Anzeige

Integration im 16:9 Format

Rumination über die Nationalhymne

Die erhitzte Debatte um das Singen der Nationalhymne nach dem Ausscheiden der deutschen Fußballnationalmannschaft wird wohl in die deutsche Geschichte der schwachsinnigsten Verschwörungstheorien eingehen.

Von Dienstag, 10.07.2012, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 09.05.2020, 1:00 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Zumeist konservative Politiker ohne sichtbaren sportlichen Hintergrund lag die Ursache des Scheiterns der deutschen Mannschaft an der Nichtbeteiligung einiger Spieler mit Migrationshintergrund beim Singen der Hymne. Politiker lobten hingegen, die Sangeskraft der italienischen Squadra Azzurra, allen voran ihres Capitanos, Gianluigi Buffon. Als ich Buffon sah, der mit geschlossenen Augen und aus vollem Herzen sang, glaubte ich in keiner Sekunde an einem Sieg der Italiener. Ich dachte nur daran, dass Italien so wundervolle Tenöre hervorgebracht hat wie Aldo Bertolo oder ein Luciano Pavarotti, während Buffon mit seiner Gesangkunst alle musikalischen Erfolge des Landes zu Nichte macht.

Anzeige

Bis auf den ehemaligen Olympia-Turner Eberhard Gienger haben fast alle Politiker, die sich zu Wort gemeldet haben, keinen sportlichen Hintergrund oder eine nahezu sportliche Profilaufbahn vorzuweisen. Denn gerade im Mannschaftssport lernt man Demut, sich hingebungsvoll für das Fortkommen der Mannschaft einzusetzen, Fairness, Disziplin und mehr mit Taten als mit Worten zu glänzen. Doch die Politiker verhalten sich wie Diven, eigenwillig und immer auf ihr persönlichen Erfolg bedacht, so wie ein Cristiano Ronaldo sich bei seinen Freistößen inszeniert. Einem korpulenten Sigmar Gabriel oder einem Peter Altmaier fiel es sicherlich schwer, sich aus der Hymnen-Debatte rauszuhalten und das aus Selbstschutz. Denn sobald Gabriel oder Altmaier ihre Münder aufgemacht hätten, wäre die Debatte in eine Figuren und gesunde Ernährung Diskussion umgeschlagen. Also blieben sie stumm, wie Özil, Boateng, Podolski und Khedira bei der Hymne.

___STEADY_PAYWALL___

In unserer einleitenden Strophe steht etwas von „Einigkeit und Recht und Freiheit“, drei Säulen, die das Fundament unseres freiheitlich-demokratischen Einwanderungslandes ausmachen. Doch beim Nichtsingen der Hymne gibt es keine Einigkeit, Recht und Freiheit und die Entscheidung darüber, selbst zu bestimmen. Bei einer Nationalmannschaft müssen alle Spieler singen, schließlich seien sie Botschafter Deutschlands und es sollte eine Ehre sein, das Trikot mit dem Bundesadler überzuziehen, so die Argumente der Politiker. Wenn die Fußballer unsere Botschafter sind, dann könnten wir doch das Auswärtige Amt und sein strenges Auswahlverfahren der Diplomatenschule abschaffen, dachte ich mir. Das würde den Steuerzahler um einiges entlasten.

Anzeige

Auch die Bundestagsabgeordneten sind mehr oder weniger vom Volk gewählte und demnach so etwas wie Nationalspieler. Wenn den Abgeordneten doch so viel an der Hymne liegt, so sollten sie es im Plenum des Bundestags, Bundespräsidialamt, Bundesrat und auch den politischen Dienststellen der Länder und Kommunen einführen. Denn es sollte doch so sein, dass jede Beschließung und gesetzliche Abmachung mit so viel Eifer und Sorgfalt begangen wird, wie ein Fußball-Länderspiel, bei der Fairness und das Gemeinwohl und nicht das persönliche Wohlbefinden oberste Priorität haben. Sind die Politiker nicht auch Botschafter Deutschlands? Ist es etwa keine Ehre für die Politiker im Bundestag mitzuspielen?

