Neue Gesetzespläne
Ausgerechnet Verfassungsschutz soll über unser Gemeinwohl bestimmen
Unzählige NSU-"Pannen" haben das Vertrauen in den Verfassungsschutz erschüttert. Neuesten Gesetzesplänen zufolge soll ausgerechnet dieser Verfassungsschutz mit bisher ungeahnten Befugnissen ausgestattet werden und bestimmen, was dem Gemeinwohl dient.
Dienstag, 10.07.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.07.2012, 23:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der Verfassungsschutz soll „grundlegend reformiert“ werden. Unzählige Fehler, Pannen und Skandale, die im Zuge der NSU-Ermittlungen zutage getreten sind, setzen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zunehmend unter Druck. Er kündigt „knallharte Konsequenzen“ an. Oppositionspolitiker fordern sogar die komplette Abschaffung.
Doch an anderer Stelle dreht die Bundesregierung leise an Schrauben, die dem Verfassungsschutz weitere Gestaltungs- und Vollzugsbefugnisse in die Hand geben sollen. So soll nach dem Willen des ehemaligen Innen- und amtierenden Finanzministers Wolfgang Schäuble (CDU), der Verfassungsschutz künftig bestimmen, wer dem Gemeinwohl dient und damit gemeinnützig sein darf.
Getroffen hat es die anderen
Konkret geht es um den Entwurf für das Jahressteuergesetz 2013. Danach sollen alle im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes geführten Vereinigungen künftig automatisch ihre Gemeinnützigkeit und die damit verbundenen steuerlichen Vorteile verlieren. Das ist auch Thema einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. „Schon seit Jahrzehnten haben Finanzämter mutmaßlich verfassungsfeindlichen Vereinigungen die Gemeinnützigkeit entzogen“, so die Fragensteller.
Bereits 2008 hatte die Bundesregierung eine Beweislastumkehr zu Lasten der Vereine beschlossen. Seit dem müssen Betroffene im Falle einer Erwähnung im Verfassungsschutzbericht ihre Gemeinnützigkeit vor dem Finanzamt oder durch Klage vor dem Finanzgericht nachweisen. Mit dieser Regelung wollte die Bundesregierung eine Handhabe gegen Rechtsextreme schaffen. So jedenfalls die Begründung. Tatsächlich getroffen hat diese Regelung aber beispielsweise die Gemeinnützigkeit des Landesverbandes der Verfolgten des Naziregimes. Erst nach Protesten rückte das Finanzamt von der Aberkennung der Gemeinnützigkeit ab.
Einfallstor für Willkür
Nach dem Willen von Schäuble sollen solche Spielräume den Finanzämtern künftig nicht mehr zustehen. Entscheidend soll allein sein, ob ein Verein in einem der 17 Verfassungsschutzberichte erwähnt wird. Nach Auffassung der Linksfraktion „würden die Verfassungsschutzämter durch die geplante Neuregelung zu Zensoren der Zivilgesellschaft, die so politisch missliebigen Vereinigungen den finanziellen Boden entziehen können.“
Bereits im Mai 2012 warnte auch Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe (SPD) vor den Plänen des Finanzministeriums. Die geplanten Neuregelungen seien ein mögliches Einfallstor für Willkür gegen politisch missliebige Organisationen. Mit der neuen Klausel werde es ein Leichtes, Organisationen auf die Liste der Verfassungsschützer zu setzen und sie so in den finanziellen Ruin zu treiben. „Es ist aber nicht nachvollziehbar, wer und warum auf der Liste des Verfassungsschutzes aufgeführt wird“, so die Befürchtung der SPD-Politikerin.
Weit über Auftrag hinaus
Sie beruft sich auf zahlreiche Auseinandersetzungen vor Gerichten, die nicht selten mit einer Niederlage für den Verfassungsschutz endeten. Bisher war allerdings der Gang zu einem Finanzgericht möglich. Mit der Neuregelung steht den Betroffenen Vereinen nur der langwierige Verwaltungsrechtsweg offen.
„Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Verbänden muss stets eine Einzelfallentscheidung sein und darf nicht zum Automatismus werden“, fordert Kolbe. Die SPD-Politikerin verweist auf den gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes: die Sammlung und Auswertung von Informationen und Aufklärung des Parlaments und der Öffentlichkeit. Entscheidungsbefugnisse stehen dem Verfassungsschutz nicht zu.
Rechtsstaatliche Grundsätze vergessen
In der Praxis sieht das aber ganz anders aus. So bestimmt der Verfassungsschutz seit Jahren schon nicht nur über die Gemeinnützigkeit von Vereinen, sondern auch wer eingebürgert wird, ob jemand verbeamtet wird oder ob jemand bei einem Paketlieferer am Flughafen arbeiten darf. Zahlreiche Vorschriften zwingen Behörden, eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu stellen, ehe sie eine Entscheidung treffen dürfen. Ein Veto legt der Verfassungsschutz schon oftmals ein, wenn die betreffende Person gelegentlich die nächstgelegene Moschee besucht oder bei einer Bürgerinitiative gegen Rechtsextremismus aktiv ist, die im Verdacht steht, verfassungsfeindlich zu sein.
Erstaunlich an der geplanten Neuregelung ist aber nicht die Erweiterung der Machtbefugnisse des Verfassungsschutzes im Schatten des NSU Skandals, sondern die Vergesslichkeit der Bundesregierung. Noch im Jahr 2008 hatte sie in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP erklärt: „Nach den Grundsätzen unseres Rechtsstaats reicht ein Verdacht oder eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz noch nicht für eine Sanktion – hier: Aberkennung der Gemeinnützigkeit – aus. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, dies zu ändern.“
Die Fragesteller hatten beispielhaft den bis dato gemeinnützigen Verein „Collegium Humanum“ angeführt – ein Sammelbecken für Rechtsextremisten, die erst nach einem Spiegel-Bericht und nicht etwa aufgrund von Ermittlungen des Verfassungsschutzes näher beleuchtet und anschließend verboten wurde. (bk) Leitartikel Politik
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Die Vergesslichkeit der Bundesregierung ist eine vermeintliche. 2008 hatten wir noch eine Große Koalition. Seit 2009 gibt es eine neue Bundesregierung, die politisch ein klein wenig anders ausgerichet ist. Daher die Differenz der Aussagen.
Ansosnten guter Artikel.
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