“, das Erziehungsrecht über das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes im Falle einer Jungenbeschneidung. Es erlaubt also „jede Beschneidung“ ohne, dass Eltern die Motivation überhaupt nennen müssen. Das ist verfassungswidrig.
Das ist keine reine Prinzipienreiterei. Es ist auch aufgrund der juristischen Dogmatik ethisch hochproblematisch, wenn Richter nicht mehr nach der Motivation fragen dürfen oder diese nicht mehr berücksichtigen dürfen, wenn Eltern an ihren Kindern eine Körperverletzung durchführen lassen, wenn sozusagen am Körperteil, in diesem besonderen Fall sogar am Genital, aufgehängt wird, ob Erziehungsrecht höher zu bewerten ist, als das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes, oder umgekehrt.
Dadurch, dass Vermieden wurde, die Motivation der Eltern in dem neuen Gesetz zu erwähnen, ist es doch gerade so furchtbar und verfassungswidrig geworden! Es hängt vom Penis ab, ob Erziehungrecht höher zu bewerten ist, als das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes oder umgekehrt.
In der Tat ist nach der geschaffenen gesetzlichen Regelung eine religiöse Motivation der Eltern unerheblich.
Deshalb wendeten Beschneidungsgegner ja ein, dass nunmehr nicht nur Juden und Muslime, sondern z.Bsp. gänzlich areligiöse Eltern qua Erziehungsrecht ihren Sohn beschneiden lassen können, weil es so „punkig“ aussieht, oder weil es ein wirksames Mittel gegen Onanie ist.
Der Gesetzgeber wollte vermeiden, dass die Beschneidungserlaubnis als das erscheint, was sie ist, nämlich de facto ein religiöses Sondergesetz.
Deshalb der Kniff mit dem Erziehungsrecht – allerdings könnten jetzt Eltern aus obskuren oder „pädagogischen“ Gründen „Wenn du nicht artig bist, wirst du morgen beschnitten“ ihren Sohn dieser Prozedur unterwerfen.
Wie das mit dem seit 2000 im BGB verankerten Verbot der körperlichen Züchtigung rechtssystematisch zu vereinbaren ist, erklärt sich wohl nur mit einer entrückten höheren Weisheit einer Mehrheit des Bundestages, die noch nicht in die Niederungen der Jurisprudenz und verständiger Menschen vorgedrungen zu sein scheint.
Beschneidung ist ganz klar Körperverletzung und hat mit „freier Religionsausübung“ nicht das Mindeste zu tun. Es handelt sich um eine archaische Tradition, die mit Religion nichts zu tun hat, und sonst nix. Das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit steht bei der Rechtsgüterabwägung über dem Erziehungsrecht der Eltern, archaische Körperverstümmelung an ihren Kindern zu betreiben und das Gesetz ist ein unglaublicher Skandal.