Bei brisanten Entscheidungen, bei der die Politiker oft nach dem Gewissen der Partei handeln, gaukeln sie den Menschen vor „an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ zu sein. Dasselbe gilt auch für Sportler. Sie sind nicht weisungsgebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Es liegt frei in ihrer Entscheidung, ob sie bei der Nationalhymne singen oder nicht. Ich empfand eine gewisse Doppelmoral bei den Aussagen der Politiker. Einerseits forderten sie einen Protest der Spieler und des DFB wegen der Menschenrechtsverletzung gegenüber der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, andererseits versuchten sie das Selbstbestimmungsrecht der eigenen Nationalspieler, massiv zu beschränken.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann ging sogar so weit, dass er den Ausschluss aller Spieler, die keine Lust haben die Hymne mitzusingen, forderte. Hermann sagte, dass die Spieler „gefälligst in ihrem Verein bleiben sollten.“ Das hörte sich in meinen Ohren an wie: Wenn es dem Fußballer hier nicht gefällt, dann soll er doch zurück in sein Land gehen. Was hätte Herrmann wohl gemacht, wenn alle Spieler so stumm geblieben wären wie die deutsche Mannschaft von 1974? Ausweisung, Flucht, Vertreibung oder die Abschaffung der Ablösesumme?

Dieses Land ist trotz Bekenntnisses, ein Einwanderungsland zu sein, noch weit davon entfernt „unser aller“ Land zu sein. Es ist eine Einbildung zu glauben, gleich zu sein, wie die Einheimischen. Ein deutscher Pass, die Beherrschung der Sprache und eine höhere Bildung machen aus einem noch lange keinen „guten“ Deutschen.

Als ich kürzlich mit meiner Freundin in Oranienburg am Bahnhof ankam, fiel mir ein Nazi auf, vor allem sein schwarzes T-Shirt mit der weißen Aufschrift: „Aryan Blood brothers (Arische Blutsbrüder)“. Ich schaute dem Nazi tief in die Augen, um ihm meine Abscheu zum Ausdruck zu bringen. Der Nazi tat dasselbe. So lange solche Idioten frei mit so einem T-Shirt herumlaufen dürfen, solange wird es nie „unser“ Land, unsere Heimat werden – allenfalls eine Wartehalle, die einen füttert und bei Regen Obdach gewährt. Nur wenige schaffen den Sprung per Zufallsgenerator in die Gesellschaft. Doch die allermeisten sind nur dabei, statt mittendrin. Aktuell Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. HamburgerX sagt:

    „Es obliegt jedem selbst, ob er oder sie die Nationalhymne singt oder eben nicht.“

    Prinzipiell sehe ich das auch so. Wenn aber alle Migranten einer Nationalmannschaft die Hymne nicht singen, der Rest der Mannschaft hingegen schon, kann das als Symbol und Indiz gewertet werden, dass die Integration und das Bekenntnis zu Deutschland in der Gesellschaft nicht richtig funktionieren.

    Schluss also mit der Schönrednerei. Um im Ernst: Dass bei 80 Mio. Menschen immer ein paar Extreme, Irre und Sektierer herumlaufen, ist banal. Das ist in jedem Land so. SIch deshalb der Bequemlichkeit zugeben, und das Bekenntnis zu den Deutschen zu verweigern, ist billig.

  2. Tom-2806 sagt:

    Das Singen der Hymne sollte auf jeden Fall freiwillig bleiben. Nur wenn es aus Überzeugung kommt, ob vom Herzen oder vom Kopf, ist es echt. Bitte keinen Krampf und keinen Zwang!

  3. Aha sagt:

    @Tom-2806

    Ja schon kein Zwang. Nur wer ein Problem damit hat mit zu singen sollte dann bitte auch darauf verzichten Teil der deutschen Nationalmannschaft zu sein. Schlicht und ergreifend und ohne großes Trara. Nicht umsonst heissen Ländermannschaften Nationalmannschaften. Hier steht der Bezug auf ein Land und eine Nation im Raum.